Die Entwicklung des Zahnarztberufs (8)

Die Krankenkassenfrage

sf
Abgedrängt von Dentisten und Zahnkünstlern, abhängig von der Einschätzung der Kassenärzte: Die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung wird zur Feuerprobe für die Zahnärzteschaft. Eine desolate Situation, die der Berufsstand selbst mitverschuldete.

Deutschland besitzt das weltweit älteste soziale Krankenversicherungssystem. Den Grundstein dafür legte 1883 Otto von Bismarck mit dem Krankenversicherungsgesetz (KVG), das eine Versicherungspflicht für alle Arbeiter in Industrie und Gewerbe mit einem Lohn von unter 2.000 Mark jährlich vorsah. In den folgenden Jahren kamen immer mehr Arbeitnehmer in den Genuss der Versicherungspflicht und auch die Versicherungsleistungen wurden erweitert [Frevert, 1981 und 1984; Huerkamp, 1985].

Bismarcks Krankenversicherungsgesetz forderte die zahnärztliche Berufsgruppe in mehrfacher Hinsicht heraus: Zum einen war zu klären, ob und inwieweit Zahnbehandlungen zu den Kassenleistungen gerechnet werden und wer im Bedarfsfalle derartige Zahnbehandlungen vornimmt, zum andern wurde die Kassenfrage aus Sicht der Zahnärzteschaft zu einer (berufs)politischen Bewährungsprobe, bei der sie ihre Bündnisfähigkeit gegenüber den Kassen und ihre Machtposition gegenüber den nichtapprobierten Zahnbehandlern unter Beweis stellen musste [Groß, 1994].

Paragraf 6 des KVG schrieb den Rechtsanspruch des Versicherten auf “freie ärztliche Behandlung” fest [Ritter, 1903]. Zahnkrankheiten waren in dem Passus aber noch nicht explizit berücksichtigt. Die Zahnbehandlung zählte damit im Grundsatz nicht zu den kassenpflichtigen Leistungen. Entsprechend fanden auch die Begriffe “Zahnarzt” und “Zahnheilkunde” im Gesetz keine Erwähnung.

###more### ###title### Abhängig vom Kassenarzt ###title### ###more###

Abhängig vom Kassenarzt

Für die Zahnärzteschaft barg diese Tatsache ein erhebliches Konfliktpotenzial: Einerseits ließ sich aus den vagen Bestimmungen folgern, dass sich die Zahnärzte mit den Krankenkassen über die Auffassung und die Reichweite des Begriffs “ärztliche Behandlung” – und damit über die gesundheitspolitische Relevanz von Zahnkrankheiten und ihrer Therapie – auseinanderzusetzen hatten.

Andererseits waren die Zahnärzte in eine direkte Abhängigkeit von den Kassenärzten geraten, denn es war ihrer Einschätzung überlassen, ob ein Patient in Bezug auf die Zähne als behandlungsbedürftig galt und wen sie zur Behandlung der Zahnkrankheiten bestimmten.

Der Zahnarztbesuch als ultima ratio

Die Machtstellung der Ärzte zeigt sich nicht zuletzt in ihrer grundsätzlichen Berechtigung, Zahnbehandlungen selbst durchzuführen – auch wenn nur wenige von diesem Recht Gebrauch machten [Fischer, 1921]. Doch auch in anderer Hinsicht stand der Arzt oberhalb des Zahnarztes.

Während sich der Patient dem Arzt gegenüber in erkennbar abhängiger Position befand [Hampp/Zettel, 1983] – immerhin konnte der Arzt Erwerbsunfähigkeitsbescheinigungen ausstellen oder ebendies verweigern –, fehlten dem im Auftrag der Kasse tätigen Zahnarzt derart weitreichende Befugnisse. Die zahnärztliche Behandlung von Kassenpatienten spielte dementsprechend in den ersten Jahren nach Verabschiedung des KVG faktisch eine sehr geringe Rolle.

Neben den geltenden restriktiven gesetzlichen Bestimmungen war dies auch der geringen Bedeutung geschuldet, die die arbeitende Bevölkerung der Zahngesundheit zumaß. Das Aufsuchen des Zahnarztes erfolgte an der Wende zum 20. Jahrhundert zumeist als ultima ratio im Zusammenhang mit nicht kompensierbaren Schmerzzuständen. Begünstigt wurde dieser Zustand durch die noch geringe Verbreitung zahnärztlicher Lokalanaästhetika [Groß, 1994].

Auch wenn die Notwendigkeit einer Zahnbehandlung umstritten blieb, war am Vorabend des Ersten Weltkrieges – bei Einbezug der zum Teil mitversicherten Familienangehörigen – bereits die Hälfte der reichsdeutschen Bevölkerung krankenversichert.

###more### ###title### Vom Berufsstand verkannt: das Kassensystem ###title### ###more###

Vom Berufsstand verkannt: das Kassensystem

Aus der traditionellen Zweierbeziehung Zahnarzt-Patient war das Dreiecksverhältnis Zahnarzt-Krankenkasse-Patient oder gar die Viererbeziehung Zahnarzt-Krankenkasse-Kassenarzt-Patient geworden. Die Beziehung zwischen Zahnarzt und Krankem erhielt hierdurch einen mittelbaren Charakter – die maßgebliche Zwischenposition nahm die jeweilige Krankenkasse ein.

Tatsächlich war die Ausgangslage für den noch nicht konsolidierten Zahnärztestand schwierig: Zwar bot sich die Chance, das zahnärztliche Betätigungsfeld durch die Kassenversicherung mittelfristig deutlich auszuweite, doch präsentierte sich mit den Kassenvorständen nunmehr eine organisierte Macht, von der die Zahnärzteschaft berufspolitisch abhängig zu werden drohte.

Im Wesentlichen verkannte die organisierte Zahnärzteschaft zu diesem Zeitpunkt die überragende Bedeutung des Krankenkassensystems für den künftigen Berufsstand. Zwar stand die “Stellung der Zahnärzte zu den Ortskrankenkassen” 1888 auf der Tagesordnung der Jahresversammlung des CVdZ, das Ergebnis des Meinungsaustausches war jedoch nichtssagend: “Ueber das Verhältnis der Zahnärzte zu den Ortskrankenkassen ergibt die Debatte, daß die Verhältnisse nicht nur in verschiedenen Ländern, sondern sogar in verschiedenen Städten andere sind, und der Vorsitzende schließt aus der Debatte, daß in dieser Angelegenheit von Seiten des Central-Vereins nichts getan werden kann” [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1936].

1890 forderte der Berliner Zahnarzt Lustig im Rahmen der Jahresversammlung des CVdZ die Festanstellung von Kassenzahnärzten, den Ausschluss Nichtapprobierter von der Zahnbehandlung der Kassenpatienten, eine stärkere Unabhängigkeit gegenüber den Kassenärzten sowie die Einteilung der Städte in sogenannte zahnärztliche Bezirke. Er warnte vor einer Monopolstellung einzelner Zahnärzte auf Kosten der Gesamtheit. Hintergrund war die Tatsache, dass einzelne Zahnärzte sich gegenseitig unterboten, um Verträge mit den Kassen abzuschließen. Die an das Referat anschließende Diskussion stieß aber auch diesmal auf erstaunlich wenig Resonanz [Lustig, 1890].

Tatsächlich fanden die Zahnärzte in den verschiedenen Regionen unterschiedliche Verhältnisse vor. Allein der Umstand, dass der Anspruch auf zahnärztliche Behandlung im bestehenden KVG nicht explizit ausformuliert war, ließ verschiedene Ansichten über den Stellenwert zahnärztlicher Versorgungsleistungen zu. Manche Kassen stellten gar keine Zahnärzte an, einige übernahmen nur chirurgische Maßnahmen, wieder andere zeigten sich in Einzelfällen durchaus verhandlungswillig. Ein Teil der Kassenvorstände stellte „Vertrauensärzte“ an, die den Umfang der notwendigen zahnärztlichen Maßnahmen festlegen sollten [Axmann, 1984]. Je nach Meinung des beauftragten Arztes ergaben sich hierbei unterschiedliche Auslegungen und Vorgehensweisen der Kassen.

Hinzu kamen Differenzen in der politischen Grundhaltung der Kassenvorstände: Standen die Ortskrankenkassen vor allem seit Mitte der 1890er Jahre überwiegend unter dem Einfluss von Gewerkschaften und Sozialdemokratie, waren die Betriebskrankenkassen von Unternehmern bestimmt. Die Bahnkrankenkassen ihrerseits wurden staatlich verwaltet [Huerkamp, 1985]. Entsprechend uneinheitlich interpretierten die jeweiligen Kassenvorstände die „Bedürfnisfrage”. Zumindest zahnärztlicherseits führte man die Nichtanstellung von Zahnärzten auf den „sozialen und politischen Zusammenhang“ zwischen den Krankenkassenverwaltungen und den nichtapprobierten Zahnbehandlern zurück – eine Anspielung auf die Ortskrankenkassen [Mitteilungen für die Neuregelungen des Krankenversicherungsgesetzes, 1909].

Während sich der Vorsitzende des CVdZ noch 1878 in der Eröffnungsrede zur Jahresversammlung von den Sozialdemokraten distanzierte [Deutsche Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde, 1878], sah man die nichtapprobierten Zahnbehandler in politischer Nähe zur Sozialdemokratie und damit zu den Ortskrankenkassen. Ungeachtet dieser unterstellten politischen Verflechtung hatten die Kassenvorständen ein natürliches Interesse, „möglichst sparsam mit den Kassenfinanzen zu wirtschaften, um in möglichst kurzer Zeit die gesetzlich vorgeschriebenen Rücklagenfonds aufbauen und danach eventuell die Leistungen der Kasse erweitern zu können” [Huerkamp, 1985].

Im Juni 1891wurde die uneinheitliche Haltung der Kassen in der Frage der Zahnbehandlung auf der Jahresversammlung des Vereins Schleswig-Holsteinischer Zahnärzte diskutiert [Korrespondenz-Blatt für Zahnärzte, 1891] und der Vorstand des CVdZ wandte sich mit einer Petition an den Reichstag.

Die Bittschrift enthielt im Wesentlichen die Forderungen Lustigs [Beiblatt zur Deutschen Monatsschrift für Zahnheilkunde, 1891]. Für die endgültige Fassung des KVG von 1892 fand die Eingabe jedoch keine Beachtung mehr, da der Reichstag die zum Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen in Anbetracht der bereits erzielten Einigung für hinfällig erklärte [Beiblatt zur Deutschen Monatsschrift für Zahnheilkunde, 1892]. Dennoch wurde am 31. Januar 1894 der “Verein für freie Zahnarztwahl“ in Berlin gegründet, der die Zulassung aller Berliner Zahnärzte zur Kassenbehandlung forderte, die Aufhebung der Patientenüberweisung durch Mitglieder des Kassenvorstandes propagierte und die Begutachtung zahnmedizinischer Leistungen ausschließlich in zahnärztliche Hände gelegt wissen wollte [Seibeld, 1925].

Noch 1894 fragte der Verein den Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg, ob der Begriff “freie ärztliche Behandlung” auch die zahnärztliche impliziere. Der Oberpräsident leitete das Schreiben an die Gewerbedeputation weiter, die die Anfrage so beantwortete, dass die Krankenkassen nicht verpflichtet seien, ihren Mitgliedern freie zahnärztliche Behandlung zu gewähren. Auch bei Zahnkrankheiten bestünde allenfalls die Notwendigkeit zur Gewährung einer freien ärztlichen Behandlung [Zahnärztliche Rundschau, 1920].

Weitaus zahnarztfreundlicher war indes eine Entscheidung des Berliner Magistrats, wonach Zahnplomben zu den in § 6 der KVG genannten “Heilmitteln” gehörten und damit von den Krankenkassen zu bezahlen seien [Arbeiter-Versorgung, 1895]. Die Krankenkasse legte gegen dieses Urteil Berufung ein. Das Amtsgericht Berlin entschied jedoch in zweiter Instanz ähnlich [Arbeiter-Versorgung, 1895]: „Der Wert des Füllungsmaterials ist ähnlich dem des Pflasters bei der Versorgung einer Wunde. Daher ist die ärztliche Behandlung bei der Plombierung die Hauptsache und muss von der Krankenkasse unentgeltlich gewährt werden.”

###more### ###title### Zahnplomben sind Pflaster auf der Wunde ###title### ###more###

Zahnplomben sind Pflaster auf der Wunde

Eine zweite Revision wurde vom königlichen Landgericht, 16. Zivilkammer Berlin, erneut zurückgewiesen. Der Krankenkasse wurde jedoch zugestanden, dass „beim Plombieren nur das billigste Füllungsmaterial zu verwenden” sei. Zudem musste sichergestellt werden, dass die jeweilige Zahnerkrankung in einen Zusammenhang mit dem Allgemeinleiden zu bringen sei.

Angesichts der Unklarheiten diskutierte der „Vereinsbund Deutscher Zahnärzte“ (VbDZ) 1897das Verhältnis zu den Krankenkassen auf der Hauptversammlung erneut [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1936] und schloss im gleichen Jahr einen Vertrag mit der „Kranken- und Begräbniskasse des Verbandes deutscher Handlungsgehilfen in Leipzig” ab, der als erster „Versuch einer einheitlichen Vertragsregelung unter Ausschluss der Techniker” gelten kann [Ritter, 1903].

Richtungsweisend wurde ein Gutachten, das der Direktor des Berliner zahnärztlichen Instituts, Prof. Friedrich Busch, einem Berliner Gericht vorlegte. Busch wies auf den Zusammenhang zwischen kariös bedingten Entzündungen und Allgemeinerkrankungen hin [Ritter, 1903]: „Ich muss mich dahin aussprechen, dass das Plombieren erkrankter Zähne zu den ärztlichen Hilfeleistungen gehört, welche nicht nur zur Erhaltung der Gesundheit einzelner Zähne selbst, sondern auch zur Erhaltung der Gesundheit der Kassenmitglieder notwendig sind.”

Viele Krankenkassen versuchten die Ausgaben dadurch zu begrenzen, dass sich der Vorstand das Genehmigungsrecht für Zahnfüllungen vorbehielt. Andere verwiesen auf die Möglichkeit, dass die kariösen Läsionen schon vor der Mitgliedschaft in der Kasse bestanden hätten [Mencke, 1902; Fischer, 1921]. Dennoch wurden sie fortan in vielen Fällen zur Erstattung entsprechender zahnärztlicher Leistungen verurteilt [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1898].

###more### ###title### Die Nichtapprobierten ###title### ###more###

Die Nichtapprobierten

Gerade die Anstellung nichtapprobierter Zahnbehandler (Zahntechniker, Dentisten) machte die Kassenbehandlung aus zahnärztlicher Sicht zu einem besonderen Faktor [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1903]. Nicht so sehr die Hoffnung auf einen Mehrbedarf an Kassenzahnärzten, sondern vielmehr das Nichtapprobiertenproblem wurde zur eigentlichen Triebfeder der zahnärztlichen Politik in der Kassenfrage. Bezeichnenderweise beauftragte der Vereinsbund die Delegierten 1903, dahin zu wirken, dass diese Punkte anerkannt werden:

„1. Die Behandlung der Zahnkrankheiten gehört zu den ärztlichen Behandlungen im Sinne des § 6,

2. die Anführung von Nichtapprobierten in den officiellen Verzeichnissen der Krankenkassen als behandelnde Faktoren sind zu unterlassen,

3. die Ausstellung von Bescheinigungen über die Notwendigkeit von Behandlungen an den Zähnen seitens Nichtapprobierter ist zu verbieten und ärztliche Bescheinigungen sind nur durch den Arzt, respektive Zahnarzt auszufüllen” [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1903]. Mit anderen Worten: Die „Kassenfrage“ war deutlich überlagert von der „Nichtapprobiertenfrage“. Dies ist um so bemerkenswerter, wenn man die entschlossene Haltung der Ärzte in der Kassenfrage vergleicht. Wie Huerkamp [1985] zu Recht betont, haben die Ärzte „die große Bedeutung, welche die Krankenversicherung... für ihren ganzen Stand gewann, sofort richtig beurteilt”. Bereits auf dem Ärztetag 1884 wurde festgestellt, „daß kaum eine Frage in den letzten Jahren von solcher Wichtigkeit für das materielle Wohl und Wehe der Ärzte” vorgelegen habe.

###more### ###title### Warum die Kassen auch auf Zahnkünstler setzten ###title### ###more###

Warum die Kassen auch auf Zahnkünstler setzten

Die halbherzige Klärung der Kassenfrage seitens der Zahnärzte ist zumindest teilweise damit zu erklären, dass ihnen durch die engagierte und bisweilen verbissene Bekämpfung der nichtapprobierten Konkurrenz der Blick für die große Bedeutung der Neuerungen in der Sozialgesetzgebung verstellt war. Tatsächlich setzten viele Krankenkassen nach wie vor bevorzugt Nichtapprobierte zur dentalen Versorgung der Patienten ein. Ihnen kam hierbei zugute, dass das Publikum in seiner Mehrheit nicht zwischen Approbierten und Zahnkünstlern zu unterscheiden wusste. Für viele Krankenkassen war der Kostenfaktor ausschlaggebend. Da die Nichtapprobierten geringere finanzielle Anforderungen stellten, wurden sie von den Kassen häufig bevorzugt [Axmann, 1984].

So stellten 1907 von 1.146 erfassten Kassen 1.018 sowohl Zahnärzte als auch Zahntechniker ein – nur 128 Kassen beschränkten sich auf Zahnärzte. Dieselbe Umfrage ergab, dass 331 dieser Kassen zu jenem Zeitpunkt noch keine Zahnfüllungen gewährten [Sydow, 1908]. Welcher Stellenwert dem Nichtapprobiertenproblem in der Kassenfrage mittlerweile zugemessen wurde, verdeutlicht die Tatsache, dass der Vereinsbund 1906 eine „Krankenkassenkommission” berief [Zahnärztliche Rundschau, 1908]. Bei den ersten Beratungen zur Verabschiedung der neuen Reichsversicherungsordnung zeigte sich bereits das Interesse der Kassenvorstände an einer Berücksichtigung der nichtapprobierten Zahnbehandler.

Als die erste Fassung 1909 bestimmte, dass die ärztliche Behandlung bei Zahnkrankheiten „auch” durch Zahnärzte erfolgen solle, Hilfeleistungen von Zahnkünstlern dagegen nur in Gebieten geduldet seien, in denen ein Mangel an Approbierten herrsche [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1909], sahen sich die Ortskrankenkassen zu einer Protestresolution genötigt: „Die durch die Vorlage vorgesehene Beschränkung des zahnärztlichen Dienstes auf approbierte Zahnärzte ist weder gerechtfertigt noch durchführbar. Den Kassen kann unbedenklich, besonders mit Rücksicht auf die Bestimmungen des § 834 der Vorlage überlassen werden, die Behandlung von Zahnkranken entsprechend zu ordnen“ [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1909]. Insgesamt sprachen sich 1.693 von 1.696 Kassenvertreter gegen den Ausschluss der Zahnkünstler von der zahnärztlichen Behandlung aus. 1.036 Ortskrankenkassen standen hinter der Resolution.

Dieselbe Entschließung fasste der Betriebskrankenkassentag [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1910; Lang, 1930]. Auf einer Konferenz im Innenministerium im Oktober 1909 plädierten die Vertreter der Krankenkassen erneut für die unbeschränkte Zulassung der Zahnkünstler [Lang, 1930]. Der dritte Entwurf vom Juni 1910 legte schließlich expressis verbis die Möglichkeit der Behandlung durch Nichtapprobierte fest [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1910]: „Bei Zahnkrankheiten mit Ausschluß von Mund- und Kieferkrankheiten kann die Behandlung auch durch Zahntechniker erfolgen. Wer als Zahntechniker im Sinne dieses Gesetzes zugelassen ist, wird durch die Verordnung der höheren Verwaltungsbehörde bestimmt.”

Die Bestimmung löste bei den Zahnärzten erneut Entrüstung aus. Man fürchtete nun die Einführung eines Befähigungsnachweises für Nichtapprobierte. In verschiedenen Großstädten wurden spontane Protestveranstaltungen anberaumt [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1910]. Große Bedeutung kam im selben Jahr einer Kundgebung mit 600 Personen zu, organisiert vom VbDZ und dem Wirtschaftlichen Verband Deutscher Zahnärzte (WVDZ). Der Wirtschaftliche Verband war gerade gegründet worden, um in der Kassenfrage die zahnärztlichen Interessen wirksam zu vertreten [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1910; Zahnärztliche Mitteilungen, 1933]. Insgesamt hatten 50 zahnärztliche Vereine Delegierte entsandt.

Sie verabschiedeten schließlich eine Petition an Reichstag und Regierung, in der man folgenden Passus vorschlug [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1910]: „Bei Zahnkrankheiten kann, sofern und solange im Bezirk eines Versicherungsträgers nicht genug Zahnärzte und Aerzte vorhanden sind, welche die Behandlung übernehmen, widerruflich auch Zahntechnikern die selbständige Behandlung übertragen werden. Wer als Zahntechniker im Sinne des Gesetzes widerruflich zugelassen ist, wird durch Verordnung der obersten Verwaltungsbehörde bestimmt. Diese kann bestimmen, unter welchen Voraussetzungen auch Heildiener und Heilgehilfen bei Zahnkrankheiten selbstständige Hilfe leisten können.”

Zahlreiche Artikel in der Fachpresse belegen die Unzufriedenheit der Zahnärzte mit dem Verlauf der Beratungen. Grundtenor war die Ansicht, dass die Nichtapprobierten „sich heute eines größeren Wohlwollens seitens der Regierung und der Volksvertreter zu erfreuen haben, als die Approbierten, so dass es fast den Eindruck erweckt, als ob es heute den Betreffenden zum Vorwurf und zum Nachteil gereichen soll, dass sie die von der Regierung und Volksvertretung für die zuverlässige Ausübung der Heilkunde als notwendig erachtete Ausbildung sich erworben haben!“[ Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1911]

Die Initiativen der Zahnärzte blieben erfolglos. Ein Vermittlungsvorschlag, der die Interessen beider Gruppen berücksichtigen sollte, wurde von der zuständigen Kommission mit 14 zu 13 Stimmen abgelehnt. Die Dentisten wurden somit als Berufsgruppe in den öffentlichen Gesundheitsdienst integriert. Kein einziger Reichstagsabgeordneter hatte sich dagegen ausgesprochen. Indes regten die Abgeordneten Linz und Pauli die Einführung eines Befähigungsnachweises für Dentisten an [Lang, 1930]. Die vorbehaltliche Zustimmung des Versicherten zur Behandlung durch Nichtapprobierte war de facto nahezu irrelevant, zumal weite Bevölkerungsteile über die Unterschiede beider Berufsgruppen kaum informiert waren.

Die endgültige Fassung der RVO wurde im Juli 1911 verkündet. Das neue Krankenversicherungsgesetz trat am 1. Januar 1914 in Kraft. Als Zahntechniker im Sinne der RVO war hiernach derjenige anzusehen, der „das 25. Lebensjahr vollendet hat, unbescholten ist, eine dreijährige Lehrzeit bei einem Zahnarzt oder zuverlässigen Zahntechniker durchgemacht hat, nach der Lehrzeit vier Jahre als behandelnder Zahntechniker im Hauptberuf tätig gewesen ist, das Gewerbe des Zahntechnikers im Hauptberuf ausübt, die vorgeschriebene Prüfung bestanden hat und sich im Besitze eines hierüber ausgestellten Ausweises befindet“ [Lang, 1930].

Bereits 1914 wurde auf dieser Basis in Elsaß-Lothringen eine solche Prüfung für Dentisten eingeführt. Nach Kriegsende folgten auch die anderen Länder mit Erlassen [Hoffmann/Venter, 1935; Lang, 1930]. Obgleich jene Prüfungen nur die Fähigkeit zur Behandlung von Kassenpatienten nachweisen sollten, wurden sie von seiten der Dentisten als staatliche Fachprüfung interpretiert und gefeiert [Linnert, 1920].

###more### ###title### Die kleine Approbation für Dentisten ###title### ###more###

Die kleine Approbation für Dentisten

Als das Land Baden 1920 die Bezeichnung „staatlich geprüfter Dentist” einführte, sahen die Dentisten ein Hauptziel erreicht [Zahntechnische Wochenschrift, 1920]: „Die staatliche Prüfung für Dentisten! Ein Wort, das vor dem Kriege als eine stille, aber noch in weiter Ferne liegende Hoffnung aller derjenigen galt, die es ernst mit ihrem Beruf und ihrem Stand meinten, nun ist es Tatsache geworden!” Ungeachtet der zahnärztlichen Proteste feierte man die staatlichen Prüfungen als „kleine Approbation”. Dennoch blieben die Prüfungsbestimmungen in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Der von den Dentisten geforderte einheitliche Ausbildungsgang blieb illusorisch [Lang, 1930].

Auch die Spannungen zwischen Zahnärzten und Krankenkassen blieben, denn noch immer stand es den Kassenvorständen frei, wie viele und welche Zahnbehandler sie zuließen. Während die zahnärztlichen Politiker ihre Forderungen in den neuen gesetzlichen Bestimmungen nicht berücksichtigt sahen, erreichten die Dentisten in der endgültigen RVO-Fassung ihre staatliche Anerkennung. Die Tatsache, dass Dentisten als „Zahntechniker im Sinne dieses Gesetzes” zuzulassen waren, bedeutete faktisch die Einführung eines Befähigungsnachweises.

Die RVO legte damit den Grundstein für eine zweite, ausdrücklich legitimierte Berufsgruppe auf dem Gebiet der Zahnheilkunde. Spätestens seit der Inkraftsetzung der RVO waren die Dentisten zu einer ernsthaften Konkurrenz geworden, die zudem auf den Rückhalt der Kassen setzen konnte. Auch die Ärzte waren weiterhin zur Behandlung von Zahnkrankheiten berechtigt, aber das spielte aufgrund ihrer zunehmenden Spezialisierung eine immer geringere Rolle.

###more### ###title### Zahnärzte scheitern an ihrer Konzeptlosigkeit ###title### ###more###

Zahnärzte scheitern an ihrer Konzeptlosigkeit

Letztlich scheiterte die zahnärztliche Interessenpolitik in der Kassenfrage an ihrer eigenen Konzeptlosigkeit. Einerseits war man bemüht, die Einführung des Abiturs als Studienvoraussetzung durchzusetzen, um mit diesem „Bildungspatent“ zu den akademischen Berufsgruppen aufzusteigen, andererseits übersah man jedoch, dass die höhere schulische Vorbildung den zahnärztlichen Nachwuchs verminderte und gleichzeitig den Dentisten Kandidaten zuführte. Die zahnärztliche Berufsgruppe musste also unter den Zahnbehandlern eine Minorität bleiben. In der Tat war die Zahl der Zahnärzte gering. So standen 1919 – zehn Jahre nach der Einführung des Abiturs als Voraussetzung zum Zahnmedizinstudium – 4.478 Zahnärzten 9.483 nichtapprobierte Zahnbehandler gegenüber [Groß, 1994].

Dieses Verhältnis stand dem zahnärztlichen Anspruch, die zahnärztliche Versorgung der Versicherten gewährleisten zu können, entgegen. In den beratenden Gremien kam man somit zu dem Schluss, dass auf die weitaus größere Gruppe der Dentisten nicht zu verzichten sei, sofern der Staat seiner Sorgfaltspflicht genügen wollte [Stenographische Berichte des deutschen Reichstages, 1910/11; Lang, 1930].

Eine weitere Schwäche der zahnärztlichen Berufspolitik war, dass die Notwendigkeit einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Krankenkassensystem zu spät erkannt wurde. Zudem hatte sich bei den Vorverhandlungen zur RVO gezeigt, dass die Interessenvertretung der Zahnärzte im Vergleich zur ärztlichen wenig effektiv war. Besonders augenfällig war die Erfolglosigkeit des WVDZ, wofür sich mehrere Gründe nennen lassen: So wiesen die Zahnärzte gegenüber den Ärzten immer noch einen organisatorischen Rückstand auf. War es den Ärzten bereits 1900 gelungen, einen wirtschaftlichen Verband zu gründen und aufzubauen, erreichte die Zahnärzteschaft dieses Ziel erst eine knappe Dekade später. Die Organisation war in den entscheidenden Jahren 1909 bis 1911 zu wenig ausgereift, um in die Beratungen zur RVO noch wirkungsvoll eingreifen zu können [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1910].

###more### ###title### Organisatorisch klar im Rückstand ###title### ###more###

Organisatorisch klar im Rückstand

Neben diesen strukturellen Defiziten dürfte die 1909 geäußerte Kritik des Vereinsbundes und die nicht eindeutige Rollenverteilung zwischen beiden Verbänden die Durchschlagskraft des WVDZ gemindert haben. Einen weiteren Erklärungsansatz liefern zeitgenössische Artikel des Zahnarztes Julius Misch. Misch bezeichnete die Vorbereitung zur Gründungsversammlung als unzureichend. Auch seien Aufgaben und Ziele des zu gründenden Verbands nicht genau bestimmt worden.

Eine Diskussion über den Satzungsentwurf sei nicht erfolgt [Zeitschrift für Zahnheilkunde, 1910]. Darüber hinaus gab der 1909 gewählte Präsident des WVDZ, der Münchner Zahnarzt Greve, den Vorsitz bereits 1911 wieder ab. Auch mit Blick auf die Führungsarbeit war damit keine Kontinuität gewährleistet [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1911]. Im Übrigen besaßen die Zahnärzte im Unterschied zu den Ärzten keine einflussreichen Kontakte zum Reichstag. Sie hatten damit weder bei den Krankenkassen noch in der Legislative personellen Rückhalt [Huerkamp, 1985].

Die im Vergleich zum Hartmannbund geringere Effektivität des WVDZ lag aber auch zuletzt daran, dass beide Verbände unterschiedliche Ausgangspositionen vorfanden: Während die Ärzte bereits 1883 im Krankenversicherungsgesetz als Krankenbehandler expressis verbis genannt waren, musste der Anspruch auf zahnärztliche Behandlung erst mühsam erstritten werden.

###more### ###title### Auf Schmerzbeseitigung beschränkt ###title### ###more###

Auf Schmerzbeseitigung beschränkt

Aber auch die Erwartungshaltung der Versicherten war eine andere: Der Kranke erhoffte sich vom Arzt eine Absicherung gegen das Risiko der Erwerbsunfähigkeit. Die Aussicht auf eine Berufsunfähigkeitsbescheinigung im Krankheitsfalle sicherte dem Arzt seinerseits trotz aller Abhängigkeit vom Kassenvorstand eine einflussreiche Position. Die Rolle des Zahnarztes war bereits aufgrund der Begrenztheit des zahnärztlichen Aufgabenbereichs im Wesentlichen auf Schmerzbeseitigung beschränkt.

Eine direkte Bindung des Versicherten an den Zahnarzt konnte sich somit nicht entwickeln. Hinzu kam, dass die Zahnbehandlung von Kassenpatienten kein zahnärztliches Monopol darstellte. Der Umstand, dass Kassenärzte über die Notwendigkeit zahnbehandelnder Maßnahmen zu befinden hatten, schaffte weitere Abhängigkeiten.

Trotz aller Unzulänglichkeiten und taktischen Schwächen der zahnärztlichen Interessenpolitik in den Anfängen der Sozialversicherung wurde das Krankenkassensystem im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zu einem maßgeblichen Katalysator der zahnärztlichen Berufsentwicklung. Die „Kassenpraxis“ wurde zunehmend charakteristisch für das Berufsbild des niedergelassenen Zahnarztes – und sie ist es bis heute. Die Bedeutung des Krankenversicherungssystems für den zahnärztlichen Professionalisierungsprozess kann dementsprechend kaum überbewertet werden.

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß,

Institut für Geschichte,

Theorie und Ethik der Medizin

Medizinische Fakultät und

Universitätsklinik der RWTH Aachen

dgross@ukaachen.de

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.