DAJ-Studie zur Karieserfahrung bei Kindern in Deutschland

Milchzahnkaries ist das Problem

Ruth Santamaría
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Julian Schmoeckel
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Christian Splieth
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Roger Basner
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Die neue DAJ-Studie hat insgesamt 300.000 Kinder auf Karies untersucht: Die 12-Jährigen haben demnach weiter weltweite Spitzenwerte, doch die 3-Jährigen und die 6- bis 7-Jährigen leiden stark unter Milchzahnkaries. Sowohl bei der Prävention als auch bei der Therapie von Karies im Milchgebiss existiert deutlicher Handlungsbedarf.

Gruppenprophylaxe ist in Deutschland eine feste Säule der Prävention und gesetzlich geregelt. Das gilt auch für die epidemiologischen Begleituntersuchungen, die im Auftrag der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ) regelmäßig durchgeführt werden. Für die aktuelle Studie wurden bundesweit im Schuljahr 2015/16 mehr als 300.000 Kinder untersucht.

Seit 1994 werden im Auftrag der DAJ regelmäßige Querschnittsuntersuchungen zur Gruppenprophylaxe durchgeführt, seit 2004 sogar bundesweit, was eine gute longitudinale Betrachtung der Kariesentwicklung erlaubt. In den epidemiologischen Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe wird die Kariesprävalenz (dmft/DMFT) der Kinder in Kindertagesstätten und Schulen erfasst. Für den Untersuchungszeitraum 2015/16 wurden dazu bundesweit 6- bis 7-Jährige in der 1. Klasse und 12-Jährige in der 6. Klasse untersucht. Fakultativ konnten erstmalig die 3-Jährigen erfasst werden. Außerdem wurde zum ersten Mal Initialkaries (i/I) erhoben und als idmft/IDMFT für das Milch- / bleibende Gebiss ausgewertet. Auch die Untersuchungsmethode konnte über den Leitfaden des Bundesverbands der Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes einheitlich festgeschrieben werden [BZÖG, 2013]. Eine weitere Innovation war die Online-Kalibrierung, die für alle Untersucher zeit- und ortsunabhängig durchgeführt wurde. Nachkalibrierungen waren so problemlos möglich. Eine zentrale Neuerung war das umfangreiche Stichprobenkonzept, entwickelt in Kooperation mit dem GESIS-Institut, Mannheim, und der DAJ.

Methodik und Design

Die DAJ-Studie 2016 wurde als epidemiologische Querschnittstudie zur Mundgesundheit bei Kindern in Deutschland auf der Basis der WHO-Methodik [WHO, 2013] und der Leitlinien des Bundesverbands der Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes [BZÖG, 2013] realisiert.

Die Pflichtzielgruppen waren

  • 6- und 7-Jährige in 1. Klassen aller Schultypen und 

  • 12-Jährige in 6. Klassen aller Schultypen.

Als Kann-Zielgruppe wurden 

  • 3-Jährige in öffentlichen Kindertagesstätten untersucht.


1 GBE-Datensatz mit Schul-ID; 2 GBE-Datensatz ohne Schul-ID (Selbstauskunft Schulzahl);3 Stichprobendatensatz ohne Schul-ID (Selbstauskunft Schulzahl),4 GBE-Datensatz ohne Schul-ID (keine Angabe über Anzahl untersuchter Schulen)

1 GBE-Datensatz mit Schul-ID;

2 GBE-Datensatz ohne Schul-ID (Selbstauskunft Schulzahl);

3 Stichprobendatensatz ohne Schul-ID (Selbstauskunft Schulzahl)

Stichprobe

Mithilfe der aktuell verfügbaren Schullisten (Schuljahr 2013/14) wurde für jedes Bundesland in den Pflichtzielgruppen eine Stichprobe gezogen. Einige Bundesländer generierten die Daten aus den (wegen der Untersuchungspflicht) ohnehin hoch ausgeschöpften zahnärztlichen Untersuchungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) für die routinemäßige Gesundheitsberichtserstattung (GBE). Eine hohe Qualität der Zufallsstichprobe wurde durch eine Schichtung nach Kreisen und Schultypen gewährleistet. Erwartete Schulausfälle wurden durch festgelegte Response-Raten aus den Daten der Vorgängeruntersuchung in der Kalkulation einer Brutto-Stichprobe kompensiert. Dieses Vorgehen sollte ein vergleichbares Repräsentativitätsniveau zwischen den Bundesländern bei einem maximalen Stichprobenfehler von 15 Prozent gewährleisten. Da nicht in allen Bundesländern die Mindestanzahl der Schulen (100 Prozent der Nettostichprobe) untersucht werden konnte (Abbildungen 2 und 3), wurde dieses Ziel nicht vollumfänglich erreicht. Der erhöhte Stichprobenfehler in wenigen Bundesländern hat jedoch nur geringen Einfluss auf den mittleren dmft/DMFT für Gesamtdeutschland, nur die zweite Nachkommastelle ist betroffen.

In zehn Bundesländern konnten zusätzlich 3-Jährige untersucht werden (Abbildung 5), was entweder im Rahmen der Gesundheitsberichtserstattung des ÖGD oder als Untersuchungen in gezogenen Stichproben erfolgte.


Untersuchung 

Die Häufigkeit und Verteilung der Karieserfahrung bei Kindern wurde mittels des dmft-Index für das Milchgebiss und des DMFT-Index für das permanente Gebiss mit den einzelnen Komponenten für kariöse (dt/DT), fehlende (mt/MT) und gefüllte Zähne (ft/FT) erfasst. Da die Initialkariesläsionen in industrialisierten Ländern bisweilen eine höhere Prävalenz als die kariösen Defekte (dt/DT) aufweisen [Gómez, 2015; Ekstrand et al., 2007], war es sinnvoll, die Anzahl der kariösen Initialläsionen (it beziehungsweise IT) in beiden Dentitionen zu erheben.

In allen Bundesländern wurden die zahnmedizinischen Befunde entweder mit einer Software („ISGA“, „Octoware“/„easy-soft“, „Gudental“, „Micropro“) oder mittels eines Dokumentationsblatts des Programms „Excel“ von „Microsoft Office“ erfasst, um demografische Parameter (Geschlecht, Alter, Schultyp, Klassenstufe, Untersuchungsdatum) zu dokumentieren. Alle Angaben wurden anonymisiert ausgewertet. 


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Kalibrierung

In der Online-Kalibrierung wurden Methodik und Diagnosekriterien standardisiert. Die Internetseite gliederte sich in verschiedene Abschnitte mit theoretischen und praktischen Lernteilen sowie in die abschließende Kalibrierung, die anhand einer randomisiert präsentierten Folge von Bildern erfolgte. Die Auswertungen wurden gespeichert und an die Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege (LAGen) übermittelt. Im primären Kalibrierungszeitraum zwischen Mai und August 2015 nahmen 435 Untersucher (90,2 Prozent) erfolgreich teil. Bei der Nachkalibrierung bis Juli 2016 konnten weitere 47 Untersucher (9,8 Prozent) eingeschlossen werden. Insgesamt wurden 482 Untersucher erreicht und kalibriert – das sind über 20 Prozent mehr als in der Vorgängerstudie.

Die Untersuchungsübereinstimmung kann Kappa-Werte zwischen 1,0 (perfekte Konkordanz) und 0,0 (keine Konkordanz) annehmen [Cohen, 1960]. Bei der vorliegenden Studie lagen die Kappa-Werte zwischen 0,65 und 1, mit einem Peak bei guter Übereinstimmung von 0,85, trotz der erstmals inkludierten und schwieriger zu kalibrierenden Initialläsionen (Abbildung 4).

Ergebnisse

3-Jährige in Kindertagesstätten

Die 3-Jährigen in Kindertagesstätten wiesen eine mittlere Karieserfahrung von 0,5 dmft auf, wobei 86 Prozent auf Defektniveau kariesfrei (dmft = 0) waren. So betrug die mittlere Karieserfahrung der Kinder mit Karieserfahrung (Kinder mit dmft > 0) bereits 3,6 dmft. Zudem waren etwa drei Viertel der kariösen Milchzähne nicht saniert [Team DAJ, 2017].

6- bis 7-Jährige in der 1. Klasse

Die 6- bis 7-Jährigen in der 1. Klasse wiesen eine mittlere Karieserfahrung von 1,7 dmft auf, wobei etwa 56 Prozent auf Defektniveau kariesfrei (dmft = 0) waren. So betrug die mittlere Karieserfahrung des Drittels mit der höchsten Karieserfahrung (SiCdmft) sogar 4,8 dmft. Circa 43 Prozent der kariösen Milchzähne waren nicht saniert [Team DAJ, 2017].

12-Jährige in der 6. Klasse

Die 12-Jährigen in der 6. Klasse wiesen eine mittlere Karieserfahrung von 0,4 DMFT auf, wobei 79 Prozent auf Defektniveau kariesfrei (DMFT = 0) waren. So betrug die mittlere Karieserfahrung der Kinder mit Karieserfahrung (Kinder mit DMFT > 0) bereits 2,1 DMFT. Ungefähr 30 Prozent der kariösen bleibenden Zähne waren nicht saniert [Team DAJ, 2017].

 


Zusammenfassung der Ergebnisse der Epidemiologischen Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe 2016 bei 6- bis 7-Jährigen in 1. Klassen


Korridor der mittleren Karieserfahrung in den jeweiligen Bundesländern

1,4–2,3 dmft

Kinder mit Karieserfahrung im Milchgebiss auf Defektniveau (dmft > 0)

44 %

Anteil der nicht sanierten kariösen Milchzahndefekte

43 %

SiC dmft (mittlere Karieserfahrung des Drittels der Kinder mit höchster Karieserfahrung)

4,8 dmft

Tabelle 2; Quelle: Team DAJ, 2017


Diskussion

Die in Deutschland klar geregelte gesetzliche Struktur von Gruppen- und Individualprophylaxe (§ 21 und § 22, SGB V) und der explizite Auftrag zu epidemiologischen Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe bieten einen sehr guten Rahmen, um den oralen Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in Deutschland repräsentativ und vergleichbar zu erfassen. Der Öffentliche Gesundheitsdienst und die gesetzliche Verpflichtung zu zahnärztlichen Untersuchungen bilden das strukturelle Rückgrat der Untersuchungen, sie werden durch die Rekrutierung von Studienzahnärzten in einigen Bundesländern ergänzt. 

Das erstmalig für ganz Deutschland verwendete Instrumentarium entsprechend der Empfehlungen zur standardisierten Gesundheitsberichtserstattung des BZÖG [2013] garantiert sowohl die Vergleichbarkeit mit den Vorgängerstudien als auch mit dem international etablierten WHO-Standard [2013]. Die ebenfalls erstmals eingeführte Online-Kalibrierung erlaubte die Nachkalibrierung von Späteinsteigern. Auch kariöse Initialläsionen konnten gut kalibriert und als Neuerung in den Untersuchungen miterfasst werden. 

 


Zusammenfassung der Ergebnisse der epidemiologischen Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe 2016 bei 12-Jährigen in 6. Klassen


Korridor der mittleren Karieserfahrung in den jeweiligen Bundesländern

0,2–0,7 DMFT

Kinder mit Karieserfahrung im permanenten Gebiss (DMFT > 0)

21 %

Anteil nicht sanierter kariöser permanenter Zähne

30 %

mittlere Karieserfahrung der Kinder mit Karieserfahrung (Kinder DMFT > 0)

2,1 DMFT

Tabelle 3; Quelle: Team DAJ, 2017


Die professionelle Ziehung der Stichproben und die extrem hohen Untersuchungszahlen bedeuten eine für Deutschland sehr hohe Repräsentativität, was fast identische Karieswerte für 12-Jährige bei der fast parallel erschienen IDZ-Studie [2016] belegen. Aufgrund der Annäherung der Werte in den einzelnen Bundesländern gelten die für Gesamtdeutschland gefundenen Trends auch für die Länder. 

Die DAJ-Studien weisen für 12-Jährige im bleibenden Gebiss einen sehr klaren, kontinuierlichen Kariesrückgang aus, der inzwischen eine internationale Spitzenposition darstellt, so dass die Kariesprävention bei Jugendlichen in Deutschland als Erfolgsgeschichte gelten kann. Dies trifft auch auf die sogenannte Kariesrisikogruppe zu, die proportional gleichwertig am Kariesrückgang teilgenommen hat. 

Im Milchgebiss ist eher eine Stagnation auf zu hohem Niveau zu verzeichnen. Bereits 3-Jährige weisen mit 0,5 dmft einen höheren Karieswert auf als die 12-Jährigen nach sechs Jahren mit bleibenden Zähnen (0,4 DMFT). Auch die 6- bis 7-Jährigen können im internationalen Vergleich nicht mit Dänemark, England oder Frankreich mithalten. Der Sanierungsgrad ist mit 57 Prozent weiterhin unbefriedigend. Sowohl bei der Prävention als auch bei der Therapie von Karies im Milchgebiss ist damit in Deutschland weiterhin ein deutlicher Handlungsbedarf erkennbar. Aufgrund der starken Assoziation von Kariesrückgängen und Fluoridnutzung liegt es nahe, nach einer suboptimalen Fluoridnutzung – zum Beispiel wegen der niedrigen Fluoridkonzentration in Kinderzahnpasten – zu suchen. Außerdem sind die Gruppen- und Individualprophylaxe-Programme für Kinder unter 2,5 Jahren deutlich geringer ausgebaut als diejenigen für Kinder im Schulalter. Die epidemiologischen Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe zeigen in Folge eine unterschiedliche Entwicklung für die Kariesprävalenz im Milch- und im bleibenden Gebiss auf. Daher wäre ein Aktionsplan „Prävention im Milchgebiss“ in Deutschland sinnvoll, um durch gemeinsame, intensivierte Anstrengungen in der Kollektiv-, Gruppen- und Individualprophylaxe die Erfolgsgeschichte der Kariesprävention aus dem bleibenden Gebiss in Deutschland auf das Milchgebiss zu übertragen. 

Roger BasnerDr. Ruth M. SantamariaDr. Julian SchmoeckelDr. Elisabeth SchülerProf. Dr. Christian SpliethAbteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde, Universität GreifswaldFleischmannstr. 42, 17487 Greifswald

Danksagung:Das Gutachten „Epidemiologische Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe 2016“ wurde im Auftrag der DAJ, Bonn, erstellt und vom Team DAJ, Greifswald (R. Basner, Dr. R. M. Santamaría, Dr. J. Schmoeckel, Dr. E. Schüler und Prof. Dr. Ch. H. Splieth), unter Mitarbeit von B. Berg, DAJ Bonn, und PD Dr. S. Gabler, GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Mannheim, und den 17 Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege durchgeführt. Das Team DAJ bedankt sich ganz herzlich bei allen Beteiligten, die diese bemerkenswerte Studie ermöglicht haben.

Auf den Seiten 48–49 erläutert Bettina Berg, Geschäftsführerin der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ), die Hintergründe der Studie und die Rolle der DAJ.

Kernergebnisse der Studie

  • Fast 80 Prozent der 12-jährigen Sechstklässler in Deutschland haben kariesfreie bleibende Gebisse. In dieser Altersklasse liegt Deutschland zusammen mit Dänemark international an der Spitze.

  • Karies an Milchzähnen jedoch tritt früh auf und ist noch zu weit verbreitet, zudem ist eine soziale Polarisation der Karies zu verzeichnen. Erstmals wurde die Gruppe der 3-Jährigen erfasst.

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Literatur

BZÖG (Bundesverband der Zahnärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst): Empfehlungen zur Standardisierten Gesundheitsberichtserstattung für die Zahnärztlichen Dienste im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Berichte und Materialien Band 25. Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen. Düsseldorf 2013.

Cohen J. A coefficient for agreement for nominal scales. Education and Psychological Measurement 1960; 20:37–46.

Pieper K. Epidemiologische Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe 2009. Bonn 2010

TEAM DAJ 2017. Epidemiologische Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe 2016. Bonn 2017

Ekstrand KR, Martignon S, Ricketts DJ, Qvist V. Detection and Activity Assessment of Primary Coronal Caries Lesions: a Methodologic Study. Oper Dent 2007;32:225–235.

Gomez J. Detection and diagnosis of the early caries lesion. BMC Oral Health 2015;15: Suppl 1:S3. 

IDZ (Institut der Deutschen Zahnärzte): Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie. Köln 2016

WHO (World Health Organization). Oral health surveys: Basic methods - 5. Auflage. Genf 2013.

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