IQWiG-Vorbericht zu Parodontitistherapie

Das ist eine Gefahr für die Zahnmedizin

Der Auftrag ist klar umrissen: Das IQWiG soll die systematische Behandlung der Parodontopathien überprüfen. Das Institut legt los, sucht und findet 6.004 wissenschaftliche Arbeiten. 573 davon sind potenziell relevant. Doch nur 43 Publikationen zu 35 Studien genügen seinen strengen Kriterien. Das hat Folgen. Warum? Weil mangels Evidenz der Parodontitistherapie der Nutzen abgesprochen wird.

Wie kommt es, dass ein etabliertes und renommiertes wissenschaftliches Institut sich so verrennt? Das Problem ist vielschichtig und die Folgen sind beunruhigend.

Zunächst einmal zur Methodik des IQWiG: Diese wurde über Jahre hinweg entwickelt und an der Bewertung medikamentöser Arzneimittelverfahren geschärft und gehärtet. Die dort üblichen Studiendesigns mit Randomisierung, Verblindung und Kontrollgruppen, die ein Placebo bekommen, sind für die sogenannten nicht-medikamentösen Verfahren nicht eins zu eins zu übertragen. Fehlt aber einer dieser Parameter, so wird die höchste Evidenzstufe formal nicht erreicht. Deshalb tragen die Studien aus den eher praktisch-operativ arbeitenden medizinischen Disziplinen wie auch der Zahnmedizin systemimmanent den Makel in sich, nur eine geringeres Evidenzniveau aufweisen zu können. Das weiß eigentlich auch das IQWiG und führt dazu in seinem Methodenpapier aus: „Studien im nichtmedikamentösen Bereich sind im Vergleich zu Arzneimittelstudien häufig mit besonderen Herausforderungen und Schwierigkeiten verbunden. Beispielsweise wird oft die Verblindung des die Intervention ausführenden Personals unmöglich und die der Patientinnen und Patienten nur schwierig oder ebenfalls nicht zu bewerkstelligen sein. [...] Um überhaupt Aussagen zum Stellenwert einer bestimmten nichtmedikamentösen therapeutischen Intervention treffen zu können, kann es deshalb erforderlich sein, auch nicht randomisierte Studien in die Bewertung einzubeziehen.“ [IQWiG, Allg. Methoden 4.2, Kap. 3.4]

Kritische Methodik

Leider wird die eigene Verfahrensvorgabe nicht umgesetzt und gelebt. Vielmehr legt das IQWiG an alle Studien zu Fragestellungen der systematischen Parodontitistherapie die hohe Messlatte der Pharmastudien an. Ohne Abstriche. Diese Fehlkalibrierung der Messskala führt dazu, dass im nun vorgelegten Vorbericht nur zwei Therapieverfahren ein geringer Nutzen zugesprochen werden kann. Mit anderen Worten: Es gibt einen schwachen „Anhaltspunkt“ dafür, dass die geschlossene mechanische Therapie (GMT) eine Gingivitis positiv beeinflusst. Auf den Endpunkt Attachmentlevel bezogen konnte für die GMT kein Nutzen nachgewiesen werden.

Überhaupt keinen Nutzenbeleg, nicht einmal einen schwachen Anhaltspunkt, konnte das IQWiG für die chirurgische Parodontitistherapie aufzeigen. Modifizierte Widman-OP, chirurgische Taschenelimination, Osteoplastik – allesamt sinn- und nutzlos? Oder sogar schädlich? Ebenso wurde für die meisten übrigen untersuchten Interventionen (u. a. systemische/lokale Antibiose, Lasertherapie, photodynamische Therapie) kein Anhaltspunkt für einen Nutzen gefunden. Lediglich eine besondere Form der Mundhygieneinstruktion, die den Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie folgt und für die eine psychologische Expertise erforderlich ist (ITOHEP-Verfahren), konnte mit einem – ebenfalls schwachen – Nutzennachweis in Form eines „Anhaltspunktes“ belegt werden.

Völlig unverständlich ist, dass die strukturierte Nachsorge (UPT) aufgrund „fehlender“ Primärstudien ebenfalls ohne einen Anhaltspunkt für einen Nutzen blieb. Der Grund für dieses unfassbare Ergebnis ist ein  übersteigertes Sicherheitsbedürfnis des IQWiG. Nach der Strategie „lieber Gürtel und Hosenträger“ wird versucht, methodische Unschärfen zu minimieren. Und wenn das nicht geht, dann fällt die entsprechende Publikation gänzlich aus der Betrachtung heraus. Sie findet keine Berücksichtigung und die hierin nachgewiesenen Effekte zu verschiedenen Interventionen fließen nicht in die Bewertung ein.

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Unsicherheit minimieren oder Studien eliminieren

Fast schon vermessen ist die Begründung für den Ausschluss der international recherchierten Studien, die nicht der höchsten Evidenzstufe entsprechen, also keine randomisiert kontrollierten Studien (RCTs) sind. Für das IQWiG sind RCTs zu den Fragestellungen (theoretisch) möglich und durchführbar. Damit wird ein Grundprinzip der evidenzbasierten Medizin ausgehebelt. Nicht die „bestverfügbare“, sondern die theoretisch „bestmögliche“ Evidenz soll betrachtet werden. Offen bleibt auch, ob das vom IQWiG eingeforderte RCT aus ethischen Gründen heraus überhaupt realisierbar erscheint. Der Kontrollgruppe eine nachgewiesenermaßen nützliche Intervention vorzuenthalten, ist zumindest zu hinterfragen. Vermessen auch deshalb, weil sich damit das IQWiG dazu aufschwingt, indirekt die Kriterien für wissenschaftliche Studien vorzugeben. Machen andere Organisationen, beispielsweise die Cochrane Collaboration, es nicht bereits gut genug?

Die Folgen sind weitreichend: Zum einen wird mit dieser Methodik die gesamte wissenschaftliche Hinterlegung der Zahnheilkunde negiert und eliminiert, so dass die meisten zahnmedizinischen Verfahren ohne Nutzennachweis bleiben müssen. Die erbetene Antwort auf die Frage „Ist Therapieverfahren A besser oder schlechter als Therapieverfahren B?“ bleibt aus. Der eigentliche Zweck des Berichts, eine evidenzbasierte Entscheidunggrundlage für das System bereitzustellen, wird verfehlt.

Zum anderen kommen andere internationale Fachgesellschaften und Organisationen auf Basis derselben weltweiten Studien zu anderen Schlussfolgerungen für den Nutzen einer Intervention und der Anwendung im jeweiligen Gesundheitssystem.

Exemplarisch sei hier auf die Stellungnahmen der American Academy of Periodontology (AAP) verwiesen. Die hier getroffenen Empfehlungen zur ergänzenden systemischen Antibiotikagabe und die Bedeutung der unterstützenden mechanischen Nachsorgetherapie (UPT) werden im IQWiG-Vorbericht nicht nachvollzogen, weil keine Primärstudien vorlagen, die den strengen Einschlusskriterien des IQWiG genügen. Nonchalant wird die internationale Fachexpertise für bedeutungslos erklärt.

Erhebliche Konsequenzen hat auch die nächste Auswahlstufe: die statistische Auswertung. Mit den Prinzipien der medizinischen Statistik und der Biometrie werden die Daten und Ergebnisse aus den (wenigen) Studien – die die Gnade des IQWiG im ersten Schritt der Evidenzbewertung gefunden haben – geprüft. Hierbei werden Effektmaße wie die Odds-Ratio oder Hedges‘g verwendet. Für solche Berechnungen sind aber noch über die eigentlichen Studiendaten hinaus weitere Parameter erforderlich. Fehlen diese – von den internationalen Organisationen wie Consort für ordentliche Studien auch überhaupt nicht geforderten – Angaben, dann – man wird es schon ahnen – können die Ergebnisse dieser Studie ebenfalls nicht für die Nutzenbewertung verwendet werden.

###more### ###title### Mathematische Modelle statt klinische Expertise ###title### ###more###

Mathematische Modelle statt klinische Expertise

Und zum Schluss erfolgt der schwierigste Schritt: die Bewertung der Ergebnisse in Hinblick auf die klinische Relevanz. Bei dieser Interpretation der aus den Studien extrahierten Daten wird nicht etwa auf die Expertise der klinischen Fachleute aus dem Bereich der Parodontologie zurückgegriffen.

Nein, hochkomplexe mathematische Modelle, die Begriffe wie „Irrelevanzschwelle“ oder „Responderanalyse“ operationalisieren, kommen zum Einsatz. In den wissenschaftlichen Grundlagen – dem Methodenpapier – wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es hierfür noch kein gesichertes Verfahren gibt [IQWiG, Allg. Methoden 4.2, Kap. 8.3.3]. Das heißt, der Grenzwert, die Schwelle, die rein mathematisch zwischen Nutzen und Schaden entscheidet, ist nicht klar definiert. Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Grenze, die normalerweise bei „0“ liegt, vom IQWiG noch mit einer Sicherheitsmarge von „0,2“ versehen wird. Die Messlatte, über die die Ergebnisse der Studien springen müssen, wird mal eben etwas nach oben verschoben.

Einen Lichtblick gibt es: Das IQWiG hat zeitgleich zur Nutzenbewertung noch einen zweiten Bericht veröffentlicht. Das Arbeitspapier „Präferenzmessung bei Parodontopathien“ ist eine Eigenbeauftragung des IQWiG für seine Grundlagenforschung. Dabei geht es um die Frage, wie Patienten unterschiedliche Behandlungsziele gewichten. Exemplarisch für die Attribute zur Parodontitistherapie wurden innerhalb von drei Monaten Patienten nach ihren Präferenzen zu „Zahnverlust“, „Beschwerdefreiheit“, „Anzahl von Kontrolluntersuchungen“ und „Kosten“ befragt. Das Ergebnis ist eindeutig: Für die Patienten hat der Zahnerhalt höchste Priorität.

Nun ist der Bericht des IQWiG aber kein Selbstzweck, der in der wissenschaftlichen methodischen Diskussion mit anderen Institutionen bestehen muss. Es geht auch nicht um einen Wettlauf darum, wer die stringentesten Einschlusskriterien für Studien und den spitzesten Bleistift bei der statistischen Auswertung hat. Nein, der Sinn und Zweck dieses Berichts ist klar umrissen und im eigenen Methodenpapier des IQWiG dargelegt:

„Die Berichte des Instituts sollen dem G-BA als eine Grundlage für Entscheidungen dienen, die im Grundsatz für alle gesetzlich Krankenversicherten gelten.“ [IQWiG, Allg. Methoden 4.2, Kap. 1.4].

Hier zeigt sich, welche Sprengkraft der IQWiG-Vorbericht haben kann: Hinter dem 257- Seiten starken Dokument steht der Wunsch der Patientenvertreter, die Behandlung von parodontalen Erkrankungen im Rahmen der GKV methodisch neu zu bewerten. Dazu gehört auch die organisierte Nachsorge als integraler Bestandteil einer erfolgreichen Parodontitistherapie. Die KZBV stützt dieses Anliegen ausdrücklich und arbeitet an einem Versorgungskonzept zur Modernisierung der Parodontitistherapie in der GKV.

Der Vorbericht des IQWiG soll dem G-BA nun als Grundlage dienen, über eine Aktualisierung der Behandlungsrichtlinien im Bereich der Parodontologie zu beraten. Eine wissenschaftliche Expertise, die keine klaren Aussagen trifft, dürfte als Entscheidungsgrundlage jedoch ungeeignet sein. Ein Lichtblick: Der G-BA ist nicht an den IQWiG-Bericht gebunden.

Es besteht jedoch ein erhebliches Risiko für die seit Jahrzehnten gewachsenen und weiterentwickelten Methoden der modernen Zahnheilkunde. Wenn schon der Bereich der Parodontologie, der gut erforscht und mit Studien belegt ist, Gefahr läuft, fast jeglichen Nutzen vom IQWiG abgesprochen zu bekommen, wie würde dann eine Nutzenbewertung in anderen Teildisziplinen ablaufen? Einen Vorgeschmack darauf hat das IQWiG auch bereits geliefert. Im Vorbericht „Isoliert applizierte Fluoridlacke bei initialer Läsion des Milchzahnes“ zur Überprüfung der therapeutischen Fluoridierung hat das IQWiG keinen Nutzenbeleg für die Wirksamkeit einer Fluoridierung von initialen Kariesläsionen finden können, da keine geeigneten Studien in Form von RCTs gefunden werden konnten. Das Risiko ist äußerst real, dass nahezu der gesamten Zahnheilkunde der Nutzen mit der Methodik des IQWiG aberkannt werden könnte. Dies dürfen und können wir nicht zulassen.

„Wir wissen, dass wir nichts wissen. Aber das wissen wir mit Sicherheit ganz genau.“ Diese Quintessenz aus dem Vorbericht ist unbefriedigend und eindeutig ohne (System-)Nutzen. Bis zum 21. Februar 2017, 12 Uhr mittags, nimmt das Institut Stellungnahmen zum Vorbericht entgegen.

Dr. Jörg Beck MHA, Leiter der Abteilung Qualitätsinstitut, Leitlinien Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung

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