Brüssels neue Medizinprodukteverordnung

Sind Nanomaterialien gefährlich?

Die Diskussionen sind beendet, Kompromisse gefunden, Entwürfe überarbeitet – nach jahrelangen Verhandlungen in Brüssel kann die neue europäische Medizinprodukteverordnung endlich in Kraft treten. Endlich? Weder der Verband der Deutschen Dental-Industrie noch die Bundezahnärztekammer brechen in Jubelgeschrei aus.

Stellen wir das Fazit an den Anfang. Zusammenfassend kann man sagen: In Deutschland liegt die Messlatte zur Zulassung und Überwachung von Medizinprodukten hoch. Durch die neue europäische Medizinprodukteverordnung, kurz MDR (engl. Medical Device Regulation), werden jetzt wichtige Elemente aus deutschem Recht auch auf europäischer Ebene eingeführt. Für deutsche Hersteller dentaler Medizinprodukte wird sich vermutlich erst einmal gar nicht so viel ändern – geschweige denn für den Zahnarzt, der von der Verordnung quasi gar nicht betroffen ist. Und doch rumort es in der Branche. Warum?

„Die Umsetzung der MDR wird eine nicht unerhebliche Zahl an neuen Aufgaben, die zur Belastung werden können, für die Hersteller mit sich bringen“, sagt Gregor Stock, Leiter des Referats Technik und Recht beim Verband der Deutschen Dental-Industrie (VDDI), und meint damit: Die Bürokratie wird selbstverständlich zunehmen – wie so oft, wenn Verordnungen aus Brüssel kommen.

Fast fünf Jahre ist es her, dass die EU-Kommission ihren Entwurf für die neue MDR veröffentlichte. Dann starteten die Verhandlungen mit Parlament und Rat. Das Parlament gelangte recht schnell zu einem Ergebnis. Mit über 600 Änderungsanträgen stimmte es im April 2014 in erster Lesung zu. „Der Europäische Rat hat dagegen länger gebraucht“, weiß Stock, „was sicherlich auch daran liegt, dass die Interessen von 28 Mitgliedstaaten berücksichtigt werden mussten.“ Erst Mitte 2016 hat er seine Textfassung vorgelegt. Danach folgten noch die Verhandlungen im sogenannten Trilog zwischen allen drei EU-Gremien, die im Oktober 2016 mit der Vorlage der konsolidierten Fassung beendet wurden.

„Sichere Produkte werden nicht noch sicherer“

Dieser konsolidierte Entwurf, den Stock nun durchgearbeitet hat, ist über 600 Seiten lang. Seine Einschätzung: „Es ist eindeutig festzustellen, dass es in allen Bereichen der neuen MDR im Vergleich zur noch aktuellen Medizinprodukterichtlinie höhere Anforderungen an die Hersteller geben wird.“ Und: „Dies betrifft vor allem eine deutlich höhere Nachweis- und Dokumentationspflicht, hinsichtlich der technischen Berichte, der klinischen Bewertungen oder auch hinsichtlich der Verfolgung und Beobachtung der Produkte, die schon im Markt sind.“

Per se sei das nicht schlimm, die Frage, die sich Stock stellt, ist aber, ob dieser Aufwand wirklich begründet ist. Dem klaren „Nein!“ folgt: „Das wäre der Fall, wenn die Sicherheit der Produkte und die Sicherheit der Patienten aufgrund dieser Maßnahmen verbessert würden“, sagt Stock, „es ist unbestritten, dass nach dem Skandal um minderwertige Brustimplantate eines französischen Herstellers ein Handeln des Gesetzgebers notwendig war. Dennoch hätten wir uns eine differenziertere Betrachtung gewünscht. Dentale Medizinprodukte haben noch nie zu Gefährdungen der Patienten geführt, sie haben weder schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen und schon gar nicht den Tod von Patienten zur Folge, kurz gesagt, es handelt sich um sehr sichere Produkte, die täglich zum Wohle der Patienten beitragen. All die neuen zusätzlichen Anforderungen führen nicht dazu, dass ohnehin sichere Produkte noch sicherer werden.“

Bei der BZÄK teilt man die Einschätzung des VDDI. Dr. Jens Nagaba, Leiter der Abteilung Zahnärztliche Berufsausübung, hat sich ebenfalls über einen langen Zeitraum mit dem Entwurf der neuen europäischen Medizinprodukteverordnung beschäftigt. Seiner Meinung nach könnte vor allem die Definition von Nanomaterialien, die dem Entwurf zugrunde liegt, später noch zu einem Problem für die Hersteller werden. Denn: Für Nanomaterialien, die in fast allen Dentalmaterialien von der Zahnfüllung über Abformmaterial bis hin zum Okklusionspapier (zum Beispiel als Pigmente) enthalten sind, muss künftig das sogenannte Expositionsrisiko beurteilt werden. Das heißt, es wird geprüft, in welche Risikoklasse (siehe Kasten) die unterschiedlichen Medizinprodukte aufgrund ihres Potenzials der internen Exposition eingeordnet werden können – je nachdem, ob es als „hoch“ oder „mittel“ (dann jeweils hochgestuft in Klasse III), „gering“ (dann hochgestuft in Klasse IIb) oder „unbedeutend“ (dann einsortiert in Klasse IIa) angesehen wird.

Risikoklassifizierung

Medizinprodukte mit Ausnahme der In-vitro-Diagnostika und der aktiven implantierbaren Medizinprodukte werden vier Klassen zugeordnet: I, IIa, IIb und III. Aktuell erfolgt die Klassifizierung nach der derzeit geltenden europäischen Medizinprodukterichtlinie (EU 93/42/EWG) – je nach Risiko bei der Anwendung.

Beispiele:

  • Klasse I (geringes Risiko): Lesebrillen, Rollstühle, Mullbinden, Stützstrümpfe

  • Klasse IIa (mittleres Risiko): Zahnfüllungen, Röntgenfilme, Hörgeräte

  • Klasse IIb: Dentalimplantate, Beatmungsgeräte, Bestrahlungsgeräte, Blutbeutel

  • Klasse III (hohes Risiko): Herzkatheter, künstliche Hüft-, Knie-, oder Schultergelenke, Brustimplantate, Herzschrittmacher

Nach neuer MDR könnte die Klassifizierung jedoch nach dem sogenannten Expositionspotenzial erfolgen. Viele Medizinprodukte würden dann vermutlich hochgestuft werden.

Quelle: BMG

Zuerst hatte die EU-Kommission vorgesehen, dass alle Produkte, die Nanopartikel enthalten oder freisetzen können, automatisch als Hochrisikoprodukte und damit in Klasse III eingestuft werden sollten. Die Folge wäre gewesen, dass nahezu 80 Prozent aller dentalen Medizinprodukte von dieser Höherstufung betroffen gewesen wären. Damit wären für alle Produkte in der Risikoklasse III klinische Prüfungen erforderlich geworden – sprich für jede Zahnfüllung, jede Spange, jede Brücke. „Es ist keine Frage, dass diese Regelung die gesamte Dentalindustrie vor erhebliche Probleme gestellt hätte“, sagt Stock, „im Trilogverfahren haben die Beteiligten Einsicht gezeigt und eine differenziertere Kompromisslösung beschlossen.“ Obwohl bis heute noch nicht feststeht, wie das Expositionsrisiko eines Produkts konkret bewertet wird. „Wie die Begriffe ‚hohe Exposition‘ oder ‚geringe Exposition‘ definiert und welche Kriterien zur Bewertung herangezogen werden, ist noch unklar“, bestätigt Stock.

Die deutschen Standards gelten nun europaweit

Eine weiterer Punkt der MDR bezieht sich auf die Rückverfolgbarkeit von Produkten. Was in Deutschland ohnehin Standard ist, wird nun europaweit etabliert. Dies begrüßt der VDDI: „Die lückenlose Rückverfolgbarkeit dient der Patientensicherheit“, sagt Stock. „Die Produkte müssen zukünftig mit einer einmaligen Produktnummer, der UDI, gekennzeichnet werden. Produkte, die im Markt sind und eventuell doch Fehler aufweisen, können so schnell zurückgerufen werden, da der Verbleib der Produkte sehr schnell nachvollzogen werden kann. Zusätzlich dient die UDI auch der Vermeidung von Produktfälschungen.“ Allerdings wird die Kennzeichnung der Produkte mit einer einmaligen Produktnummer vonseiten der Hersteller natürlich erst einmal erhebliche Auswirkungen auf die internen Betriebsabläufe haben.

Ein dritter Punkt bezieht sich auf die Rolle der sogenannten „Benannten Stellen“ – der Prüfstellen für Medizinprodukte, wie hierzulande TÜV oder DEKRA, die für Auftraggeber aus der Medizintechnik die Zulassungsprüfung durchführen. Laut MDR soll die Rolle dieser Stellen gestärkt werden, so dass sie berechtigt sind, auch unangekündigte Audits durchzuführen. Das heißt, die Benannten Stellen haben das Recht, ohne vorherige Anmeldung zu den betriebsüblichen Zeiten die im Zertifikat genannten Fertigungs- und Betriebsstätten sowie die relevanten Lager der Bevollmächtigten, Importeure und Zweigniederlassungen zu besichtigen und Produktprüfungen vorzunehmen. „In der Regel prüfen zwei Auditoren an mindestens einem Tag ein von ihnen ausgewähltes Produkt“, führt Stock aus, „insbesondere hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit der technischen Dokumentation und den rechtlichen Anforderungen sowie der Rückverfolgbarkeit aller kritischen Komponenten und Materialien.“ Die unangekündigten Audits sollen mindestens einmal alle fünf Jahre stattfinden.

„Unangekündigte Audits verursachen natürlich einen nicht unerheblichen Aufwand bei den Firmen“, sagt Jens Nagaba von der BZÄK. Der bürokratische Mehraufwand könne gerade für kleine Betriebe zu einem Problem werden, ergänzt Stock: „Es gibt zahlreiche Dentalunternehmen, die zwischen 10 und 50 Mitarbeitern haben. Der mit der neuen MDR kommende Mehraufwand ist vor allem für kleinere Unternehmen sehr hoch. Die Kosten für reguläre und unangekündigte Audits, für Zertifikate im In- und Ausland und andere zusätzliche Aufwände, die aufgrund der Dokumentations- und Nachweispflichten entstehen, ergeben in ihrer Summe eine sehr hohe Belastung, die durch die Unternehmen erwirtschaftet werden müssen.“ Hinzu kommen die Kosten für das Personal, das für die Erledigung des immensen Aufwands zuständig ist, sagt Stock: „Gerade viele kleinere Unternehmen stellen aber Spezialitäten- und Nischenprodukte her, bei denen die Stückzahl begrenzt ist. Manches Unternehmen wird zukünftig mit spitzem Bleistift rechnen müssen, ob die Verkaufszahlen die Erlöse erzielen, die die hohen Belastungen durch die Umsetzung der neuen Regeln wieder ausgleichen.“

Mehr Sicherheit bedeutet höhere Preise

Vonseiten der BZÄK beurteilt man dies ähnlich: „Durch alle diese Verschärfungen soll die Sicherheit von Medizinprodukten erhöht werden“, sagt Nagaba, „aber diese Maßnahmen werden letztlich auch zu einer Preissteigerung führen.“ Die Produkte werden teurer. Auf der kommenden IDS in Köln wird das Thema dementsprechend bestimmt noch eine Rolle spielen.

Und dann noch der Zahnersatz: Hier bleiben laut MDR die Regelungen für Sonderanfertigungen bestehen. Konkret heißt das, Praxen und Labore können Produkte weiterverarbeiten, ohne dass diese erneut entsprechend der MDR geprüft werden müssten. „Nur wenn im eigenen Betrieb Produkte im industriellen Verfahren gefertigt werden und diese im Sinne der Verordnung keine Sonderanfertigung mehr sind, wären die hergestellten Produkte reguläre Medizinprodukte. Daraus aber bereits heute Konsequenzen abzuleiten, wäre verfrüht, da die MDR hinsichtlich dieser Thematik durchaus noch einigen Interpretationsspielraum zulässt“, erklärt Stock.

Dass Innovationen durch die neue MDR tatsächlich aktiv verhindert werden, hält Nagaba für übertrieben, „erschwert wird die Markteinführung von neuen Produkten aber mit Sicherheit“. Die konsolidierte Fassung des Entwurfs für die neue europäische Medizinprodukteverordnung muss jetzt noch verabschiedet werden. „Momentan befassen sich die Sprachjuristen mit dem Text, auch die Übersetzung in alle EU-Amtssprachen muss noch erfolgen“, erklärt Stock. „Aktuellen Informationen zufolge werden sich EU-Rat und EU-Parlament bis etwa Ende April / Anfang Mai 2017 mit der finalen Textversion befassen, so dass mit einer Verabschiedung und Veröffentlichung im Amtsblatt der EU im Mai/Juni 2017 zu rechnen ist.“ 20 Tage nach Veröffentlichung tritt die Verordnung in Kraft.

Doch es wird eine dreijährige Übergangs-zeit zwischen der neuen Medizinprodukteverordnung und der aktuell geltenden Medizinprodukterichtlinie geben. „Angenommen, die neue Verordnung tritt im Juni 2017 in Kraft“, erklärt Stock, „die Regelungen müssen dann ab Juni 2020 angewendet werden, die aktuelle Medizinprodukterichtlinie und das Medizinproduktegesetz gelten ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. In der Übergangszeit zwischen Juni 2017 und Juni 2020 können Zertifizierungen oder Re-Zertifizierungen nach altem oder neuem Recht durchgeführt werden.“ Produkte, die vor Ablauf der Übergangsfrist erstmalig nach altem Recht in Verkehr gebracht werden, sollen noch bis Ende 2024 abverkauft werden dürfen.

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