Die Entwicklung des Zahnarztberufs (1)

Der Dentist setzt sich durch

Dominik Groß
Die Einführung der Kurierfreiheit führte zu einem erbitterten Konkurrenzkampf zwischen Zahnmedizinern und Dentisten. Diese Entscheidung traf die deutsche Zahnärzteschaft tief ins Mark und überschattete lange die Entwicklung des Berufsstands.

Noch Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland verhältnismäßig wenig Zahnärzte. Um 1850 wurden im gesamten Gebiet des späteren Deutschen Reichs nicht mehr als 250 approbierte Zahnbehandler registriert, hiervon praktizierten allein 103 Zahnärzte in Preußen.

Ein wesentlicher Grund für die zögerliche Entwicklung des Berufsstands war die Tatsache, dass viele zeitgenössische Wundärzte so bezeichnete man die damals tätigen nichtakademischen Chirurgen – ebenfalls Zahnbehandlungen durchführten, so dass die Nachfrage nach „reinen“ Zahnärzten begrenzt blieb. Ohnehin wurden die Zahnärzte erst 1825 im „preußischen Medizinalreglement“ erstmals als Heilpersonen aufgeführt: Zur zahnärztlichen Prüfung sollte demnach künftig niemand zugelassen werden, „der, wenn er nicht Arzt oder Wundarzt ist, [...] nicht wenigstens noch Zeugnisse über den fleißigen Besuch der Vorlesungen über Anatomie, allgemeine und spezielle Chirurgie, Operationslehre, Arzneimittellehre und chirurgische Klinik beibringen kann“. Eine Instruktion von 1836 ergänzte die Bestimmungen. Als schulische Vorbildung war lediglich die Tertiareife am Gymnasium erforderlich – erst 73 Jahre später (1909) sollte als Voraussetzung für ein Zahnmedizinstudium das Abitur gelten.

Gasthörer ohne Abitur

Konnten angehende Zahnärzte in Preußen zunächst noch die für die Wundärzte errichteten medizinisch-chirurgischen Lehranstalten besuchen, sollten sie nach deren Schließung Mitte des 19. Jahrhunderts die erforderliche Theorie – ohne reguläre Immatrikulation an den Universitäten erwerben. Da es jedoch in Deutschland zunächst kaum Dozenten für Zahnheilkunde gab, erfolgte die Ausbildung faktisch vor allem außeruniversitär in den zahnärztlichen Praxen.

1869 wurde in Preußen eine neue zahnärztliche Prüfungsordnung erlassen, die als schulische Vorbildung immerhin die Primareife vorschrieb. Obgleich die Kandidaten der Zahnheilkunde nunmehr einen zweijährigen Universitätsbesuch nachweisen mussten, wurden sie im Unterschied zu den Medizinstudenten weiterhin als “immature“, also als nicht regulär immatrikulierte Hörer geführt, da sie keine Hochschulreife („Matura“) mitbrachten.

Zu dem Zeitpunkt gab es neben den Zahnärzten noch weitere Zahnbehandler, die keine regelhafte Ausbildung durchlaufen hatten. Obwohl Laienbehandler seit 1825 in Preußen explizit von der zahnärztlichen Tätigkeit ausgeschlossen waren („Kurierverbot“), versuchten sich immer wieder Nichtapprobierte auf dem Gebiet der Zahnheilkunde vor allem in Regionen, in denen keine strenge Kontrolle stattfand. Von der zeitgenössischen Zahnärzteschaft wurden sie oft abwertend als „Kurpfuscher“ geschmäht und tatsächlich besaßen die Behandler zumeist geringe Qualifikationen: Nicht wenige waren ursprünglich als Barbier oder Bader tätig gewesen, um sich später auf die Therapie von Zahnkrankheiten zu verlegen. Andere nicht-approbierte Zahnbehandler waren aus Handwerksberufen wie dem des Instrumentenmachers, des Goldarbeiters oder des Mechanikers hervorgegangen und spezialisierten sich dann auf die Anfertigung und Eingliederung von Zahnprothesen. Daneben wurde die Zahnheilkunde ursprünglich auch von „Wanderheilern“ ausgeübt, die als Zahnbrecher, fahrende Gesellen beziehungsweise Marktschreier in Erscheinung traten – spätestens im 19. Jahrhundert verloren jene jedoch deutlich an Bedeutung.

Kurpfuscher im Recht

Ende der 1860er-Jahre wurde im Norddeutschen Bund – dem Kerngebiet des späteren Deutschen Reichs – ein neues, von liberalem Gedankengut getragenes Gewerbegesetz diskutiert, das die gesamte Heilkunde nachhaltig beeinflussen sollte. Diesem Gesetz zufolge sollte es fortan jedem gestattet sein, Kranke ohne den Nachweis einer entsprechenden Ausbildung zu behandeln. Maßgeblich für diese erstaunliche politische Entwicklung war ausgerechnet eine ärztliche Bittschrift – namentlich eine Petition der„Berliner Medizinischen Gesellschaft“ (BMG), die im Reichstag eingebracht wurde.  In dem Gesuch betonten die Berliner Ärzte, der Patient allein müsse die Entscheidung treffen, wem er sich anvertrauen wolle. Zudem hätten in der Vergangenheit die häufigen Übertritte von Kurpfuschern gezeigt, dass ein Verbot der Medizinalpfuscherei ohnehin wirkungslos sei. Derartige Stümperer würden entweder freigesprochen oder durch eine Bestrafung zu Märtyrern gemacht. Unterzeichnet war die Petition unter anderen von dem renommierten Pathologen und Politiker Rudolf Virchow. Dem Gesuch schlossen sich 1869 weitere Ärztevereine an. Auch von Nichtapprobierten wurden Petitionen an den Reichstag gerichtet. Darunter befanden sich Gesuche von Zahnkünstlern aus Berlin und Breslau. Beide Bittschriften forderten ebenfalls die Freigabe der Patientenbehandlung. Für den weiteren Verlauf der Beratungen spielten diese Petitionen im Unterschied zu dem Gesuch der Berliner Medizinischen Gesellschaft jedoch keine maßgebliche Rolle. Die deutschen Zahnärzte traten im Übrigen als Petenten überhaupt nicht in Erscheinung.

Als Gegner der Kurierfreiheit bekannte sich der preußische Kultusminister Dr. Heinrich von Mühler. Er berief sich auf die „Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen“, die sich für die Beibehaltung des Strafgebots gegen die Kurpfuscherei ausgesprochen hatte. Auch der Präsident des Bundeskanzleramts, Rudolph Delbrück, war gegen eine Freigabe der Heilkunde. Der Staat habe dafür Sorge zu tragen, dass ein qualifizierter ärztlicher Stand bestehen bleibt. Trotz dieserBedenken fiel die endgültige Abstimmung über die Gewerbeordnung zugunsten der Kurierfreiheit aus. Die Gewerbeordnung trat am 1. Oktober 1869 für den Bereich des Norddeutschen Bundes in Kraft, 1872 wurde sie auch für das neu gegründete Deutsche Reich rechtswirksam.

Aus dem entscheidenden Paragrafen 29 ging hervor, dass sich künftig jedermann auf dem Gebiet der Heilkunde betätigen durfte. Allein die Führung ärztlicher Titel wurde von einem Befähigungsnachweis abhängig gemacht, ein Verstoß gegen diese Bestimmung nach Paragraf 147 unter Strafe gestellt.

Schon bald wurde offenkundig, dass das Ansehen der Approbierten durch die Einführung der Laienbehandlung enormen Schaden nahm. Die Kurpfuscherei wurde Eulenburg zufolge „immer schamloser, frecher, herausfordernder“ und stellte somit eine Bedrohung nicht nur für das Ansehen der approbierten Behandler, sondern auch für das Gesamtwohl dar. Vor allem die lasche Rechtsprechung begünstigte die Ausbreitung von Betrügereien. Zahlreiche Gerichtsurteile zeigten, dass die geringe Qualifikation so manchem Laienbehandler letztlich als schuldmindernd angerechnet wurde.

In den Jahren nach der Freigabe der Heilkunde wuchs die Gesamtzahl der Behandler sprunghaft an. Besonders betroffen war die Zahnheilkunde: Schon 1890 kamen auf einen Zahnarzt drei nichtapprobierte Zahnbehandler. Die Nichtapprobierten, die sich bald mehrheitlich „Zahnkünstler“ nannten, dominierten die Zahnärzte jedoch nicht nur zahlenmäßig, sondern erkannten auch sehr rasch die Bedeutung schlagkräftiger Interessenorganisationen. Erste Ortsgruppen von Zahnkünstlern lassen sich ab 1874 nachweisen, und 1880 konstituierte sich mit dem „Verein deutscher Zahnkünstler“ (VdZ) die erste zentrale Organisation der nicht-approbierten Zahnbehandler. Bald wurde zudem eine „ständige Deputation“ eingerichtet, zu dem Zweck, berufspolitische Themen aufzugreifen und zahnärztlichen Angriffen wirksamer entgegenzutreten.

Beruf: Zahnkünstler

Unterdessen organisierten sich die Zahnkünstler immer besser. 1891 wurde auf der Generalversammlung des VdZ in Köln ein Antrag verabschiedet, aufgrund dessen die Organisation auch Mitglieder der „Provinzialvereine“ aufnehmen konnte. Die Zahl jener Verbände belief sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf 16 bei insgesamt circa 350 Mitgliedern. 1902 wurden schon 25 Einzelverbände mit insgesamt 1.154 Mitgliedern gezählt. Damit waren mehr als 60 Prozent der Zahnkünstler in Deutschland organisiert. 1900 konnten sie in Berlin das erste „Zahntechnische Lehr-Institut“ errichten, weitere folgten. Kennzeichen dieser Ausbildungsstätten war die Durchführung von Abschlussprüfungen für Zahnkünstler. 1903 wurde zudem eine eigene Prüfungsordnung verabschiedet, die eine Standardisierung der Ausbildung belegen sollte.

Geschichte des Zahnarztberufs

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Tatsächlich stellten die nicht-approbierten Zahnbehandler zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber noch eine sehr heterogene Gruppierung dar. Eine 1909 veröffentlichte Statistik zeigt, dass lediglich 31,4 Prozent von 1 060 überprüften Nichtapprobierten eine reguläre Lehre zum Zahnkünstler nachweisen konnten. 58,4 Prozent hatten zuvor als Barbier gearbeitet, weitere 10,2 Prozent hatten keinerlei fachliche Vorbildung. Aber auch die ausgebildeten Zahnkünstler wiesen keine einheitliche Lehrzeit vor. Ohnehin waren viele ihrer Angaben kaum zu überprüfen. Die quantitative Bedeutung der Zahnkünstler war indessen unbestritten: Ihre Zahl stieg zwischen 1878 und 1909/10 von 735 auf 6.171 – damit um mehr als das 8-Fache. Demgegenüber waren 1909/10 lediglich 2.667 Zahnärzte registriert. 

Die Titelfrage

Die Freigabe der Zahnheilkunde wurde von der Zahnärzteschaft von Anfang an heftig bekämpft. Dabei hoben die zahnärztlichen Vereine vor allem auf die fragliche Qualifikation der Zahnkünstler ab. Verschärft wurde der Dualismus schon bald durch den Umstand, dass sich viele Nichtapprobierte entgegen der Vorgabe der Gewerbeordnung zahnarztähnliche Titel aneigneten. Die Palette der verwendeten Berufsbezeichnungen reichte hierbei von „Zahnkünstler“ über „Zahnoperateur“ und „Zahnartist“ bis hinzu „Spezialist für Zahnleidende“ und „Zahnarzt“. Die zahnärztlichen Organisationen brachten jede vermeintliche Titelanmaßung zur Anzeige – ohne Erfolg. Für die nicht-approbierten Zahnbehandler schlugen sie ihrerseits die – abwertenden – Berufsbezeichnungen „Zahnarbeiter“ beziehungsweise „Gebißarbeiter“ vor. Ebenso vergeblich waren zahnärztlichen Petitionen mit dem Ziel der Einschränkung der Kurierfreiheit.

Zusätzliche Brisanz erhielt die Titelfrage durch das Aufkommen unseriöser US-amerikanischer Institute, die deutschen Zahnbehandlern den Titel „Doctor of Dental Surgery“ (D.D.S.) verkauften. Viele Zahnkünstler, aber auch einige Zahnärzte erlagen dem Reiz, ohne die Mühen eines fachlichen Qualifikationsnachweises ein derartiges Schwindeldiplom zu erwerben. Den deutschen Interessenten blieb in der Regel sogar die Anreise in die USA erspart. Nachdem sich 1886 eine „Deutsche Vereinigung in Amerika graduierter Doktoren der Zahnheilkunde“ konstituiert hatte, gewannen die Auseinandersetzungen zwischen den zahnärztlichen Interessenvertretungen und den verdächtigen Trägern des D.D.S.-Titels weiter an Schärfe. 1887 rief die „Gesellschaft Berliner Zahnärzte“ alle D.D.S.-Titelträger, die nicht „ordnungsgemäß“ approbiert waren, dazu auf, innerhalb von drei Monaten ihre Schilder zu entfernen. Nachdem der Betrug in den 1890er-Jahren dennoch immer weitere Kreise zog und die Beschwerden der Zahnärzte zusehends heftiger ausfielen, erging in Preußen am 7. April 1897 eine Verordnung, wonach sämtliche künftig verliehenen ausländischen Doktortitel genehmigungspflichtig wurden.

Damit war die „Titelfrage“ jedoch keinesfalls gegenstandslos. In der Zwischenzeit waren nämlich etliche Nichtapprobierte bereits dazu übergegangen, die Berufsbezeichnung „Dentist“ zu führen. Die Zahnärzte verwiesen empört auf den romanischen und angelsächsischen Sprachgebrauch, wonach die Begriffe „dentiste“ beziehungsweise „dentist“ einen approbierten Zahnarzt bezeichneten, und traten vehement gegen die Führung des Titels „Dentist“ ein. Gleichwohl kam ein vereidigter Sachverständiger für fremde Sprachen in einem Gerichtsgutachten 1907 zu folgendem Ergebnis: „Die Bedeutung des Wortes ‚Dentist’ ist nach dem, woraus es zusammengesetzt ist, in zweierlei zu zerlegen: in dens = Zahn und die Endsilbe ‚ist(e)’. Dieselbe Endsilbe wird vielen Worten solcher Personen beigelegt, die irgendeine Beschäftigung, ein Geschäft, eine Kunst usw. ausüben, zum Beispiel ars = Kunst, Artist = Künstler, einer, der die Künste ausübt; Drogen – davon Drogist, der sich mit Drogen, sei es deren Zubereitung oder deren Behandlung, beschäftigt; Kameralist, der sich mit den Cameralia beschäftigt; Chorist, der sich mit Gesang und dem Wesen der Chöre beschäftigt usw. Es ist selbstverständlich, dass in solchen Benennungen irgendein Titel nicht vorliegt, vielmehr unter der Bezeichnung ‚Dentist’ eine Person zu verstehen ist, die sich mit der Behandlung von Zähnen, wohl auch mit Verfertigung künstlicher Zähne abgibt, sodass die Benennung ‚Zahnkünstler, Zahntechniker’ dasselbe sagen würde als ‚Dentist’.

[...] Es ist also derjenige, der sich Dentist nennt, ein ein freies Gewerbe ausübender Zahntechniker, der eine Titulatur nicht beansprucht, und dem sie auch nicht zukommt. Titelbeanspruchende und -berechtigte, die ein Examen bestanden, sind Zahnärzte oder je nach Universitätsbildung Doktoren der zahnärztlichen Praxis. Weder bei einem Ausländer noch Inländer kann daher eine Verwechslung zwischen Zahnarzt und Dentist vorkommen.“

Amtlich geadelte Dentisten

Angesichts der wohlwollenden gutachterlichen Stellungnahme überraschte es nicht, dass der „Verein deutscher Zahnkünstler“ bereits 1908 den Beschluss fasste, die eigene Organisation in „Verein der Dentisten im Deutschen Reich“ (VDDR) umzubenennen. In den nachfolgenden Jahren fand der Begriff „Dentist“ so ungeachtet der zahnärztlichen Proteste Eingang in die Behördensprache. Damit hatte die zahnärztliche Berufspolitik eine weitere herbe Niederlage erlitten – und der Dentistenberuf war endgültig zu einer etablierten, auch amtlich geadelten Größe geworden.

Viele erfolglose zahnärztliche Initiativen sollten folgen, bevor der „Dualismus in der Zahnheilkunde“ schließlich im Jahr 1952 durch die Eingliederung der praktizierenden Dentisten in die Zahnärzteschaft überwunden werden konnte – davon lesen Sie im zweiten Teil dieser Reihe.

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