Zur klinisch-ethischen Falldiskussion

„All-on-4“ oder Zahnerhalt? Die klinische Lösung des Falls

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Karin Groß
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Dominik Groß
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Stefan Wolfart
Eine 63-jährige Patientin wünscht sich den Erhalt ihrer Zähne, sowohl der Hauszahnarzt als auch ein Implantologe raten davon ab. In diesem Fallbericht wird in detaillierten Schritten beschrieben, welche Art der Versorgung tatsächlich durchgeführt wurde.

Die beschriebene ethische Falldiskussion fußt auf einem realen Fall. In diesem Fallbericht wird in detaillierten Schritten beschrieben, welche Art der Versorgung tatsächlich durchgeführt wurde und wie die Patientin auf diese Versorgung reagiert hat.


Somit ergänzt dieser Fallbericht die ethische Fallanalyse in plastischer Weise und lässt die dort getroffenen Abwägungen in einem neuen Licht erscheinen.


Anamnese

Im Januar 2013 stellte sich die damals 63-jährige Patientin erstmalig in der Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Biomaterialien vor. Sie wies einen guten allgemeinen Gesundheitszustand auf und nahm keine Medikamente ein. 

Die beiden bisher konsultierten Zahnärzte hatten ihr für den Oberkiefer (implantat)prothetische Versorgungen auf der Grundlage der Extraktion aller verbliebenen Zähne vorgeschlagen und die geplante Reihenextraktion als alternativlos bezeichnet. Der Wunsch der Patientin war demgegenüber ein festsitzender Zahnersatz (ZE) unter Einbezug aller erhaltungswürdigen Zähne. Die Patientin hörte zufällig ein Radio-Interview mit Prof. Dr. Wolfart, dem Direktor der Klinik für Zahnärztliche Prothetik in Aachen, in dem dieser sich (unter anderem) gegen eine vorschnelle Extraktion grundsätzlich erhaltungswürdiger Zähne aussprach. Vor diesem Hintergrund fasste sie den Entschluss, sich in Aachen vorzustellen.

Ausgangsbefunde und Diagnosen

In der Erstuntersuchung ergab sich ein unauffälliger extraoraler Befund. Die Untersuchung der Lippen, der Zunge und der Mundschleimhaut zeigte keine pathologischen Veränderungen. Die dentale und parodontale Untersuchung ergab multiple insuffiziente Kronen, moderat bis teilweise stark erhöhte Sondierungswerte an mehreren Zähnen und unter anderem eine apikale Aufhellung am endodontisch insuffizient versorgten Zahn 23, der zudem noch bis auf Gingivaniveau kariös war. Der Zahn 12 war im zervikalen Bereich stark verfärbt (Rezession) und laut Röntgenanalyse mit einem Stiftaufbau versorgt. Beide Oberkiefermolaren wiesen einen hohen Attachmentverlust und einen Furkationsgrad von II-III auf. Insgesamt war der Zahnersatz ungefähr 15 Jahre alt. 

Aufgrund der Anamnese sowie der klinischen und der radiologischen Befunde ergaben sich folgende Diagnosen:

  • Extraoral: unauffällig, guter Allgemein- und Ernährungszustand

  • Intraoral: unauffällig

  • Dental: konservierend insuffizient versorgtes adultes Gebiss 

  • Parodontal: leichte (12, 11, 22, 23, 35, 47) und moderate bis schwere lokalisierte, chronische Parodontitis an 16, 21, 36, 44, 46, 26; Furkationsgrad II-III an 16, 26

  • Prothetisch: prothetisch insuffizient versorgtes adultes Gebiss: insuffizienter Kronen- und Brücken-ZE an 16, 13, 23, 26, 36, 37, 44–47

  • Röntgenologisch: generalisierter, leichter, horizontaler Knochenabbau mit teilweise schweren vertikalen Defekten an 16, 26, 36, 44, 46; Sekundärkaries an 13,23; insuffiziente Wurzelkanalfüllungen an 23 und 47 

  • Prognose: nicht erhaltungswürdig für die Zähne 16, 26; zweifelhaft für die Zähne 13, 23, 47



Planung

Aufgrund der hoffnungslosen Prognosen kamen beide Oberkiefermolaren 16 und 26 nicht mehr als Pfeilerzähne in Betracht. Bis auf die Zähne 13, 12 und 23 erschienen die Oberkiefer-Frontzähne erst einmal sicher, so dass der Patientin signalisiert werden konnte, dass nicht alle Oberkieferzähne gezogen werden müssen. 

In Anbetracht der guten Mundhygiene, einer hohen Adhärenz und einer weit überdurchschnittlichen Motivation der Patientin wurde gemeinsam beschlossen, den Erhalt der fraglichen, jedoch strategisch wichtigen Zähne anzustreben. So wurde zunächst die Krone an Zahn 13 entfernt, um die Restzahnhartsubstanz nach Kariesexkavation beurteilen zu können. An Zahn 23 sollte nach Kronenentfernung eine endodontische Behandlung vorgenommen werden. Bei erfolgreichem Verlauf sollte anschließend im Rahmen einer Implantatversorgung in beiden Seitenzahnbereichen eine chirurgische Kronenverlängerung (ARF) an dem Wurzelstamm des Zahnes 23 durchgeführt werden – mit dem Ziel, diesen später als sicheren Pfeiler mit einer Krone versorgen zu können. An Zahn 47 wurde ebenfalls eine Revision der Wurzelfüllung durchgeführt. Die Behandlungsmaßnahmen ergaben im weiteren Verlauf eine Erhaltungsmöglichkeit aller drei betroffenen Pfeilerzähne. 

Nachdem für die Patientin zu Beginn der Behandlung der Zahnerhalt und die Funktion im Vordergrund gestanden hatten, wurde durch ein angefertigtes Frontzahn-Mock-up im Oberkiefer auch der Wunsch nach einer ästhetischen Verbesserung der Situation geweckt. 

Somit ergab sich folgender Therapieplan, der eine ästhetische Neuversorgung in der Front mit der Harmonisierung der beiden zentralen Schneidezähne beinhaltete.

1. Extraktion der Zähne 16 und 26 sowie Eingliederung einer Interimsprothese 

2. Schaffung einer guten Mundhygiene und Beginn einer systematischen PAR-Behandlung

3. Endorevision der Zähne 23, 47 und EKR des Zahnes 13 zwecks Evaluation der Rest-zahnhartsubstanz

4. Sinusaugmentation und (navigierte) Implantation im Oberkieferseitenzahnbereich, chirurgische Kronenverlängerung (ARF) an Zahn 23 

5. EKR der restlichen Pfeiler, Stiftaufbau an 23 mit provisorischer Versorgung und Umbau der Interimsprothese (mit neuer Klammer an 23)

6. Optimierung der rot-weißen Ästhetik an 11, 21 mittels chirurgischer Kronenverlängerung (ARF) an 21 und Rekonstruktion der keratinisierten Gingiva an 46 mittels Freiem Schleimhauttransplantat (FST)

7. Freilegung der Implantate 

8. Prothetische Phase 

9. Eingliederung in ein Nachsorgeprogramm

Vorbehandlung

Nach der gemeinsamen Festlegung der Therapie begann die Behandlung mit einer Hygienesitzung, in der (standardmäßig) die aktuelle Mundhygiene begutachtet, Optimierungspotenziale kommuniziert und Instruktionen gegeben wurden. Anschließend fand eine Professionelle Zahnreinigung statt. Wegen der fraglichen Prognose der beiden Zähne 13 und 23 wurden zunächst Silikonschlüssel im Oberkieferseitenzahnbereich angefertigt. Die Brücken wurden entfernt, die Zähne nach Kariesexkavation evaluiert. Beide Zähne konnten erhalten werden. An Zahn 13 musste lediglich eine Aufbaufüllung gelegt werden, während Zahn 23 bis auf Gingivaniveau kariös war und somit nicht sofort mit einem Provisorium zu versorgen war. Im Anschluss wurde anhand von Duplikaten der Situationsmodelle eine Interimsprothese mit Klammern an den Zähnen 13 und 22 angefertigt. Zahn 23 sollte zunächst verdeckt bleiben, bis die Wurzelfüllung erfolgreich abgeschlossen war und im Seitenzahnbereich die chirurgischen Eingriffe durchgeführt werden konnten.

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