27 Jahre nach der Wiedervereinigung

Zwei Zahnärzte erinnern sich

Wissen Sie noch, wie das damals war – die Vereinigung in blühende Zahnarztlandschaften? Zwei Zeitzeugen, Dr. Frank Dreihaupt und Dr. Karl Horst Schirbort, blicken zurück – und nach vorn.

Dr. Frank Dreihaupt: „Zinslos ins kalte Wasser“

Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie wir uns gefühlt haben, als wir im Mai 1990 in einem Kreis engagierter Kollegen beschlossen hatten, eine Zahnärztekammer Sachsen-Anhalt e. V. beim Kreisgericht Stendal eintragen zu lassen, um einer Kammergründung durch „gewendete“ führende Leute aus den alten Strukturen zuvorzukommen. Die Urkunde ist auf den 11. Mai 1990 datiert. Die Eintragung trug die Nummer 16. Wir hatten damals nur höchst unvollkommene Vorstellungen davon, was eine Zahnärztekammer ausmacht, welche Rolle sie spielen würde und welche Aufgaben auf uns warten würden. Aber wir wussten sehr wohl, was wir wollten: nämlich unseren Patienten in freier Berufsausübung eine Zahnheilkunde auf dem modernsten Stand der Wissenschaft angedeihen lassen.

Neulich habe ich eine nette Internet-Notiz gelesen: „Christoph Kolumbus – er wusste nicht, wohin die Reise ging, er wusste nicht, wo er war, als er angekommen war. Und als er zurückkam, wusste er nicht, wo er gewesen war – und das alles mit geborgtem Geld.“ – So ungefähr kann man auch die Kammergründung in Sachsen-Anhalt beschreiben. 

Mit Überzeugung und Enthusiasmus sind wir ans Werk gegangen, und der Erfolg hat uns Recht gegeben. Ich erinnere mich noch gut: Bei der ersten Vorstandssitzung der Zahnärztekammer Sachsen-Anhalt e. V. in Dessau sprach mich der damalige niedersächsische Kammerpräsident Dr. Erich Bunke an, ob wir denn überhaupt Geld hätten. Auf mein etwas betretenes Kopfschütteln hin sicherte er mir eine Sofort-Unterstützung von 40.000 D-Mark zu, mit dem Hinweis: „Wenn Sie mal Geld haben, geben Sie es uns zinslos zurück.“ Heute nennt man so etwas Konjunkturprogramm, denn ich glaube, neben dieser freundlichen Geste stand auch ein nachvollziehbarer und durchaus verständlicher Selbsterhaltungstrieb dahinter: Stellen Sie sich vor, wir wären alle nach Niedersachsen gegangen …

Kollegen aus Niedersachsen waren zur Stelle, um unsere ersten Schritte zu begleiten – sie halfen den frisch gekürten Standesvertretern, zu verstehen, was Berufspolitik ist, aber sie halfen auch den wissbegierigen Zahnärzten, sich in dem bis dahin unbekannten Gesundheitssystem zurechtzufinden. Viele Hospitationen in niedersächsischen Praxen, aber auch in Zahnarztpraxen in anderen Bundesländern boten damals Orientierungshilfen und trugen dazu bei, dass sich in Sachsen-Anhalt so schnell wie in keinem anderen neuen Bundesland Zahnärzte in das kalte Wasser der eigenen Niederlassung stürzten: Ende 1990 hatten von den rund 2.000 Kollegen im Land schon 550 ihre eigene Praxis eröffnet! 

Am 13. August 1990 erhielten wir vom damaligen DDR-Gesundheitsminister ein Schreiben, das unsere Zahnärztekammer e. V. mit den Aufgaben einer Körperschaft des öffentlichen Rechts betraute. Wir gingen daran, von der Basis her mit 40 Kreisstellen unsere Körperschaft aufzubauen und demokratische Wahlen durchzuführen, so dass wir fristgemäß am 29. Juni 1991 die konstituierende Sitzung der Kammerversammlung durchführen konnten. Diesen Tag sehen wir als das offizielle Gründungsdatum der Zahnärztekammer Sachsen-Anhalt an.

Wir legten los – und zahlten auch Lehrgeld. Sehr zügig installierten wir damals beispielsweise ein Fortbildungsprogramm für die Kollegenschaft. Der erste Zahnärztetag in der Magdeburger Stadthalle (Fassungsvermögen circa 1.500 Personen) hatte am Vormittag zum wissenschaftlichen Programm allerdings ganze 40 Teilnehmer – ein Fiasko, das uns einen schlechten Ruf bescherte. „In Sachsen-Anhalt kommt keiner, wenn Fortbildungstage sind“, hieß es. Dass das keineswegs stimmte, konnten wir schon ein Jahr später beweisen. Der Unterschied: Die nächsten Fortbildungstage veranstalteten wir nicht kurz vor Weihnachten, sondern Mitte September. Inzwischen platzen unsere Fortbildungstage in Wernigerode aus allen Nähten, und wer sich nicht rechtzeitig anmeldet, findet keinen Platz mehr. 

Den Optimismus und die Aufbruchstimmung von vor 27 Jahren haben wir in solide Arbeit umsetzen können – diese Einschätzung kann man wohl treffen, ohne der Selbstgefälligkeit verdächtigt zu werden. Wir haben allerdings auch beides gebraucht, um so manche harte Landung auf dem Boden der Gesundheitspolitik zu verwinden. Dass alles einfach werden würde, hatten wir 1990 realistischerweise nicht erwartet, wir hatten aber mit Schwierigkeiten anderer Art gerechnet.

Dr. Frank Dreihaupt
Ehemaliger Präsident der Zahnärztekammer Sachsen-Anhalt

Dr. Karl Horst Schirbort: „Als wenn die DDR Pate gestanden hätte“

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Spaltung Deutschlands strebte man im Osten ein rein staatliches Gesundheitswesen an. Für frei praktizierende Ärzte gab es keinen Platz mehr. Die Rahmenbedingungen wurden für Freiberufler systematisch verschlechtert. Als Halbwüchsiger und junger Mann und Sohn eines in freier Praxis tätigen Zahnarztes höre ich heute noch die vom Vater immer wieder beklagte Benachteiligung des Freiberuflers gegenüber Staatspraxen. Damals wusste ich noch nicht viel damit anzufangen.

Ärztekammern und Kassenzahnärztliche Vereinigungen wurden aufgelöst. Die ambulante ärztliche Versorgung sollte nur noch in Polikliniken und Ambulatorien erfolgen. Über die daraus entstehende Entwicklung sprechen die bekannten Zahlen Bände: 1955 waren noch 42 Prozent der Ärzte und Zahnärzte frei praktizierend, 1989 waren es weniger als 2 Prozent.

Mit dem Einigungsvertragsgesetz vom 31. August 1990 kam auch hier die Wende. Der freiberufliche Arzt wurde auch für das Gebiet der ehemaligen DDR in den Mittelpunkt der ambulanten Versorgung gestellt. Im Einigungsvertrag steht in aller Deutlichkeit: „Die Niederlassung in freier Praxis mit dem Ziel zu fördern, dass der freiberuflich tätige Arzt maßgeblicher Träger der ambulanten Versorgung wird. Der Anteil der in Absatz 2 genannten Einrichtungen ist entsprechend zu verringern.“ Mit Einrichtungen sind unter anderem Polikliniken und Ambulatorien gemeint.

Das war der Startschuss auch für die Wiedervereinigung der Zahnärzteschaft auf freiberuflicher Grundlage. Kammern und Kassenzahnärztliche Vereinigungen im Westen übernahmen Patenschaften bei der Gründung von Kammern und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen im Osten, sowie die Unterstützung Tausender Kolleginnen und Kollegen, die mit Engagement und voller Zuversicht in die freiberufliche Praxis strömten. Für viele war es – vor allem altersbedingt – ein wirtschaftliches Risiko.

Bei allen Hilfestellungen die wir gaben, konnten wir aus dem Westen nicht verschweigen, dass der Berufsalltag des Freiberuflers in der alten Bundesrepublik wesentlich durch Gesetze, Verordnungen, Richtlinien, Vorschriften und staatliche Auflagen bestimmt wird. Als eindrucksvolles praktisches Beispiel konnte dabei angeführt werden, dass die Vergütung in den neuen Bundesländern nur 45 Prozent des gültigen Westpunktwerts ausmachen sollte. Selbst nach fast 30 Jahren ist eine vollständige Angleichung immer noch nicht erfolgt.

Trotz aller Probleme ist aber die Wiedervereinigung des Berufsstands gelungen, auch wenn es hoch angesiedelte Politiker gab, die sich mit den Vorgaben des Einigungsvertrags nicht abfinden wollten. Mit politischen Aktivitäten und über Gesetzesänderungen sollte der Einigungsvertrag – was die gesundheitliche Versorgung angeht – aufgeweicht werden. So hat die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bereits am 21.07.2003 öffentlich im Fernsehen auf n-tv gesagt „[...] es muss auch Schluss sein mit der Ideologie der Freiberuflichkeit“ und in einem Gespräch mit der Sächsischen Zeitung am 27.10.2003 setzte sie noch einen drauf und sagte: „Es war einer der großen Fehler der Neunzigerjahre, dass die Polikliniken abgebaut worden sind, statt sie zu Zentren der integrierten Versorgung zu entwickeln.“

Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass für die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung medizinische Versorgungszentren Urständ feiern konnten. Ab 2004 wurden diese im § 72 des SGB V ausdrücklich aufgenommen. Schmidt kommentierte das so: „Ich bin froh, dass dieses Stück gelebte Ost-Realität jetzt für ganz Deutschland verbindlich umgesetzt werden soll.“ Mit weiteren nachfolgenden Änderungen dieses Paragrafen haben medizinische Versorgungszentren inzwischen eine privilegierte Stellung gegenüber freien Praxen erhalten. Bis dahin, dass auch Kommunen medizinische Versorgungszentren einrichten können.

So schließt sich also der Kreis und wenn es nach den Wahlprogrammen von SPD, Grünen und Linken geht, wäre der politische Umbau in ein staatliches Gesundheitswesen mit Bürgerversicherung (Einheitskrankenkasse) und Einheitsgebührenordnung kaum noch aufzuhalten. Als Kenner der Szene kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, als wenn das Gesundheitswesen der ehemaligen DDR bei den Vorstellungen von Rot/Rot/Grün Pate gestanden hätte. Bürgerversicherung hieß dort nur Sozialversicherungskasse (SVK) und medizinische Versorgungszentren waren Polikliniken und Ambulatorien. 

Nach fast 50-jähriger freiberuflicher Tätigkeit in eigener Praxis und genau so lange in der zahnärztlichen Selbstverwaltung und im Freien Verband Deutscher Zahnärzte kämpfe ich auch heute noch dafür, dass der Zahnärzteschaft und vor allen Dingen unseren Patienten ein solches Gesundheitswesen erspart bleibt.

Dr. Karl Horst Schirbort
Ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung

drschirbort@web.de

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