Wegbereiter der Zahnheilkunde – Teil 13

Alfred Kantorowicz - Wegbereiter der Jugendzahnpflege

Dominik Groß
Alfred Kantorowicz (1880–1962) steht für die Entwicklung und Etablierung einer systematischen Jugend- und Schulzahnpflege, gilt als Initiator der zahnärztlichen Prophylaxe und leistete Pionierarbeit in der Diagnostik und Therapie von Kiefer- und Zahnfehlstellungen.

Der jüdische Zahnarzt Alfred Kantorowicz wurde am 18. Juni 1880 im preußischen Posen geboren – als Sohn des Fabrikanten Wilhelm Kantorowicz und dessen Frau Rosa Kantorowicz, geb. Gieldzinsky [Doyum, 1985; Depmer, 1993; Litten, 2016]. 1884 zog die Familie nach Berlin. Hier besuchte der junge Alfred das Gymnasium, das er jedoch bereits nach der Mittleren Reife verließ. Ebenfalls in Berlin nahm er das Studium der Zahnmedizin auf, das bis 1909 noch nicht an den Nachweis des Abiturs gebunden war. Am 17. Dezember 1900 nahm er die zahnärztliche Approbation entgegen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er allerdings bereits den Entschluss gefasst, Arzt zu werden. Dies hatte zur Konsequenz, dass er zunächst das Abitur nachholen musste. Tatsächlich konnte er 1902 am Luisengymnasium in Berlin die Hochschulreife erlangen. Nach einem zwischenzeitlichen Studienaufenthalt in München legte er im Juli 1905 in Freiburg das medizinische Staatsexamen ab. Noch im selben Monat promovierte er zum Dr. med. mit der Arbeit „Kritik der neuen Methoden der Perkussion“ [Kantorowicz, 1905] und erhielt im Folgejahr die ärztliche Approbation [Depmer, 1993; Litten, 2016]. 

Seine Assistentenzeit absolvierte er am Virchow-Krankenhaus in Berlin und an der Chirurgischen Universitätsklinik in Bonn, bevor er 1909 zu Otto Walkhoff ans Zahnärztliche Institut der Universität München wechselte. Damit verbunden war die Entscheidung, sich doch der aufstrebenden Zahnheilkunde zuzuwenden. Nach einem Intermezzo in Göttingen, wo er sich im Dezember 1911 für das Fach Zahnheilkunde habilitierte, kehrte er nach München zurück und wurde dort im März 1912 zum Privatdozenten ernannt [Doyum, 1985; Depmer, 1993; Litten, 2016]. 

Im Ersten Weltkrieg war er zeitweise als Leiter der Zahnstation im Reservelazarett Hagenau im Elsass tätig. Für seinen Einsatz wurde er 1917 mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Im April 1918 wurde Kantorowicz an der Universität Bonn zum „Lehrer der Zahnheilkunde“ ernannt. Damit verbunden war die Leitung des (privaten) Zahnärztlichen Instituts und der zugehörigen Schulzahnklinik. In Bonn konnte er nun in kurzer Zeit zentrale akademische Karriereschritte durchlaufen: Bereits im Juni 1918 wurde ihm der Titel eines Professors verliehen, im August 1921 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt, im November 1921 erhielt er die Ernennung zum Direktor des zwischenzeitlich verstaatlichten Zahnärztlichen Instituts. Im April 1923 wurde er schließlich zum ordentlichen Professor und damit zum Lehrstuhlinhaber befördert. Einen weiteren Karrierehöhepunkt in Bonn erreichte er 1926: Ihm wurde der zahnärztliche Ehrendoktortitel („Dr. med. dent. h. c.“) verliehen [Doyum, 1985; Depmer, 1993; Litten, 2016].

Doch spätestens mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verdüsterte sich die Zukunft des Sozialdemokraten: Aufgrund vermeintlicher „kommunistischer“ Aktivitäten und seiner jüdischen Herkunft wurde Kantorowicz im Herbst 1933 entlassen. Rechtliche Grundlage hierfür war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Die Bonner Fakultät ließ in dieser Situation jede Solidarität vermissen. Vielmehr musste Kantorowicz erfahren, dass wichtige Kollegen gegen ihn agitierten. Besonders deutlich wird dies in einem Schreiben des Dekans Wilhelm Ceelen an die Fakultätskollegen. Darin hieß es am 27.12.1933: „Bei der Aufstellung einer Liste der seit 1918 ernannten Ehrendoktoren [...] wurde erstaunlicherweise festgestellt, dass Herr Professor Kantorowicz Ehrendoktor (Dr. med. dent. h. c.) der Bonner Medizinischen Fakultät ist. […] Da Herr Professor Kantorowicz am 3. Oktober 1933 von dem Herrn Minister aus dem Staatsdienst ohne Anspruch auf Ruhegehalt und auf Weiterführung der Amtsbezeichnung entlassen worden ist, der Hauptgrund für die Ehrenpromotion also hinfällig geworden ist, da Professor Kantorowicz ferner, wie es heisst, Deutschland verlassen hat, ohne […] Mitteilungen gemacht zu haben, besteht keine Veranlassung mehr, ihn unter den Ehrendoktoren der Fakultät weiterzuführen. Ich werde ihn also aus der Liste streichen und ihm entsprechende Mitteilung machen, sobald ich seine genaue Anschrift erfahren habe“ [Forsbach, 2006]. Zudem weisen die Zeilen darauf hin, dass die Fakultät schon die Ernennung von Kantorowicz zum Extraordinarius und Ordinarius abgelehnt habe.

Tatsächlich war Kantorowicz im April 1933 in das Konzentrationslager Börgermoor (heutige Gemeinde Surwold, Niedersachsen) und nachfolgend in das KZ Lichtenburg in Prettin (Sachsen-Anhalt) gebracht worden. Auch wenn Kantorowicz Ende 1933 dank einer Intervention des schwedischen Kronprinzen wieder entlassen werden konnte, war überdeutlich geworden, dass er in Deutschland keine Zukunft hatte. Vor diesem Hintergrund lotete Kantorowicz die Möglichkeit einer Emigration aus. Die in Zürich etablierte „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ unterhielt Kontakte nach Istanbul. Hier fand Kantorowicz Hilfe: Er erhielt eine Einladung der türkischen Botschaft in Berlin nach Istanbul, die mit einer konkreten beruflichen Perspektive, der Übernahme eines Ordinariats an der dortigen Universität, verknüpft war. Kantorowicz konnte emigrieren und bekleidete den besagten Lehrstuhl an der Zahnärztlichen Hochschule in Istanbul von 1934 bis zu seiner Emeritierung 1948 [Doyum, 1985; Depmer, 1993; Litten, 2016]. 

Karriere, KZ und späte Rehabilitation

Während sich Kantorowicz in der Türkei um die Förderung der sozialen Zahnheilkunde und die Ausbildung der Zahnärzteschaft verdient machte, wurde sein System der Jugendzahnpflege in Deutschland widerstandslos zerschlagen. Erst nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ bot sich Kantorowicz die Möglichkeit zur Rückkehr. Tatsächlich erreichte ihn 1946 – kurz vor der mit 68 Jahren anstehenden Emeritierung – ein Angebot der Universität Bonn, in seine alte Funktion als Ordinarius einzutreten. Doch Kantorowicz lehnte ab – zum einen aus gesundheitlichen Gründen, zum anderen aus Angst vor den antisemitischen Tendenzen in Deutschland [Kirchhoff, 2009; Litten, 2016]. Erst 1950 remigrierte er und wurde wieder in Bonn ansässig. Hier bestellte ihn der Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen zum „Fachberater für Fragen der Schulzahnpflege“ – eine Funktion, die Kantorowicz bis 1956 wahrnahm. Außerdem übernahm er an der Bonner Klinik einen Lehrauftrag. 1955 verlieh ihm die Universität Bonn unter dem Dekanat von Gustav Korkhaus nun den humanmedizinischen Ehrendoktortitel („Dr. med. h. c.“) [Depmer, 1993] und im selben Jahr wurde er Ehrenmitglied der DGZMK [Groß/Schäfer, 2009].

Ungeachtet dieser späten Rehabilitation zeigte sich Kantorowicz von der Situation der Zahnheilkunde in Deutschland, insbesondere vom Stellenwert der Schulzahnpflege, enttäuscht. Er konstatierte 1957: „Die zahnärztliche Tätigkeit beschränkt sich auf die Feststellung, ob in einem Zahn eine Sonde hakt und ist damit zu einer Karikatur einer Berufsausübung geworden, die ein fast 6-jähriges Studium voraussetzt [...] Ich würde es ablehnen, aus dem Herumstochern mit einer Sonde, um ein Loch in einer Fissur zu finden, eine selbständige Disziplin zu machen“ [Kirchhoff, 2009].

Kantorowicz starb am 6. März 1962 im Alter von 81 Jahren in Bonn. Zu seinen bekanntesten Schülern zählten Karl Friedrich Schmidhuber (1895–1967), der von 1955 bis 1957 als Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln wirkte, und der vorgenannte Gustav Korkhaus (1895–1978). Obwohl Korkhaus nationalkonservativ eingestellt war (und später als Nationalsozialist auftrat), hatte Kantorowicz 1927 dessen Ernennung zum Abteilungsleiter im Fach Orthodontie erwirkt. 1946 zeigte sich Kantorowicz erneut großzügig: Als ihm die Bonner Fakultät eine Rückkehr auf sein früheres Ordinariat anbot, schlug Kantorowicz an seiner statt den gerade „entnazifizierten“ Korkhaus für diese Position vor. In der Tat wurde Korkhaus 1948 auf den Lehrstuhl und das Direktorat der Bonner Zahnklinik berufen [Häussermann, 2009; Kirchhoff, 2009; Litten, 2016]. 

Der Name Alfred Kantorowicz ist eng verbunden mit der Entwicklung einer systematischen Jugendzahnpflege. Er gilt als Initiator der zahnärztlichen Prophylaxe und Frühbehandlung und als Vertreter einer sozialen Zahnheilkunde. Sein Konzept der Schulzahnpflege („Bonner System“) mit den automobilen Zahnstationen wurde zu einem international erfolgreichen Modell. Seine Durchschlagskraft verdankte Kantorowicz nicht nur seinem fachlichen Ansehen, sondern auch der Tatsache, dass er in den 1920er-Jahren als sozialdemokratisches Stadtratsmitglied einigen Gestaltungsspielraum besaß. So erreichte er unter anderem, dass die primär dem Zahnärztlichen Institut angegliederte Schulzahnklinik 1927 von der Stadt Bonn übernommen werden konnte. Kantorowicz’ Maßnahmen zeigten rasch Erfolg: Sowohl die kindliche Rachitits- als auch die Kariesinzidenz konnten bis zum Ende der 1920er-Jahre drastisch gesenkt werden. Ähnlich prägend wurde seine frühe Beschäftigung mit der Kieferorthopädie („Bonner Schule“); hier befasste er sich insbesondere mit den Ursachen sowie mit der Diagnostik und Therapie von Kiefer- und Zahnfehlstellungen [Doyum, 1985; Litten, 2016]. 

Forsbach [2006] zufolge wird „keine der Bonner Kliniken und medizinischen Institute [...] so sehr mit dem Namen eines Hochschullehrers in Verbindung gebracht wie die Bonner Zahnklinik“. Auch der Zahnmedizin in Istanbul und der gesamten Türkei konnte Kantorowicz wichtige Impulse verleihen – ein Sachverhalt, der auch dazu führte, dass die Istanbuler Medizinische Bibliothek nach ihm benannt wurde [Kirchhoff, 2010]. 

Schließlich machte Kantorowicz als wissenschaftlicher Autor von sich reden: Zu seinen wichtigsten Schriften zählen die in drei Auflagen erschienene „Klinische Zahnheilkunde“ [Kantorowicz, 1924], das von ihm herausgegebene vierbändige „Handwörterbuch der gesamten Zahnheilkunde“ [Kantorowicz, 1929–1931], die „Planmässige orthodontische Fürsorge“ [Kantorowicz, 1928] und das „Repetitorium der klinischen Zahnheilkunde“ [Kantorowicz, 1949]. Von besonderem historischem Interesse sind schließlich auch die persönlichen Briefe und Selbstzeugnisse [Doyum, 1985; Mettenleiter, 2003].

Univ.-Prof. Dr. mult. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinMedizinische FakultätRWTH Aachen University MTI II,Wendlingweg 2, 52074 Aachendgross@ukaachen.de

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Literaturverzeichnis


1.

Ulrich-Wilhelm Depmer, Weg und Schicksal verfolgter Zahnmediziner während der Zeit des Nationalsozialismus, Diss. med. dent. Kiel 1993, S. 190-193
2.

Ali Vicdani Doyum, Alfred Kantorowicz unter besonderer Berücksichtigung seines Wirkens in İstanbul, Diss. med. dent. Würzburg 1985
3.

Ralf Forsbach, Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“, München 2006, insbes. S. 335-347 ( vgl. auch hier [letzter Abruf: 26.4.2017]
4.

Dominik Groß und Gereon Schäfer, Geschichte der DGZMK 1859-2009, Berlin 2009
5.

Ekkhard Häussermann, Deutsche Zahnärzte 1933-1945, Newsletter/ AKFOS – Interdisziplinärer Arbeitskreis für Forensische Odonto-Stomatologie 16/3 (2009), S. 39-53
6.

Alfred Kantorowicz, Kritik der neuen Methoden der Perkussion, Diss. Univ. Freiburg 1905
7.

Alfred Kantorowicz, Klinische Zahnheilkunde, Berlin 1924 (3. Aufl. 1930)
8.

Alfred Kantorowicz, Planmässige orthodontische Fürsorge, Berlin 1928 
9.

Alfred Kantorowicz, Handwörterbuch der gesamten Zahnheilkunde, Band 1-4, Leipzig 1929–1931
10.

Alfred Kantorowicz, Repetitorium der klinischen Zahnheilkunde für das Staatsexamen, Konstanz 1949
11.

Wolfgang Kirchhoff, Alfred Kantorowicz und Gustav Korkhaus – Ein Thema, zwei Weltanschauungen, Zahnärztliche Mitteilungen 99/19 (2009), S. 112-119
12.

Wolfgang Kirchhoff, Medizinhistorisches Kolloquium. Ärzte und Judentum im Spiegel der Geschichte, Zahnärztliche Mitteilungen 100/4 (2010), S. 116-119
13.

Freddy Litten, Alfred Kantorowicz ‒ Kurzbiographie (19.10.2016), litten.de/fulltext/kantoro.htm [letzter Abruf: 26.4.2017]
14.

Andreas Mettenleiter, Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Tagebücher und Briefe deutschsprachiger Ärzte. Nachträge und Ergänzungen III (I–Z), Würzburger medizinhistorische Mitteilungen  22 (2003), S. 269-305, hier S. 270 f.

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