Die Entwicklung des Zahnarztberufs (12)

Auswirkungen der großen medizinischen Entdeckungen auf die Zahnheilkunde

Die Entwicklung der Zahnheilkunde ist wesentlich durch die medizinischen und naturwissenschaftlichen Erfindungen und Entdeckungen geprägt worden. Besonderen Einfluss übten die Gebiete Keimfreies Arbeiten, Bakteriologie, Anästhesie und Bildgebende Verfahren aus. Dieser Beitrag beschließt die Reihe zur Entwicklung des Zahnarztberufs.

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Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Frage, inwieweit die epochalen Fortschritte der Medizin des 19. und des 20. Jahrhunderts das Fach Zahnheilkunde befruchtet und geprägt haben. Vier derartige Meilensteine sollen dabei näher beleuchtet werden: die Etablierung von Asepsis und Antisepsis und die damit verbundenen Erweiterungen der chirurgischen Möglichkeiten, die Bakteriologie und die nachfolgende Entwicklung der Antibiotika, die Entwicklung der Anästhesie und die neuen Möglichkeiten der Schmerzausschaltung sowie die Entdeckung der Röntgenstrahlen und – in der Folge – die Etablierung der bildgebenden Medizin [Eckart, 2013; Groß, 1984; Groß/Winckelmann, 2008].

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Asepsis und Antisepsis

Einen Meilenstein in der Geschichte der Medizin markierten die Anfänge der Asepsis und Antisepsis [Eckart, 2013; Hoffmann-Axthelm, 1995; Winckelmann, 2008a]. Die Begriffe stehen für keimfreies beziehungsweise keimarmes Arbeiten bei allen chirurgisch-operativen Maßnahmen und bei der Versorgung offener Wunden. Die besagten Initiativen sind in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu datieren: Erst in dieser Zeit reifte die Erkenntnis, dass Keime, die durch die Hände des Arztes, durch Instrumente oder aber durch die Luft in eine Wunde gelangen, für die vielfach schwerwiegend bis tödlich verlaufenden Wundinfektionen und für das von Wöchnerinnen gefürchtete sogenannte Kindbettfieber verantwortlich sein mussten – ohne dass man jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits konkrete Keime identifiziert hatte. Erklärte Ziele waren nun die Keimfreiheit aller Gegenstände, die mit einer Operationswunde in Berührung kommen konnten, sowie die weitgehende Elimination bereits in die Wunde gelangter Keime. Die Verwirklichung dieser beiden Zielsetzungen ist mit den Biografien der beiden Ärzte Joseph Lister (1827–1912) und lgnaz Philipp Semmelweis (1818–1865) verknüpft.

Der Wiener Arzt und Geburtshelfer Semmelweis setzte den ersten Markstein: In ihm keimte 1847/48 der Verdacht, dass das vielfach todbringende Kindbettfieber von den keimbesiedelten Händen der Ärzte ausging und nicht etwa, wie man bis dahin annahm, von den Ausdünstungen der Erde oder einer mangelnden Reinlichkeit der Wöchnerinnen.

Ausgangspunkt seiner Mutmaßung war eine von ihm ermittelte statistische Auffälligkeit: Das Kindbettfieber trat seinen Aufzeichnungen zufolge gehäuft bei Wöchnerinnen auf, die von (angehenden) Ärzten untersucht oder behandelt wurden, nachdem diese Sektionen an Leichen durchgeführt hatten. Die betreffenden Mediziner nahmen ihre Untersuchungen an den Wöchnerinnen zu dieser Zeit oft ohne vorheriges Händewaschen vor. Aufgrund seines Verdachts forderte Semmelweis von den (angehenden) Kollegen vor jeder Maßnahme an den Frauen ein gründliches Händewaschen in einer Chlorkalklösung sowie eine sorgfältige Reinigung der gynäkologischen Instrumente.

Seine statistische Erhebung von 1847/48 gilt heute als frühes Beispiel einer evidenzbasierten Medizin und als Geburtsstunde der Asepsis. Allerdings stieß Semmelweis mit seinen Forderungen unter den zeitgenössischen Ärzten wie bei seinem Vorgesetzten auf heftigen Widerstand. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zu habilitieren (1850). Er starb 1865 unter ungeklärten Umständen in der Niederösterreichischen Landesirrenanstalt in Wien-Döbling. Erst posthum setzte sich seine Lehre innerhalb der Ärzteschaft durch, und Semmelweis ging als „Retter der Mütter“ in die Medizingeschichte ein. Gleichzeitig wurde er der Namensgeber des „Semmelweis-Reflexes“ („Semmelweis-Effekt“): Gemeint ist damit die spontane, reflexartige Ablehnung einer neuen (verwegenen) wissenschaftlichen Entdeckung ohne weitere fachliche Überprüfung des Sachverhalts [Medicus, 2011]. Tatsächlich finden sich in der Medizingeschichte viele Beispiele für Persönlichkeiten, denen zu Lebzeiten die fachliche Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Entdeckung beziehungsweise Pioniertat verwehrt wurde.

Als Pendant zu Semmelweis kann Josef Lister gelten: Der schottische Chirurg wird bis heute mit dem Prinzip der Antisepsis in Verbindung gebracht. Die Antisepsis bezeichnet die weitgehende Elimination oder Hemmung infektiöser Keime im Wundbereich beziehungsweise in einem Operationsfeld mit dem Ziel, eine Infektion zu verhindern. Während die Asepsis auf eine vollkommene Keimfreiheit abzielt – bekanntestes Beispiel sind sterilisierte Instrumente und Materialien –, ist auf Körperoberflächen lediglich eine antiseptische Behandlung möglich, da die (Schleim-)Haut nicht sterilisiert werden kann. Lister propagierte vor diesem Hintergrund seit 1867 das Besprühen („Einnebeln“) des Operationsfeldes mit desinfizierendem Karbol. Viele folgten seinem Beispiel. In Deutschland machte sich vor allem Richard von Volkmann um die Einführung des Karbols verdient. Als weitere Desinfektionsmittel konnten Phenolsäure und Sublimat etabliert werden.

Bald wurden die beiden Konzepte – die Asepsis und die Antisepsis – systematisch kombiniert. Für die Instrumentenaufbereitung setzte sich das nach dem deutschen Mediziner Curt Schimmelbusch (1860–1895) benannte Verfahren durch (Prinzip des gespannten Dampfes). Die von ihm 1889 entwickelten Behälter für Instrumente und OP-Wäsche wurden „Schimmelbuschtrommeln“ genannt. Mit dem neuen Verfahren konnte eine nahezu hundertprozentige Sterilisation der Operationsinstrumente erreicht werden.

Besagte Trommeln dienten als Grundlage für die heute verwendeten Container und Containersysteme. Neben die Desinfektion des Operationsfeldes traten nunmehr immer stärker systematisierte Handwaschungen und das Tragen von Gummihandschuhen. Letzteres wurde vor allem von William Stuart Halsted (1852–1922) in den USA und Paul Friedrich (1867–1925) in Deutschland etabliert.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass dank der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf breiter Front etablierten anti- und aseptischen Maßnahmen ein drastischer Rückgang der Operationsmortalität erreicht werden konnte. Gleiches galt für die Müttersterblichkeit. Erst diese neuen Kautelen begründeten den Siegeszug der modernen Chirurgie – und damit den heutigen Erfolg chirurgischer Interventionen in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, respektive in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.

###more### ###title### Bakteriologie und Antibiotika ###title### ###more###

Bakteriologie und Antibiotika

Listers Experimente mit der Karbolsäure als Desinfektionsmittel waren durch die Arbeiten Louis Pasteurs (1822–1895) beeinflusst, der seinerseits zu den Wegbereitern der Bakteriologie zu zählen ist. Die Bakteriologie stieg Ende des 19. Jahrhunderts zur neuen Leitdisziplin der Medizin empor [Bruchhausen, 2008; Eckart, 2013; Winckelmann, 2008b]. Sie galt wie kein anderes Fach als Paradebeispiel für eine neue, naturwissenschaftlich orientierte Medizin. Durch die Untersuchungen der Bakteriologen bekamen viele Erreger und die von diesen verursachten, oftmals todbringenden Infektionskrankheiten ein Gesicht. Neben dem Franzosen Pasteur führte auch der Deutsche Robert Koch (1843–1910) umfassende bakteriologische Forschungen durch. Dabei kam er vielen Erregern auf die Spur. Allerdings waren mit dem Nachweis einzelner Mikroben in den meisten Fällen noch keine therapeutischen Konsequenzen verbunden – es sollte vielmehr noch ein halbes Jahrhundert dauern, bis effektive Antibiotika entdeckt beziehungsweise entwickelt wurden. Zunächst beschränkte man sich notgedrungen auf die Erprobung einzelner Impfseren, Maßnahmen der Hygiene, die Gewährleistung eines keimarmen Trinkwassers und die sichere Entsorgung von Fäkalien. Eine gewisse antibakterielle Wirkung besaßen in dieser Zeit lediglich Desinfektionsmittel wie Karbolsäure oder Sublimat.

Erste Schritte auf dem Weg zu einer wirksamen antibakteriellen Therapie gelangen dann Paul Ehrlich (1854–1915). Das 1910 von Ehrlich eingeführte Arsphenamin (Salvarsan) kann als das erste Antibiotikum angesehen werden. Es handelte sich um eine organische Arsenverbindung, die eine Therapie der damals weit verbreiteten Syphilis ermöglichte. Das Wirkungsspektrum war allerdings auf Spirochäten begrenzt (Schmalspektrum-Antibiotikum). Da Salvarsan an der Luft sehr rasch zu giftigen Verbindungen oxidiert, wurde es in luftdichten Glasampullen vertrieben. Bei intravenöser oder intramuskulärer Anwendung führte es jedoch zu inneren Verätzungen der Venen, so dass mit Neo-Salvarsan und Solu-Salvarsan nebenwirkungsärmere Derivate entwickelt werden mussten.

In den 1930er-Jahren entdeckte der deutsche Bakteriologe Gerhard Domagk die antibakterielle Wirkung des Sulfonamids. Unter der Markenbezeichnung Prontosil kam es im Jahr 1935 auf den Markt. Für seine Entdeckung erhielt Domagk bereits 1939 den Nobelpreis für Medizin. Das Medikament selbst wurde bis in die 1960er-Jahre hinein eingesetzt.

Ähnliches gelang dem schottischen Bakteriologen Alexander Fleming mit der Entdeckung des Antibiotikums Penicillin. Auch ihm wurde der Nobelpreis zugesprochen (1945). Fleming hatte viele Jahre vor dieser Ehrung, am 28. September 1928, in seinem Labor festgestellt, dass Schimmelpilze der Gattung Penicillium in eine seiner Staphylokokken-Kulturen hineingeraten waren und dort eine keimtötende Wirkung entfaltet hatten. Er nannte den bakterientötenden Stoff Penicillin, beschrieb ihn erstmals 1929, kam jedoch nicht auf die Idee, ihn als antimikrobielles Medikament einzusetzen. Erst Initiativen anderer Forscher führten später zur Herstellung des gleichnamigen Antibiotikums. Penicillin erwies sich als hochwirksam. Es konnte jedoch nicht chemisch synthetisiert, sondern zunächst nur mithilfe von Mikroorganismen (Pilzen) hergestellt werden. 1942 wurde der erste Patient mit Penicillin behandelt – ein Meilenstein in der Geschichte der Antibiotikatherapie. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte Penicillin dann auch in Europa eingesetzt werden.

Nun wurden in rascher Folge viele weitere antibakteriell wirksame Medikamente entwickelt, darunter Streptomycin, Chloramphenicol und Tetracyclin. Gleichzeitig wurde Penicillin zum Ausgangspunkt für eine ganze Reihe unterschiedlichster Penicillintypen und -derivate. Die Neuentwicklungen im Bereich der Antibiotikatherapie führten in ihrer Gesamtheit dazu, dass viele Infektionskrankheiten ihren Schrecken verloren. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die mittlere Lebenserwartung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich stieg. Heute zählen Antibiotika zu den weltweit am häufigsten verschriebenen Medikamenten. Allein in Deutschland waren 2005 insgesamt 2.775 Antibiotikapräparate zugelassen. Sie machen insgesamt dreizehn Prozent des gesamten Arzneimittelverbrauchs aus. Auch aus der Zahnheilkunde ist diese Medikamentengruppe längst nicht mehr wegzudenken: Sie kommt bei apikalen Parodontitiden, dentitio difficilis, dentogenen Abszessen und akuten nekrotisierenden Gingivitiden ebenso zum Einsatz wie bei Osteomyelitis, Sialadenitis, Aktinomykose beziehungseise im Rahmen der perioperativen Prophylaxe. Zu den häufigsten in der Zahnmedizin verwendeten oralen Antibiotika gehören Penicillin V, Clindamycin, Aminopenicilline, Cephalosporine, Tetracykline, Makrolide, Fluorochinolone und Nitroimidazol.

###more### ###title### Anästhesie ###title### ###more###

Anästhesie

Wenn der Siegeszug der Chirurgie am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Einführung der Anti- und Asepsis erklärt wird, so ist dies zutreffend – andererseits aber nur die halbe Wahrheit: Ebenso wichtig wie das keimfreie beziehungsweise keimarme Arbeiten war eine suffiziente Schmerzausschaltung, denn nur sie ermöglichte zeitlich umfassende und damit größere und komplexere Operationen [Bouchet, 1984; Strübig, 1989; Winckelmann, 2008a]. Bis zur Etablierung der Narkose konnten Patienten nur unzureichend mit Whiskey, Opiaten beziehungsweise Pflanzenextrakten (etwa Hanf, Schlafmohnkapseln, Bilsenkraut, Nieswurz) betäubt werden. Nicht selten mussten sie gefesselt oder festgehalten werden, um angst- und schmerzbedingte Abwehrreaktionen zuverlässig unterbinden zu können. Aufgrund dieser höchst ungünstigen Rahmenbedingungen waren den Chirurgen enge operative Grenzen gesetzt. Dementsprechend fielen Genauigkeit und Gründlichkeit häufig dem Gebot des zügigen Operierens zum Opfer. Dies hatte zur Folge, dass operative Maßnahmen über Jahrhunderte hinweg als ultima ratio angesehen wurden, also nur dann erfolgten, wenn sie wirklich unausweichlich waren.

Erste Vorarbeiten für eine spätere Allgemeinanästhesie lassen sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen: So hatte der englische Chemiker Joseph Priestley (1733–1804) schon 1772 das Lachgas (Distickstoffmonoxid, N2O) herstellen können. Die schmerzstillende Wirkung des Gases wurde jedoch erst von Priestleys Fachkollegen Humphry Davy (1778–1829) beschrieben: Er hatte um 1797 damit begonnen, das Lachgas im Selbstversuch auszutesten. ln den Vereinigten Staaten wurden bald „Laughing-gas parties“ veranstaltet, bei denen Chemiker und andere Demonstratoren die erheiternde Wirkung des Lachgases vorführten. Dabei fiel auch die anästhetische Wirkung von N2O in den Blick. Als eigentlicher Entdecker der Lachgasnarkose gilt jedoch Horace Wells (1815–1848), ein US-amerikanischer Zahnarzt. Er setzte Distickstoffmonoxid erstmals 1844 für Zahnextraktionen und -behandlungen ein. 1845 wollte Wells seine Entdeckung im Rahmen einer öffentlichen Lachgasanwendung am Massachusetts General Hospital in Boston gerade auch unter den akademischen Ärzten bekannt machen. Allerdings scheiterte seine an einem übergewichtigen Alkoholiker vorgenommene Demonstration aufgrund eines Dosierungsfehlers und Wells sah sich blamiert. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch, von dem er sich nie wirklich erholte, und schied 1848 im Alter von 33 Jahren durch Suizid aus dem Leben. In den 1860er-Jahren erlebte der Wirkstoff jedoch seinen Durchbruch: Etwa seit dem Jahr 1868 gehörte Lachgas zur Standardmedikation bei der Durchführung klinischer Operationen.

Die Entwicklung der Ätherinhalationsnarkosen begann ihrerseits 1846 – also nur kurze Zeit nach Wells Lachgasdemonstration – und ist verbunden mit den Namen William Morton (1819–1868) und John Warren (1778–1856). Morton, der wie Wells als Zahnarzt tätig war, führte in jenem Jahr – ebenfalls im Massachusetts General Hospital in Boston – eine öffentliche Narkosebehandlung mit Äther (Diethylether) durch. Sie verlief im Unterschied zu Wells Vorführung erfolgreich, so dass Morton verschiedentlich noch heute verkürzt als Entdecker der Narkose bezeichnet wird.

Der Erfolg der ersten Äthernarkose verbreitete sich in Windeseile in der ganzen Welt. Im deutschen Sprachraum nahm Hermann A. Demme am 23. Januar 1847 in Bern die erste Allgemeinanästhesie mit Äther vor. Im Deutschen Bund gelang die erste Narkose am 24. Januar 1847 Heinrich E. Weikert und Carl F. E. Obenaus in Leipzig sowie Johann Ferdinand Heyfelder in Erlangen. Obwohl Äther einen frühen und raschen Siegeszug antrat, galt er mit der Zeit als Narkosemittel mit Schwächen: Seine vielfältigen Neben- und Nachwirkungen (wie etwa Unruhe und Erbrechen), die bestehende Explosionsgefahr (Bildung von Äther-Luft-Gemischen) und eine lange Abklingzeit sorgten für zunehmende Kritik, so dass man sich bald verstärkt anderen Mitteln zuwandte.

Zu diesen Mitteln zählte Chloroform (Trichlormethan). Es war bereits 1831 unabhängig voneinander von Justus von Liebig, Samuel Guthrie und Eugène Soubeiran hergestellt worden. Seine narkotisierende Wirkung wurde allerdings erst 1842 durch den britischen Arzt Robert Mortimer Glover erkannt. Schließlich führte der schottische Geburtshelfer James Young Simpson (1811–1870), Professor an der Universität von Edinburgh, das Chloroform 1847 in die Gynäkologie ein: Am 4. November 1847 testete er das Mittel in einer privaten Demonstration mit zwei Freunden und publizierte noch im selben Monat eine vielbeachtete Schrift zu diesem Thema. 1853 wurde Königin Victoria bei der Geburt eines ihrer Kinder erfolgreich mit Chloroform anästhesiert. Aufgrund seiner schnelleren Wirkung, seiner Unbrennbarkeit und der geringeren postnarkotischen Nebenwirkungen wurde Chloroform bald häufiger als Äther eingesetzt. Es setzte sich auch in der allgemeinen Chirurgie zunehmend durch. Doch spätestens um die Jahrhundertwende mehrte sich die Kritik an diesem Narkotikum: Man berichtete nun über die lebertoxische Wirkung von Chloroform und sah lebensbedrohliche Komplikationen, etwa Herzstillstand. Nachdem also auch das Chloroform als Präparat verschiedentlich in Missgunst geraten war, hatten – insbesondere in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg – Kombinationen von Lachgas und Äther Konjunktur.

Im 20. Jahrhundert wurden die Narkoseapparaturen von einfachen Tropfmasken zu den bis heute gebräuchlichen Rückatemgeräten mit Kreisteil weiterentwickelt. So konnten Wärme- und Flüssigkeitsverluste, aber auch der Gasverbrauch drastisch gesenkt werden. Der Chirurg Friedrich Trendelenburg führte in Deutschland den Tubus ein („tracheale Tamponkanüle“, 1869). Er war damit Wegbereiter der „Intubationsnarkose“, bei der das Narkotikum über einen eigenen Zufluss der geblockten Trachealkanüle eingeleitet wurde.

Zudem konnte die Patientenüberwachung (Monitoring) sukzessive verbessert werden. Der Aufstieg der Anästhesieverfahren ging dementsprechend Hand in Hand mit einer Professionalisierung des Fachgebiets Anästhesiologie.

Mit der Etablierung der Allgemeinnarkose wuchsen auch die Spielräume für Zahnärzte und Kieferchirurgen: Die gefürchteten Zahnextraktionen und Zahnoperationen wurden nun ebenso erleichtert wie größere Operationen am Kiefer, wie sie etwa bei Krebsbehandlungen oder bei kriegsbedingten Verwundungen im Kopfbereich erforderlich wurden. Durch die neuen Möglichkeiten der schmerzfreien Behandlung wurden Zahnentfernungen, die bis dahin zumeist als letztes Mittel angesehen wurden, zu elektiven Maßnahmen im Rahmen eines systematischen Behandlungsplans.

Besondere Verbreitung erlangte in der Zahnheilkunde die titrierbare Lachgas- Sedierung. Schon bald wurde Lachgas – ein relativ schwaches, nebenwirkungsarmes Narkosemittel – mit anderen Narkosemitteln kombiniert. Lachgas etablierte sich auch als Sedierungsmittel bei Kindern, bei ängstlichen Erwachsenen sowie bei Patienten mit starkem Würgereiz. Positiv vermerkt wurde insbesondere, dass das Gas rasch an- und abflutet und somit gut steuerbar ist und dass keine (ausgeprägte) Atemdepression auftritt.

Auch von den Erfolgen im Bereich der Lokal- und Regionalanästhesie konnte die Zahnheilkunde massiv profitieren: Der Wiener Augenarzt Karl Koller (1858–1944) hatte 1884 erstmals zur lokalen Anästhesie Kokainlösung in den Bindehautsack geträufelt und damit den Startschuss für die örtliche Betäubung gegeben. Im selben Jahr spritzte der Amerikaner William Stuart Halsted (1852–1922) wässrige Kokainlösungen unter die Haut, um auch dort – ähnlich wie im Bereich der Konjunktiven – Schmerzfreiheit zu erzielen. Halsted bereitete zudem der Leitungsanästhesie den Weg, indem er 1885 nachwies, dass man auf diese Weise das gesamte Ausbreitungsgebiet eines Nerven blocken, sprich unempfindlich machen kann. Auch hierfür wurde zunächst Kokain eingesetzt. Halsted, der seine Untersuchungen im Selbstversuch vornahm, führte 1885 die erste nachweisliche Leitungsanästhesie des Nervus mandibularis durch und bewies damit den Nutzen des Verfahrens für die Zahnheilkunde.

Schon bald zeigten sich jedoch auch die Risiken und Nebenwirkungen von Kokain: Es führte gelegentlich zum Kreislaufkollaps und konnte zudem bei häufigerem Gebrauch eine Abhängigkeit erzeugen. 1892 berichtete dann der Berliner Chirurg Carl Ludwig Schleich (1859–1922) über seine Erfahrungen mit stark verdünnten und damit weniger gefährlichen Kokaindosen. Er stellte seine Form der Infiltrationsanästhesie am 11. Juni 1892 im Rahmen des Chirurgenkongresses in Berlin vor, stieß jedoch zunächst auf heftigen Widerstand, weil er sein Eintreten für die Infiltrationsanästhesie mit einer massiven Kritik an der damals auch für kleinere Eingriffe weit verbreiteten Praxis der Inhalationsverfahren verband, was viele chirurgische Kollegen als Affront ansahen. 1902 gelang Heinrich Braun (1862–1934) in Zwickau eine Weiterentwicklung des Schleichschen Verfahrens, indem er der Kokainlösung das vasokonstriktorisch wirksame Adrenalin (Suprarenin) zusetzte. Hierdurch wurde die Resorption des Lokalanästhetikums verlangsamt und die Anästhesiedauer entsprechend verlängert, so dass die erforderliche therapeutische Dosis weiter reduziert werden konnte. Drei Jahre später führte Braun anstelle von Kokain Novokain (Prokain) in Kombination mit Adrenalin zur örtlichen Betäubung ein.

Auch die deutschen Zahnärzte Hans Moral (1885–1933) und Guido Fischer (1877–1959) nahmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblichen Einfluss auf die Etablierung der lokalen Betäubung in der Zahnheilkunde. Sie befassten sich mit den physiologischen und anatomischen Grundlagen sowie mit der klinischen Anwendung der neuen Technik, hielten in vielen europäischen Ländern Fachvorträge zu diesem Themenfeld und bereiteten so der Lokalanästhesie in der Zahnheilkunde den Weg. In den nachfolgenden Jahrzehnten kamen zahlreiche alternative Lokalanästhetika auf den Markt, darunter Lidocain (Xylocain).

Hierbei handelte es sich um das erste Amino-Amidlokalanästhetikum. Es wurde 1943 erstmals synthetisiert, kam 1947 in den Handel und konnte sich insbesondere in der Zahnheilkunde rasch durchsetzen.

###more### ###title### Röntgenologie und bildgebende Verfahren ###title### ###more###

Röntgenologie und bildgebende Verfahren

Als der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923) am 8. November 1895 im Physikalischen Institut der Universität Würzburg die später nach ihm benannten X-Strahlen entdeckte, war sehr schnell klar, welch enorme Tragweite diese Erkenntnis haben würde [Eckart, 2013; Lalanne/Coussement, 1984; Winckelmann/Müller, 2008]. Sie revolutionierte in kürzester Zeit die gesamte medizinische Diagnostik und führte zu weiteren wichtigen Entdeckungen wie etwa der Erforschung der Radioaktivität. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Röntgen bereits sechs Jahre später den ersten Physik-Nobelpreis erhielt.

Schon 1896 wurden die unsichtbaren Strahlen zu einer zentralen diagnostischen Maßnahme: So kam es am 24. Januar 1896 zur ersten öffentlichen Demonstration der Röntgenstrahlen. Röntgens Experimente waren einfach, leicht reproduzierbar und führten in der Folgezeit in großbürgerlichen Kreisen sogar zu sogenannten Röntgenstrahlen-Partys. Viele wollten nun Bilder von eigenen Körperteilen. Erst mit den Jahren gelangte man zu der Erkenntnis, dass die unsichtbaren Strahlen Zellen zerstören und insofern eine gefährliche Wirkung entfalten konnten. Da Röntgen auf eine Patentierung verzichtete, standen die ersten Röntgenapparate bald vielen Patienten zur Verfügung. Wie in nahezu allen medizinischen Fachdisziplinen gehörte die Radiologie auch in der Zahnheilkunde schon bald zum Standard. Die ersten Röntgenaufnahmen von Zähnen fertigten am 2. Februar 1896 der Frankfurter Physiker Walter König und, nur wenige Tage später, der Braunschweiger Zahnarzt (und spätere Präsident des Central-Vereins Deutscher Zahnärzte) Otto Walkhoff (1860–1934) an. Walkhoff brauchte für seine erste Aufnahme eine Expositionszeit von 25 Minuten – und doch war klar, dass diese Technik die zahnärztliche Diagnostik revolutionieren würde. Er entwickelte die zahnmedizinische Röntgendiagnostik kontinuierlich weiter und motivierte die Braunschweiger Ärzteschaft bald zur Etablierung einer zentralen Röntgenstation. Er und weitere Pioniere auf dem Gebiet der zahnärztlichen Radiologie erkannten frühzeitig, dass sich mit Röntgenbildern nicht nur kariöse Läsionen, Entzündungsprozesse und ein Knochenabbau diagnostizieren ließen, sondern auch Fremdkörper sowie Frakturen beziehungsweise Dislokationen.

Um 1900 versuchte man erstmals, innere (Hohl-)Organe durch den Einsatz von Kontrastmitteln wie oral inkorporierten Wismutpasten darzustellen. Damit wurde es möglich, etwa die Motilität von Magen (1898) und Darm (1901) sichtbar zu machen. Auch Röntgen-Durchleuchtungsgeräte gehörten bald zum diagnostischen Bild.

Die nachfolgenden Jahrzehnte waren durch eine sukzessive Verbesserung der Röntgentechnik gekennzeichnet. Neben der Weiterentwicklung der Diagnostik galt der Reduktion der Strahlenbelastung ein besonderes Augenmerk. Spätestens in der Mitte des 20. Jahrhunderts war die Röntgendiagnostik auf nahezu allen Gebieten der klinischen Medizin – so auch in der Zahnheilkunde – unentbehrlich geworden. Heutzutage umfassen die bildgebenden Verfahren in der diagnostischen Radiologie neben der konventionellen oder klassischen Radiografie diverse Schnittbildverfahren: die in den 1970er-Jahren etablierte Röntgen-Computertomografie, die etwa zur gleichen Zeit entwickelte Magnetresonanztomografie, die bereits in den 1940er-Jahren grundgelegte Sonografie sowie diverse Weiterentwicklungen dieser Verfahren. Bei allen vorgenannten Methoden können Kontrastmittel verabreicht werden, um bestimmte Strukturen verbessert darzustellen oder funktionelle Aussagen zu treffen. Vor allem die Computertomografie beziehungsweise die mit ihr verwandte Digitale Volumentomografie (DVT) werden in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde zunehmend häufig eingesetzt. Die mittels vieler Querschnittsbilder erzeugten Schichtaufnahmen und dreidimensionalen Aufnahmen erleichtern Zahnärzten Operations- beziehungsweise Behandlungsplanungen.

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Fazit

Die medizinischen und naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Entwicklungen in den vier vorgenannten Gebieten zeigen beispielhaft, wie stark die Zahnheilkunde nicht nur von spezifischen Innovationen innerhalb des eigenen Faches, sondern gerade auch vom allgemeinen medizinischen Fortschritt profitierte. Die moderne Zahnheilkunde wäre ohne die Prinzipien der Keimarmut, die Bakteriologie und Antibiotikatherapie, die Verfahren der Schmerzausschaltung und die bildgebenden Verfahren schlichtweg nicht denkbar. Gleichzeitig wird deutlich, dass einzelne Zahnmediziner auch an diesen fachübergreifenden Entwicklungen merklichen Anteil hatten – seien es die US-amerikanischen Zahnärzte Horace Wells und William Morton als Entdecker der Lachgas- beziehungsweise der Äthernarkose oder aber deutsche Zahnärzte wie Hans Moral, Guido Fischer und Otto Walkhoff, die als Pioniere der Lokalanästhesie beziehungsweise der Röntgendiagnostik auftraten.

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät und Universitätsklinik der RWTH Aachen E-mail:

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