Zahnärztliche Ergonomie

Haltung annehmen!

Jerome Rotgans
Sind Rückenschmerzen schicksalhaft? Fast zwei Drittel haben es schließlich im Kreuz. Richtig ist: Ergonomie ist nicht nur eine Frage der Physis. Wir zeigen Ihnen, wie Sie Haltung annehmen!

Andy Kiersz, Mathematiker und Journalist, publizierte am 2. November 2015 auf www.businesinsider.com ein Ranking der 27 ungesundesten Berufe der USA. Dabei stand vor dem Beruf der Flugbegleiter und dem der Anästhesisten der Zahnarztberuf auf Platz 1 – was für eine Schlagzeile für den Berufsstand, auch gleich von zm-online am 10. November 2015 mit der Überschrift „Zahnarzt – Der wohl ungesündeste Job der Welt“ verallgemeinert. Als Top-

Risiko galt die Belastung durch Schadstoffe mit 84 Punkten (auf einer Skala von null bis 100), gefolgt von der Ansteckungsgefahr durch Krankheiten und Infektionen mit 75 Punkten. Auch wenn es sich, wie in einer Fußnote erläutert, um Zahnärzte, Oralchirurgen, DHs, ZFAs, Zahntechniker und Zahnprothetiker als gemeinsam betrachtete Gruppe handelte, ist für uns Zahnärzte interessant, dass erst als drittes Top-Risiko mit 67 Punkten die Zeit, die man im Sitzen verbringt („time spent sitting“), genannt wurde. Hier scheint es sich eher um „Sitzen – Die unterschätzte Gefahr“, wie am 9. April 2015 vom STERN für die Allgemeinheit aufbereitet, zu handeln, als spezifisch um „unsere“ Rückenschmerzen.

Weniger über das Sitzen an sich als über die Folgen einer falschen Arbeitshaltung berichtet in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die zahnmedizinische Fachliteratur weltweit. Tenor: eine große Häufigkeit an Beschwerden im Hals-, Schulter- und Rückenbereich. In Foren, beispielsweise einem der „MEDI-LEARN“- Foren, ist schicksalhaft von „Zahnmedizin und Rückenschmerzen gehören zusammen wie Bergbau und Staublunge“ die Rede.

Man bekommt tatsächlich den Eindruck, dass schon etwas dran ist an der Auffassung, der Zahnarztberuf ist gefährlich für die Gesundheit – möglicherweise sogar mit dramatischen Folgen wie Burn-out oder sogar Berufsunfähigkeit. Richtig ist allerdings wie immer: Kennt man die Ursache, ist Vorbeugung stets die beste Medizin. Je früher man sich der Gefahr bewusst ist, umso schneller lassen sich die eventuell bereits vorhandenen Schäden lindern oder sogar beseitigen.

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Sind Rückenschmerzen die Staublunge des Zahnarztes?

Bei Wikipedia findet man für den Begriff Ergonomie eine gut verständliche Beschreibung: „Die Ergonomie ist die Wissenschaft von der Gesetzmäßigkeit menschlicher Arbeit. Ziel der Ergonomie ist es, die Arbeitsbedingungen, den Arbeitsablauf, die Anordnung der zu greifenden Gegenstände räumlich und zeitlich optimiert anzuordnen sowie die Arbeitsgeräte für eine Aufgabe so zu optimieren, dass das Arbeitsergebnis optimal wird und die arbeitenden Menschen möglichst wenig ermüden oder gar geschädigt werden, auch wenn sie die Arbeit über Jahre hinweg ausüben.“

Zahnmedizinisch würde dies vereinfacht lauten, "zahnärztliche Ergonomie umfasst alle Aspekte einer effektiven und effizienten Patientenbehandlung, ohne dass dadurch das Zahnarztteam und seine Patienten einen gesundheitlichen Schaden erleiden“ [Hokwerda, 2014]. Wie auch immer definiert, alles eigentlich selbstverständlich.

Wieso sind Schmerzen in Rücken, Schultern, Nacken, Augen oder Kopf als typische Folge der zahnärztlichen Tätigkeit dennoch so weit verbreitet? Dass es diese Schmerzen gibt, zeigen viele nationale und internationale wissenschaftliche Veröffentlichungen. Durchschnittlich betroffen sind 65 Prozent der Zahnärzte – bei ZMFs in den Niederlanden sogar 90 Prozent. Aus der schwedischen Untersuchung von Karin Hjalmers [2006] geht etwa hervor, dass Zahnärzte häufiger als die Allgemeinbevölkerung müde

ohne direkte Ursache sind (28 Prozent), häufiger Schlafstörungen (23 Prozent) und Rücken-, Hals- und Schulterschmerzen haben (44 Prozent). Bei den (angestellten) Zahnärztinnen, diese waren Ziel der Untersuchung, sahen die Werte noch bedenklicher aus: Müde waren 83 Prozent, Schlafstörungen hatten 56 Prozent und Rücken-/Hals-/Schulterschmerzen sogar 95 Prozent.

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Der Zahnarzt steht sich ergonomisch selbst im Weg

Von besonderem Interesse ist das Ergebnis eines Dissertationsprojekts, das 1980 in Düsseldorf durchgeführt wurde [Boeger, 2001]. Dabei wurden unter anderem Bandscheibenbeschwerden bei Zahnärzten (64 Prozent) mit denen bei Nichtzahnärzten (61 Prozent) verglichen. Als Ursache gaben etwa 67 Prozent der Zahnärzte, aber nur etwa 27 Prozent der Nichtzahnärzte ihren Beruf an. Auch wenn diese Studie bereits vor gut 25 Jahren durchgeführt wurde, ist nicht anzunehmen, dass das Ergebnis heute im Trend anders ausfallen würde.

In der Tat können Rücken-, Hals- und Schulterschmerzen die Folge von Fehlhaltungen sein, nicht nur bei der Ausübung des Zahnarztberufs. Was wäre dann spezifisch? Typisch ursächlich wäre, wenn beim Essen der Teller nicht mittig vor einem platziert wäre und man trotzdem schief davor sitzend essen würde. Wäre ein Esstisch so gedeckt, würde man ohne Zögern den Teller und das Besteck entsprechend ordnen oder den Stuhl verrücken. Wie lässt sich dann aber erklären, dass man sich in alle möglichen Kurven wendet und die Arme wie Flügel ausschlägt, um in einem nicht mittig vor einem liegenden Patientenmund zu arbeiten?

„Ja“, so lautet meist das Argument, „dem Patienten muss doch das Gefühl einer angenehmen Lagerung vermittelt werden.“ Dies stimmt aber nur halb. Patienten halten durchaus ein unbequemes Liegen aus, wenn sie wissen, „in guten Händen“, also gut aufgehoben zu sein. Aber damit die Patienten in gute Hände gelangen, ist es wichtig, mit dem gesamten Komplex der zahnärztlichen Ergonomie vertraut zu sein. Dabei geht es nicht nur darum Haltungsproblemen vorzubeugen.

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Behandlungsakrobatik tut beiden Seiten weh

Dennoch: Als wichtigster, erster Schritt ist es von grundlegender Bedeutung, sich der eigenen Körperhaltung möglichst oft bewusst zu sein, um Haltungsschäden gar nicht erst aufkommen zu lassen, deren Eingewöhnung früh entgegenzuwirken oder erkannte schlechte Gewohnheiten durch Abgewöhnung zu lindern. Fragen Sie sich, wenn Sie sitzen, egal wo: Lungere ich noch oder sitze ich schon? Ob richtig oder falsch spielt erst mal keine Rolle. Sich seiner Körperhaltung im Raum bewusst zu machen ist allerdings das A und O, um Haltungsschäden vorzubeugen.

Die physische Ergonomie:

Die Frage der richtigen Körperhaltung gehört in den Bereich der physischen Ergonomie – als erste der drei Domänen der Ergonomie [Hokwerda, 2014]. Diese betrifft die anatomischen, anthropometrischen, physiologischen und biomechanischen Charakteristiken von physischen Aktivitäten. Konkret geht es etwa um die Arbeitshaltung, um das Hantieren mit Instrumenten, um den Bewegungsablauf von Handlungen, ums Sehen, ums Arbeitsplatzlayout, um Sicherheit und um Gesundheit.

Oberstes Ziel im Alltag unseres spezifischen Berufs ist dabei die bewusste Vermeidung von unnötigem physischem Stress. Grundlage dafür ist nicht nur das genaue Wissen, was man tun muss. Viel wichtiger ist es, die jeweilige Aufgabe zu visualisieren und mental zu animieren. Das geht so: Spielen Sie am Vorabend in aller Ruhe eine bevorstehende Aufgabe wie eine Videoaufzeichnung Schritt für Schritt in Gedanken ab, um dann während der Behandlung diese Aufgabe so in den Fingern zu spüren, dass alle Bewegungen im Hirn programmiert wurden.

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Würden Sie nackt Auto fahren?

Das Gleiche gilt für die Arbeitshaltung. So wie man sich im Auto „nackt“ fühlt, wenn man nicht angeschnallt ist, so unwohl muss man sich fühlen, wenn man eine falsche Arbeitsposition eingenommen hat. Wenn dieses Niveau einmal erreicht ist, ist man gegen jeden Stress gefeit. Dafür muss man allerdings auch einen gesunden Körper haben beziehungsweise wissen, warum eventuelle körperliche Einschränkungen existieren.

Die mentale Ergonomie:

Eine an ethischen Maximen ausgerichtete Patientenbehandlung verlangt ständiges Nachdenken über die Anpassung von neuen Entwicklungen an bewährte Arbeitsmethoden. Aber auch und insbesondere über Qualitätsmanagement, um ständig zu überlegen, was besser gemacht werden kann – mit konkreten Beschlüssen bei minimaler mentaler Belastung. Hier handelt es sich um die Domäne der kognitiven oder mentalen Ergonomie. Sie geht über die physische Ergonomie insofern hinaus, als dass sie sich mit den Abläufen der Arbeitsumgebung auseinandersetzt. Sie befasst sich mit Prozessen wie Informationsverarbeitung im Gehirn, Perzeption und Gedächtnis, Begründung von Behandlungsschritten, Ansteuern von psychomotorischen Handlungen und Umgang mit einer akzeptablen Arbeitsbelastung. Es geht also um Fragen wie „Kann das, was ich tue, nicht effizienter geschehen?“, „Wie stark werde ich belastet?“, „Wie ist meine Stimmung, wie die im Team?“, „Wie treffe ich Entscheidungen?“. Die Antworten auf all diese Fragen beugen psychischem Stress und einem Burn-out vor, helfen beim Aufbau eines guten Arbeitsklimas, sorgen für Ruhe und Aufmerksamkeit während der Behandlung, kreieren eine gute Entscheidungskultur, steigern die Evaluations- und Innovationsbereitschaft, sorgen für Teaminteraktion und helfen beim Aufbau von Selbstvertrauen.

Die sozial-organisatorische Ergonomie:

Schließlich wird der bisher angesprochene Komplex durch die Domäne der sozial-organisatorischen Ergonomie abgerundet, die auf die Optimierung der Funktion sozialer Systeme, inklusive Führung, Organisationsstrukturen und Arbeitsprozesse zielt.

Ziel der Praxisorganisation ist es ja – selbstverständlich innerhalb des gesetzlichen Rahmens und unter Beachtung aller Regularien – eine gute medizinische Dienstleistung zu erbringen, die Sicherstellung einer ausreichenden Produktivität und die Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Behandler und Praxisteam. Gefordert sind hier Kompetenzen in Management, Organisation, Kommunikation, Beratung und Personalführung und im Umgang mit Managementinformationssystemen.

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Richtig sitzen muss man lernen

Nach Hokwerda ist hier entscheidend, sich des eigenen Verhaltens bewusst zu werden. Die (bisher) ungesunde Arbeitsweise muss ersetzt werden durch eine ergonomische: Denn „auch wenn man seine Praxis super organisiert hat, aber trotz seines Wissens über eine ergonomisch korrekte Arbeitshaltung wie ein Salzsack sitzen bleibt, provoziert man seine Probleme“.

Die Ursache für die unterschiedliche Prävalenz der Bandscheibenbeschwerden bei Zahnärzten (67 Prozent) und Nichtzahnärzten (27 Prozent) liegt wohl darin, dass der dargestellte vielseitige Komplex mit seinen Anforderungen an eine adäquate Praxisführung einen in der täglichen Praxis zu erdrücken droht und deshalb stresst. Wo hat man denn gelernt, sich damit vom Anfang seiner Laufbahn an vertraut zu machen?

Die Arbeitsgemeinschaft „Arbeitswissenschaft und Zahnheilkunde“ in der DGZMK ist bemüht, hier eine Veränderung zu bewirken. Der Zahnarztberuf muss die Gesundheit nicht gefährden, denn Zahnmedizin und Rückenschmerzen gehören ebenso wenig zusammen wie Bergbau und Staublunge. Vorausgesetzt, man ist mit den jeweiligen Risiken vertraut und achtet auf die Prävention – denn: Wenn die Rückenschmerzen einmal da sind, ist es für die Rückenschule eigentlich schon zu spät.

Unsere große Titelgeschichte "So schonen Sie Ihren Rücken": In ihrem Intro umreißen Prof. Monika Daubländer und PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer Ursachen und Folgen einer falschen Arbeitsweise am Stuhl. Prof. Jerome Rotgans veranschaulicht drei Aspekte, die für Ihre Arbeit entscheidend sind:1. Haltung annehmen: Sind Rückenschmerzen schicksalhaft? Richtig ist: Ergonomie ist nicht nur eine Frage der Physis.2. Wie Sie die OP-Leuchte positionieren: Winkel und Arbeitspositionen demonstriert an Positiv- und Negativbeispielen. 3. Der richtig gelagerte Patient: Warum es sekundär ist, dass es der Patient bequem hat.

Prof. Dr. drs. drs. Jerome RotgansVorsitzender der Arbeitsgemeinschaft „Arbeitswissenschaft und Zahnheilkunde“ in der DGZMKagaz-vorsitzender@dgzmk.de

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