Leitlinie instrumentelle zahnärztliche Funktionsanalyse – Teil 4

Oberflächen-Elektromyographie der Kaumuskulatur

Alfons Hugger
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Die ersten drei Abschnitte der Leitlinie zur instrumentellen zahnärztlichen Funktionsanalyse waren den Themen Bewegungsanalyse, Kondylenpositionsanalyse sowie dem Stützstift-Registrat gewidmet. Dieser vierte und abschließende Teil der Leitlinie beschäftigt sich der Elektromyographie der Kaumuskulatur.

Die Methode zur Ableitung bioelektrischer Signale der Muskulatur wird als Elektromyographie (EMG) bezeichnet. Die Aufnahme der Signale kann mittels auf der Haut angebrachter Oberflächenelektroden oder unter Verwendung von Nadel- oder Drahtelektroden, die direkt in den Muskel eingestochen werden, durchgeführt werden. Die Ableitung der Signale erfolgt für gewöhnlich in uni- oder bipolarer Form [Schindler/Hugger, 2006]. Das Elektromyogramm gestattet die Beurteilung der Innervation von motorischen Einheiten und Muskelgruppen, da die Stärke der Muskelkontraktion von der Zahl der innervierten Muskelfasern und der Anzahl der Aktionspotenziale pro Zeiteinheit abhängt. Die aufgezeichneten Aktionspotenziale spiegeln die neuromuskuläre Erregung der untersuchten Muskulatur wider und sind ein indirektes Maß für die mechanische Aktivität des Muskels [Hugger et al., 2008]. Die Elektromyographie liefert Informationen anhand metrischer Daten über die Funktion der Aktivität einzelner Muskeln. Sie registriert zeitabhängige intra- oder intermuskuläre Aktivierungsmuster und gibt Hinweis auf die zugrundeliegenden zentralen Kontrollmechanismen [Freiwald et al., 2007].

Das mithilfe bipolarer Oberflächenelektroden gemessene Elektromyogramm ist die am häufigsten angewandte Technik der Elektromyographie, da sie schnell und atraumatisch angewandt werden kann und zuverlässige, weitgehend reproduzierbare Ergebnisse liefert. Bei Ableitungen der Kaumuskulatur für die zahnärztliche Funktionsanalyse ist diese nicht-invasive Technik Mittel der Wahl, da die aus klinischer Sicht wichtigsten Muskeln – M. masseter und M. temporalis – relativ oberflächlich liegen.

Ziele und Verfahrensbewertung

Im Rahmen der zahnärztlichen Tätigkeit ist die Anwendung der Oberflächen-EMG mit bipolaren Hautelektroden im Bereich des M. masseter und des M. temporalis anterior relativ unproblematisch durchführbar.

Auf der Basis einer fundierten klinischen Funktionsdiagnostik und unter Beachtung spezieller methodischer Empfehlungen [Konrad, 2005; Hermens et al., 2000; Hermens et al., 1999] ermöglicht die Oberflächen-Elektromyographie (EMG) die zusätzliche Ermittlung valider und reliabler quantitativer Daten zum Funktionszustand einzelner Kaumuskeln im Sinne einer „neuromuskulären Funktionsanalyse“ [Hugger et al., 2008]. Aussagekräftige EMG-Daten können im Zusammenhang mit den Parametern Ruheaktivität, maximale Muskelaktivierung, Frequenzspektrum bei anhaltender Belastung und Symmetrie des Kontraktionsverhaltens beider Kieferseiten gewonnen werden (Abbildungen 1 bis 3) [Hugger et al., 2013a, 2012].

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Nutzen

EMG in der zahnärztlichen Prothetik

: Bei der Beurteilung der funktionellen Wertigkeit rekonstruktiver Maßnahmen werden klassischerweise die technische Ausführung und die Zufriedenheit des Patienten betrachtet. Die Einbeziehung der EMG liefert hierzu zusätzlich ergänzende, neuromuskuläre Aspekte berücksichtigende Informationen. Der Einsatz von EMG-Ableitungen im klinischen Alltag kann beispielsweise zum Vergleich erfolgen, um das neuromuskuläre Balanceverhalten in Interkuspidation vor und nach restaurativer Versorgung oder bei Korrektur der Okklusion nach Inkorporation von Zahnersatz zu überprüfen. Studien geben Hinweise darauf, dass sich Symmetrieunterschiede im Rekrutierungsverhalten der Muskulatur, ausgelöst durch okklusale Niveauunterschiede, am individuellen Patienten darstellen lassen [Hugger et al., 2013b, 2013c].

EMG in der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik und -therapie:

Das neuromuskuläre System reagiert auf Schmerzen mit reproduzierbaren, elektromyographisch erfassbaren Veränderungen [Obrez/Türp, 1998]. Die Oberflächen-Elektromyographie ist jedoch kein direktes Verfahren zur Objektivierung von Schmerzen [Hugger et al., 2013a].

Die für die klinische Beurteilung wichtigsten Abweichungen sind bei (maximaler) Kontraktion der Muskulatur, in der Ruheaktivität und beim Frequenzspektrum unter Belastung zu finden. Ferner wird über Symmetrieunterschiede im Kontraktionsverhalten der Muskulatur berichtet [Hugger et al., 2013a; Hugger et al., 2012].

Aus EMG-Ableitungen sind folgende ergänzende Informationen ableitbar:

• Erhöhte Erschöpfbarkeit als Indikator für das Ausmaß der individuellen Muskelläsion

• Minderung der Kontraktionsfähigkeit als Indikator für das Ausmaß der individuellen Muskelläsion

• Erhöhte Ruheaktivität als Hinweis auf Kiefergelenkläsionen, klinisch nicht manifeste Muskelläsionen, Stressfaktoren oder hypervigilante Disposition des Patienten

• Darstellung der Veränderung des Rekrutierungsmusters der Muskulatur bei okklusaler Modifikation von Okklusionsschienen (Veränderung der maximalen Kontraktionsfähigkeit, Veränderung des Rechts-Links- Balanceverhaltens) als Indikator für therapeutisch wirksame Effekte und zur Verlaufskontrolle.

Der klinische Einsatz der Elektromyographie setzt spezifische Kenntnisse des Verfahrens voraus, das – wie andere kinematische Verfahren im zahnärztlichen Bereich – immer im Kontext einer eingehenden Anamnese und klinischen Funktionsdiagnostik zu sehen ist.

Nachbemerkung der Autoren:

Mit der vorliegenden Leitlinie ist für die vier behandelten Verfahren der instrumentellen Funktionsanalyse der wissenschaftliche Stand beschrieben. Mit der Entwicklung und Veröffentlichung der Leitlinie schließen die DGFDT sowie alle anderen beteiligten Fachgesellschaften und Körperschaften eine zu lange bestehende Lücke. Wie wichtig derartige Leitlinien sind zeigte sich im Jahre 2010, als auf Veranlassung des DIMDI ein Health Technology Assessment HTA veröffentlicht wurde. Dessen Thema sollte ein Vergleich zwischen der klinischen Funktionsanalyse sowie der instrumentellen Funktionsanalyse sein. Trotz der Unterrichtung des DIMDI, dass bereits die Fragestellung im Ansatz falsch war und daher das HTA zu keinen sinnvollen Ergebnissen führen konnte, wurde der Bericht erstellt – ohne Beteiligung von Zahnärzten – und als HTA 101 veröffentlicht [Tinnemann et al., 2010]. Da aufgrund der fehlerhaften Fragestellung keine passende Literatur gefunden wurde, schlussfolgerten die Autoren des HTA fälschlicherweise, dass es der zahnärztlichen instrumentellen Funktionsanalyse an wissenschaftlicher Untermauerung fehle. Die DGFDT hatte bereits kurzfristig nach der Publikation des Berichts eine Korrektur veröffentlicht [Hugger et al., 2011] und auf die deutlichen Schwachpunkte der HTA-Recherche hingewiesen. Nach der Veröffentlichung dieser Leitlinie sollten derartige methodische „Versehen“ künftig hoffentlich nicht mehr vorkommen. Es versteht sich, soll hier aber noch einmal ausdrücklich betont werden, dass die Leitlinie ohne wirtschaftliche Unterstützung der medizinischen Industrie erstellt wurde.

Die Autoren hoffen, dass die Leitlinie den Zahnärztinnen und Zahnärzten hilft, den Stellenwert der zahnärztlichen instrumentellen Funktionsanalyse als wertvoller Ergänzung der klinischen Funktionsanalyse und anderer Verfahren korrekt einzuschätzen und sie entsprechend sinnvoll und zum Wohle der Patienten einzusetzen.

Die Autoren dieser Kurzfassung der Leitlinie danken den übrigen an der Erstellung der zugrunde liegenden Leitlinie beteiligten Co-Autoren (in alphabetischer Reihenfolge): Klaus Bartsch (VDZI), ZA Jochen Feyen (DGÄZ), Dr. Gunnar Frahn (DAZ), Sylvia Gabel (VMF), Prof. Dr. Bernd Kordaß (DGCZ), Dr. Birgit Lange-Lentz (KZBV), Prof. Dr. Dr. Andreas Neff (DGMKG), Prof. Dr. Peter Ottl (DGPro), Dr. Diether Reusch (DGÄZ), Prof. Dr. Olaf Winzen (BZÄK), Priv.-Doz. Dr. Anne Wolowski (AKPP) für deren sehr engagierte, kritische und zugleich konstruktive Mitwirkung sowie Dr. Silke Auras (DGZMK, Leitlinienbeauftragte) und Dr. Cathleen Muche-Borowski (AWMF) für deren methodische Begleitung und Unterstützung.

Die Leitlinie ist im Original auf der Website der AWMF veröffentlicht.

Prof. Dr. Alfons HuggerPoliklinik für Zahnärztliche Prothetik, Universitätsklinikum DüsseldorfMoorenstr. 5, 40225 Düsseldorf

Prof. Dr. Karl-Heinz UtzKäferweg 1, 53639 Königswinter-Stieldorf

Dr. Wolf-Dieter SeeherSüdliche Auffahrtsallee 64, 80639 München

PD Dr. M. Oliver AhlersPoliklinik für Zahnärztliche Prothetik, Zentrum ZMKUniversitätsklinikum Hamburg-EppendorfMartinistr. 52, 20251 Hamburg

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