40 Jahre Mundakupunktur

Therapie Punkt für Punkt

Der Zahnarzt ist in seiner Praxis immer wieder mit Problemfällen konfrontiert, die nicht wie üblich verlaufen. In solchen Fällen erweist sich die Vielseitigkeit und Offenheit des Praktikers für alternative Methoden manchmal als vorteilhaft. Hier wird eines der komplementären Verfahren – die Mundakupunktur – vorgestellt.

Die Methode der Mundakupunktur entstammt nicht der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), sondern zählt zu den, in den letzten 70 Jahren entdeckten, somatotopischen Mikrosystemen (MAPS = Mikro-Aku-Punkt-Systeme) der westlichen Akupunktur.

Ein Rückblick

Angeregt wurde die Mundakupunktur durch die in den 1960er Jahren aufgekommene Elektroakupunktur (EAV). Deren Begründer Reinhold Voll hatte gemeinsam mit dem Zahnarzt Fritz Kramer Wechselbeziehungen zwischen speziellen Zahn-Kiefer-Arealen und den Akupunktur-Meridianen entdeckt und zwar aufgeteilt in fünf Zahn-Gruppen: gleiche Beziehungen zu jeweils Inzisivi, Canini, Prämolaren, Molaren und Weisheitszähnen in jedem der vier Kieferquadranten. Aus dieser Erkenntnis leitete Voll diagnostische Schlüsse ab.

Etwa zeitgleich konnte beobachtet werden, dass es drucksensible Areale am Tuber maxillare gibt. Eine dort gesetzte Lokalanästhesie-Injektion erwies sich als optimale alternative Therapie der Sinusitis. Hierüber wurde bereits im Jahre 1976 auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde anhand von 400 dokumentierten Fällen referiert [Gleditsch, 1979]. Als grundlegend hat sich die Palpation erwiesen, die sich auch auf weitere Mundschleimhaut-Areale ausdehnt. Hierbei ergaben sich häufig streng lokalisierte, oft nur einseitige Druckdolenzen: und zwar bukkal-labial der Zähne, oft verbunden mit geringer aber doch tastbarer Induration des Gewebes. So war es naheliegend, diese Befunde mit den Aussagen der EAV in Verbindung zu bringen und an diesen Stellen eine Therapie mittels Lokalanästhesie anzusetzen.

Damals war unter Ärzten wie Zahnärzten die Heilinjektion weit verbreitet und auch über Jahrzehnte mit den Pflichtkassen abrechenbar. Ebenso wurde damals die Neural- therapie nach Huneke als therapeutische Lokalanästhesie mit ihren möglichen Fernwirkungen von vielen Ärzten praktiziert und in ihrer Wirkung bestätigt (Abbildung 1).

Mundakupunktur als Reflextherapie

Da in der Mundschleimhaut keine Nadeln – wie sonst in der Akupunktur – gesetzt werden können (Aspirationsgefahr), erwies sich die Lokalanästhesie-Injektion als optimale Alternative. Die Bezeichnung ‚Mundakupunktur’ weist auf die erwähnten Wechselbeziehungen vom Zahn-Kiefer-System zu den Akupunktur-Systemen hin – den Meridianen und Funktionskreisen. Die an spezifischen Punkten, beziehungsweise Arealen, gesetzten Injektionen lassen sich auch als Reflextherapie interpretieren.

Während bei der Neuraltherapie und Störfeld-Diagnostik die an ein vermutetes Areal gesetzte Lokalanästhesie-Injektion zu nicht voraussehbaren Fernwirkungen führen kann, ist die an spezifischen Akupunktur-Punkten gezielt angesetzte Therapie in ihrer Fernwirkung gebahnt durch die erwiesenen Beziehungen zu den Meridianen und Funktionskreisen (Abbildung 2). Diese Wechselwirkungen bedingen eine gegenseitige Beeinflussbarkeit: Das Zahn-Areal (Zahn samt Halteapparat und Umgebung) kann Funktionsstörungen innerer Organe signalisieren, was sich zumeist in der circumscripten Druckdolenz der Schleimhaut anzeigt. Umgekehrt kann vom Zahn-Areal ein Störreiz zur korrelierenden inneren Funktion ausgehen. Wie alle funktionellen Wechselwirkungen im Organismus dienen solche gebahnten Reflexe der gegenseitigen Kompensation und sollten nicht sofort als pathologische Befunde gewertet werden [Voll R., 1977 ; Kramer F., 1976].

Auf derartige an der Körperoberfläche auftretende ‚Signale’ hat vor 120 Jahren Henry Head, der Begründer der Neurophysiologie und Entdecker der Segment-Ordnung, hingewiesen: Der Organismus reagiert laut Head als erstes mittels vegetativer Früh- Zeichen. Danach kommt es zu funktionellen Symptomen, speziell an Bindegewebe und Muskulatur. In diesen frühen Stadien – so forderten Head und sein Mitstreiter Mackenzie – sollte die Therapie ansetzen im Sinne der Prävention.

Diese Frühdiagnostik verlangt eine ‚hands-on-Palpation’, an der es in der modernen Medizin mangelt. Head entdeckte mittels Palpation innerhalb der Segmente auffällig drucksensible ‚Maximalpunkte’, die er als viscerocutane Reflexe definierte und dia-gnostisch nutzte. An diesen Orten setzte er seine cutiviscerale Segment-Therapie an [Head H., 1898].

In solcher ‚Innen-Außen-Verschaltung’ wird die Parallele zur Jahrtausende alten Akupunktur offensichtlich, wobei diese in ihren Leitbahnen (‚Meridianen’) – anders als die horizontalen Segmente – eine vertikale Ordnung erkennen lässt. Die weitgehende Übereinstimmung der Head’schen Maximalpunkte mit Akupunktur-Punkten ist in Studien nachgewiesen. Auch in der Tradition der chinesischen Medizin galt die Akupunktur vorrangig der Prävention.

Das Punkt-Phänomen

In 40-jähriger Erfahrungszeit haben sich spezielle Areale der Mundschleimhaut extrem häufig als drucksensibel beobachten lassen: so das erwähnte Gebiet bukkal-distal am Tuber maxillare. Dieses Symptom findet sich bei der Sinusitis, ist aber ebenso häufig Ausdruck einer Dysfunktion, einer Tension des lateralen Pterygoid-Muskels. Eine hier ansetzende Injektions-Therapie hat einen spasmolytischen Effekt auf diesen wichtigsten Kaumuskel.

Die an druckschmerzhaften Punkten gezielt anzusetzende Injektion erfolgt erfahrungsgemäß am besten mittels eines schwach-prozentigen Lokalanästhetikums (wie Procain 0,5 Prozent ohne Vasokonstriktor!). Die anschließende palpative Kontrolle verrät, ob noch drucksensible Stellen verblieben sind und nachtherapiert werden sollten. Es gilt dabei, in dem Areal eine völlige Schmerzfreiheit zu erreichen. Bei tiefer Injektion mit hochprozentiger Lokalanästhesie ist die weite Umgebung analgesiert und erlaubt keinen Rückschluss auf persistierende Punkt-Signale. Diese Beobachtung belegt die Bedeutung des Punkt-Phänomens: Es geht nicht um die Analgesie des Areals, sondern um das ‚Stumm-Werden’ der punktuell auftretenden Signalmeldungen [Gleditsch JM, 2005].

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Very-Point-Technik

Die Punkt-Erfahrung hat zur Very-Point-Technik geführt; denn palpativ lässt sich allenfalls ein Areal beurteilen. Der sensibelste Punkt ist eher mit einem feinen Kugel- stopfer auffindbar; oder – wie in der Mundhöhle bewährt – mittels der Nadel selbst als ‚Detektor’: Diese gleitet sanft tangential über das vermutete Areal ohne zu traumatisieren. Am ‚Very-Point’ reagiert der Patient unweigerlich mimisch und/oder verbal: So wird der Punkt exakt geortet mit Hilfe des spontan reagierenden und affirmierenden Patienten, der zum Partner in der Therapie wird [Gleditsch JM, Behrens N, 1996].

Die Very-Point-Technik hat sich speziell bei den Mikrosystemen bewährt – so bei der Ohr-, Schädel- und Mund-Akupunktur. Bei den MAPS gilt – anders als bei der TCM – die ‚ON/OFF’-Regel: Die Punkte treten reaktiv auf und verstummen, wenn die mit dem Punkt korrelierende Funktionsstörung behoben ist. Allerdings bleiben solche reaktiven Signale bei destruktiven Prozessen – so auch bei Tumoren – aus.

Die Somatotopien können als Mini-Funktionsbilder des Organismus angesehen werden: als Repräsentation des Ganzen auf umgrenztem Gebiet ebenso wie der Homunkulus auf den Hirnrindenfeldern. Aus der modernen Physik, speziell der Fraktale, sind solche Phänomene der Selbstspiegelung bekannt als Ausdruck der Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und dessen Teil- aspekten (Abbildung 3). Diese Parallelen ebenso wie die klinischen Erfahrungen geben den funktionellen beziehungsweise reflektorischen Therapien eine kybernetisch-informative Prägung.

Bedeutung des Retromolargebiets

Nicht nur im Bereich der Tuber, sondern im gesamten Ober-Unterkiefer-Retromolargebiet finden sich Punkte mit breiter therapeutischer Wirkung. Diese erklärt sich aus der von japanischen Forschern nachgewiesenen direkten nervalen Verbindung der Region am Arcus palatinus und der Plica pterygomandibularis (zwischen oberem und unterem Weisheitszahn) zum Grenzstrang des Sympathikus, und zwar dem Ganglion zervikale kraniale, zuständig für die autonome Regulation im Kopf-Halsbereich [Oyagei S et al., 1989]. Darüber hinaus weisen die über Jahrzehnte dokumentierten Effekte hin auf eine Regulation der HWS, speziell auf Atlas und Axis, sowie auf das hier befindliche Nackenrezeptorenfeld. Diese Rezeptor-Zentrale weist 100 mal mehr Rezeptoren – vor allem Propriozeptoren – als andere Körper- regionen auf. Hier wird auf der Ebene einer verdichteten Leibwahrnehmung die optimale Augen-Ebene wie auch die Rumpf-Kopf-Stellung reguliert, vermutlich mit Rückwirkung auf die in der gleichen Etage agierenden Kiefergelenke [Gleditsch JM. , 2001].

Die Unterkiefer-Retromolarregion lässt sich allerdings nicht palpativ in Bezug auf Druckdolenzen beurteilen. Hier ist der feine Kugelstopfer nötig oder die Nadel-Detektion (Very-Point-Technik). Von Punkten lingual-distal der unteren Weisheitszähne – dem sogenannten Neuner-Gebiet – können ferner Anteile des medialen Pterygoid-Muskels erreicht und relaxiert werden. In der Therapie der craniomandibulären Dysfunktion (CMD) haben sich die Retromolar-Punkte des Ober- und Unterkiefers zur Entspannung der Pterygoid-Muskeln bewährt, zumal die zumeist mit betroffene HWS ebenfalls angesprochen wird. Als optimal hat sich die Kombination von Mund-, Ohr- und Handpunkten erwiesen in der Initial-Therapie der CMD [Simma I et al., 2009; Schmid-Schwab M et al., 2005]. Auch die weltweit häufigste Kopfschmerzform, der Spannungskopfschmerz, spricht oft gut auf die mittels enoraler Punkte mögliche Relaxation der inneren Kopfmuskeln samt der Hals- Nackenmuskulatur an (Abbildung 4).

Lymphbelt und extraorale Punkte

Erfahrungsgemäß treten meist gleichzeitig mit einem drucksensiblen Schleimhautareal an den unteren Prämolaren druckdolente Punkte ipsilateral am Lymphbelt auf. Der Lymphbelt erstreckt sich ventral unter den Klavikeln und dorsal in Höhe des 6. bis 7. Halswirbels. Diese Kette lymph-bezogener Reaktionspunkte (1981 beim HNO-Weltkongress vorgestellt) hat keine Beziehung zur Akupunktur und folgt eher der Segment-Ordnung [Hieber G., 2009]. Auch hier ist die Palpation wegweisend. Therapie solcher druckdolenten Punkte unter der Klavikel – mittels Nadel oder Lokalanästhesie – hebt zumeist die lokale Verquellung bukkal der unteren Prämolaren auf – und umgekehrt. Bei Kindern mit deutlichem Lymphstau, wie sie der Kieferorthopäde täglich vor sich hat, vermag eine Laser-Therapie am Lymphbelt das schwächelnde Kind zu stabilisieren.´Der häufigst drucksensible Punkt findet sich am Sternum (drei bis vier Fingerbreiten unterhalb des Oberrandes). Dieser Punkt des Lymphbelts ist für den Zahnarzt von Bedeutung: Eine hier ansetzende Druckmassage verbessert sofort die Kopf-Reklination infolge der reflektorischen Wirkung auf die ventrale Halsmuskulatur (M. biventer, Zungenbein-Muskeln, Platysma) (Abbildung 5). Die damit erzielte Lockerung auch des Mundbodens kann hilfreich sein vor Abdrucknahme für eine untere Totalprothese. Dieser Punkt hat ferner eine Bedeutung für das Immun- system: retrosternal befindet sich hier die Thymusdrüse.

Es hat sich gezeigt, dass die enoralen Punkte, speziell vor den Inzisivi, Canini und Prämolaren, sich auch extraoral detektieren lassen, und zwar an der Durchstichstelle von innen nach außen, oder von außen nach innen(Abbildung 6). Dies entspricht der Erfahrung der Ohrakupunktur, bei welcher Punkte der Ohr-Vorder- und Ohr-Rückseite (am Durchstich!) dieselbe Indikation aufweisen.

Für den Zahnarzt bedeutsame Punkte finden sich auf den Mittellinien-Meridianen extra- oral im Lippenbereich: so der Punkt im Kinngrübchen mit Sofortwirkung auf den Würgereiz, ebenso zwischen Oberlippe und Nasenboden der Punkt mit Soforteffekt beim Kollaps. Stimulation dieses Punktes bewirkt – wie in einer Studie nachgewiesen – die Unterbrechung von beginnenden epileptischen Anfällen bei Kindern, was auf eine zentrale Wirkung schließen lässt (Abbildung 7).

Die beschriebenen Fernwirkungen über spezielle Punkte sind über systemische Vernetzungen zu erklären, wie sie der Akupunktur zugrunde liegen. Wesentlich ist aber auch der Effekt des Lokalanästhetikums selbst. In den letzten Jahren ist die entzündungshemmende Wirkung speziell des Procains nachgewiesen worden.

###more### ###title### Schmerztherapie auch kontralateral ###title### ###more###

Schmerztherapie auch kontralateral

Das mag die mögliche Beeinflussung einer – meist durch Überhitzung ausgelösten – Pulpitis begründen, sofern an dem zugehörigen, mitreagierenden Schleimhautpunkt eine „Heil-Injektion“ gesetzt wird. Die Wirksamkeit dieser Maßnahme – Reduktion der Hyperämie und Entlastung der Pulpa – wird begünstigt durch möglichst exaktes Treffen von sensibilisierten enoralen wie auch extraoralen Mit-Reaktionspunkten [Gleditsch JM., 2014].

Gleiches Vorgehen hat sich bei der postoperativen Situation bewährt: Der lokale Schmerz lässt sich oftmals durch Injektion von wenigen Tropfen eines schwachprozentigen Lokalanalgetikums, präzise am Reaktionspunkt gesetzt, nachhaltig reduzieren. Bei stärkerer Schwellung empfiehlt sich die kontralaterale Therapie: Exakt symmetrisch zum ipsilateralen Areal lässt sich oft kontralateral ein Mit-Reaktionspunkt detektieren, am besten mittels Very-Point-Technik. Wie gesagt, gelten die gleichen funktionellen Akupunktur-Wechselbeziehungen der fünf Zahngruppen in allen vier Kieferquadranten, was die Wirksamkeit der Symmetrie- und Gegenkiefer-Therapie erklärt [Gleditsch JM., 2014].

Bekanntlich ist auch bei der Trigeminus-Neuralgie anfangs nur die Therapie über Kontralateral-Punkte verantwortbar und zumutbar. Bewährt hat sich – auch bei orofazialen Schmerzzuständen – eine „Umkreisungs-Therapie“ mittels Nadelung, Injektion, beziehungsweise Softlaser- Einstrahlung: anfangs nur kontralateral im Gesicht, wie auch enoral, und erst nach Ansprechen der Therapie ipsilateral, allerdings hier erst nur retromolar (Abbildung 8).

Zusammenfassung und Ausblick

Diese Darstellung der Mundakupunktur möge den Zahnarzt zu komplementären Möglichkeiten anregen, speziell zur Lösung der die tägliche Routine belastenden Problemfälle. Bei diesen hält die Methode – auch wenn sie keine Wunder herbeiführen kann – viele sinnvolle Maßnahmen bereit. Allerdings sind fachgerechte Ausbildung und Supervision erforderlich. Mit zunehmender Erfahrung wird der Zahnarzt inspiriert und auch zu weiterführenden Konzepten ermutigt.

Dr. med. Jochen GleditschHetzendorfer Straße 92 A/2/1, 1120 Wien, E-mail:

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