Fall aus der Chirurgie

Oberkiefernekrose bei starker Immunsuppression

Ingo Fischer
,
Anne Attrodt
,
Paul Heymann
,
Christine Moll
,
Andreas Neff
,
Thomas Ziebart
Eine 45-jährige Patientin wurde aufgrund eines freiliegenden Knochens im Bereich des rechten Oberkiefervestibulums vorstellig. Die umfangreiche Diagnostik ergab eine Bisphosphonat-assozierte Kiefernekrose mit primär atypischer Lokalisation.

Bei der Anamnese zeigte sich klinisch freiliegender Knochen (Os librum) im Bereich des Oberkiefervestibulums Regio 11/12 mit einer Flächenausdehnung von 2 cm auf 1 cm (Abbildung 1a). Korrespondierend dazu fand sich bei der weiteren intraoralen Inspektion eine palatinale Fistel (Abbildung 1b). Bei der Patientin waren bisher weder chirurgische Eingriffe noch Bestrahlungen im Kopf-Hals-Bereich erfolgt.

Therapie

Nach erfolgter Tetrazyklinmarkierung mit Doxycyclin 100 mg 1–0–0 für fünf Tage und präoperativer Abdrucknahme für eine Oberkieferverbandsplatte wurde der Eingriff in Intubationsnarkose durchgeführt. Nach marginaler Schnittführung wurden die Zähne 21, 12 und 13 entfernt sowie eine aufwendige modellierende Osteotomie im Sinne einer partiellen Resektion des Alveolarfortsatzes unter Schwarzlichtkontrolle in diesem Bereich durchgef ü hrt (Abbildung 5).

Die Weichgewebsdeckung des entstandenen Defekts erfolgte mittels Mukoperiostlappen und einer Dreiecksaustauschplastik aus dem Oberkiefervestibulum (Abbildung 6). Nach spannungsfreiem, speicheldichtem Wundverschluss wurde eine Verbandsplatte mittels Jodoformvaseline durch eine Schraube am Gaumen knöchern fixiert (Abbildung 7). Daran schloss sich ein fünftägiger stationärer Aufenthalt unter strikter Ernährung mittels Magensonde sowie breiter intravenöser antibiotischer Abdeckung durch Clindamycin 600 mg 1–1–1 an.

Zudem wurde eine postoperative Röntgenkontrolle mittels OPG durchgeführt (Abbildung 8). Bei optimaler Mundhygiene war der Heilungsverlauf Stadien-gerecht, ohne dass Dehiszensen oder eine Infektion aufgetreten wären.

Diskussion

Chemisch gesehen handelt es sich bei Bisphosphonaten um Pyrophosphatanaloga, bei denen die zentrale P-O-P-Bindung durch eine P-C-P-Bindung ersetzt worden ist. Dies führt zu einer Resistenz gegen chemische Hydrolyse durch Osteoklasten [Green, 2004].

Die Substituenten des zentralen Kohlenstoffs (auch als R1 und R2 bezeichnet) sind maßgeblich für die weitere Klassifizierung verantwortlich. Man unterscheidet je nach Existenz von Stickstoff in den oben beschriebenen Seitenketten zwischen stickstoffhaltigen (Alendronate, Ibandronate und Zolendronate) und stickstofffreien (Clodronatem, Tiludronate und Etidronate) Bisphosphonaten [Russell et al., 1999].

Klinische Indikationen sind verschiedene Knochenerkrankungen wie Morbus Paget, postmenopausale Osteoporose [Handler, 2008], das multiple Myelom [Kyle et al., 2004] und ossär metastasierte Karzinome [Roodman, 2004].

Die Bisphosphonat-assoziierte Kiefernekrose (BP-ONJ) wird im englischen Sprachgebrauch auch als BRONJ = Bisphosphonat related ostenecrosis of the jaws bezeichnet. Sie wird durch folgende Klinik definiert: mehr als acht Wochen freiliegender Knochen, Bisphosphonat-Medikation in der Anamnese und keine Bestrahlung im Kopf-Hals-Bereich [Ruggiero et al., 2009]. Als weitere wichtige Symptome können Zahnlockerungen, Fisteln, Schmerzen, Foetor ex ore und Sensibilitätsstörungen im Bereich der Unterlippe (auch als Vincent-Symptom bezeichnet) auftreten.

Im weiteren Verlauf werden nun die wichtigsten Merkmale der aktuellen S3-Leitlinie „ Bisphosphonat-assozierte Kiefernekrose (BP-ONJ) und andere Medikamenten-assozierte Kiefernekrosen“ dargelegt:

In der Diagnostik kommt demnach neben der eingehenden oralen Inspektion der bildgebenden Untersuchung eine zentrale Bedeutung zu. Hierbei ist zu beachten, dass eine klassische konventionelle Panoramaschichtaufnahme als unzureichend gilt und – gerade auch im Sinne einer präoperativen Diagnostik – durch geeignete 3-D-Verfahren zu komplettieren ist. Außerdem wird empfohlen, eine histopathologische Aufarbeitung des Gewebes durchführen zu lassen, um zum einen maligne Prozesse ausschließen zu können und zum anderen die Diagnose zu sichern.

Fazit für die Praxis

  • Die Bisphosponat-assozierte Kiefernekrose ist eine schwerwiegende Erkrankung mit steigender Inzidenz.

  • Eine OPG-Diagnostik ist bei Verdacht mit einer 3-D-Bildgebung zu komplettieren.

  • Die Therapie ist meist chirurgisch.

  • Der behandelnde Zahnarzt nimmt eine zentrale Rolle in Prävention, Therapie und Nachsorge ein.

Die Therapie der BP-ONJ ist primär chirurgisch. Rein konservative Therapieansätze ohne plastische Deckung zeigen in bis zu 82 Prozent keine Heilung. Im Gegensatz dazu sind in der Literatur für eine vollständige Nekroseabtragung mit plastischer Deckung Heilungsraten von bis zu 90 Prozent beschrieben worden.

Weiterhin definiert die S3-Leitlinie eine systemische Antibiose und eine ausreichende Anästhesie als „obligatorisch ergänzende Maßnahme“, während eine supportive Lasertherapie, eine präoperative Fluoreszensmarkierung sowie die Änderung der Kostform als „fakultativ“ gesehen werden.

Im Zentrum zur Vermeidung einer BP-ONJ steht der Zahnarzt. Bereits vor der geplanten Gabe osteoprotektiver Substanzen sollte die Planung einer Sanierung erfolgen. Hierbei stehen auch nicht-chirurgische Therapiemaßnahmen wie Motivation und Instruktion sowie regelmäßige Recall-Termine im Fokus.

Dr. Dr. Paul Heymann
Dr. Anne Attrodt
Prof. Dr. Dr. Andreas Neff
Dr. Dr. Christine Moll
Dr. Ingo Fischer
PD. Dr. Dr. Dr. Thomas Ziebart

Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
Universitätsklinikum Gießen und Marburg
Standort Marburg
Baldingerstraße, 35043 Marburg
heymann.paul@gmail.com

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Ingo Fischer

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Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
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Baldingerstraße,
35043 Marburg

Prof. Dr. Dr. Andreas Neff

Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie
Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Marburg
FB 20 der Philipps-Universität Marburg
Baldingerstraße, 35043 Marburg

Dr. Dr. Thomas Ziebart


Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – plastische Operationen
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Augustusplatz 2
55131 Mainz

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