Zum Tag der Zahngesundheit

„Die Pionierarbeit ist geleistet“

Susanne Theisen
Die Mundgesundheit von Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf ist schlechter als im Bevölkerungsdurchschnitt. Mit den neuen präventiven Leistungen, die seit dem 1. Juli 2018 zur Verfügung stehen, wurden bereits Anreize für Zahnärzte geschaffen, sich diesen Patienten verstärkt zu widmen. Wie das gelingen kann, berichten die beiden TdZ-Expertinnen für Pflege und Handicap sowie zwei niedergelassene Kollegen, die sich in ihren Praxen auf diese Patientengruppen eingestellt haben.

Für die Behandlung von Patienten mit Pflegebedarf benötigen Zahnärzte nach Erfahrung von Prof. Dr. Ina Nitschke, Spezialistin für Seniorenzahnmedizin und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ), vor allem ein starkes, strukturiertes und auf dem Gebiet der Seniorenzahnmedizin ausgebildetes Team. „Der Zahnarzt ist besonders auf seine Mitarbeitenden angewiesen, denn die ursprüngliche zahnärztliche Behandlung wandelt sich in eine zahnmedizinische Betreuung, immer an die funktionellen Ansprüche des Betagten und Hochbetagten angepasst“, erklärt Nitschke, diesjährige TdZ-Expertin für den Bereich Pflege. „Gemeinsame Absprachen, wie die Senioren in der Praxis zu empfangen sind, gehören genauso dazu wie Absprachen bezüglich der aufsuchenden Betreuung.“ 

Um Ideen für die gemeinsame Arbeit mit und bei den Senioren zu erhalten, empfiehlt Nitschke gemeinsame Teamfortbildungen. Wer es schafft, den empathischen Umgang, adäquate Hilfsmittel und die Erreichbarkeit der Praxis als Spezialist für Seniorenzahnmedizin zu etablieren, kann für die Praxis das Siegel „Seniorengerechte Praxis“ bei der DGAZ beantragen und ist damit auf der Website der Fachgesellschaft von Patienten über eine Zahnarztsuche auffindbar. 

Behandlung bedeutet dann auch Betreuung

Wer Menschen mit Behinderung in seiner Praxis empfängt, sollte laut Zahnärztin und Gesundheitswissenschaftlerin Dr. Imke Kaschke – TdZ-Expertin für den Bereich Handicap – auf diese Punkte achten: „Vor allem sollte das ganze Team zum ersten Kennenlernen gemeinsam auftreten. Hilfreich sind barrierefreie Informationen in leichter Sprache oder entsprechende Praxisbeschilderungen. Bei Patienten mit schweren Sehbehinderungen kann der Einsatz von Anrufbeantwortern und gesprochenen Informationen helfen. Für Patienten mit Hörminderung stellt die Kommunikation über das Internet oder ein Fax, etwa zur Terminvereinbarung, einen Barriereabbau dar. Man kann zudem bestimmte Sammelsprechzeiten für Wohngruppen anbieten.“

Empfehlenswert ist laut Kaschke, sich auf die Vorlieben der Patienten mit Behinderung einzustellen und vielleicht mit Musik zu behandeln oder bei Menschen mit einer autistischen Behinderung auf eine reizfreie Umgebung zu achten. „In allen Fällen ist Folgendes ganz wichtig“, so Kaschke. „Man braucht bei Menschen mit Behinderung, die oftmals Angst vor der Behandlung haben oder auch Angst, den Zahnarzt mit ihrer Behinderung zu konfrontieren, Geduld und Ruhe. Hektik und Stress gehören nicht dazu. Oftmals hängt der Behandlungserfolg nicht vom Schweregrad der Behinderung ab, sondern vom zwischenmenschlichen Verhältnis. Wenn man über viele Jahre Menschen mit Behinderung betreut, wird man feststellen, dass sich sehr viele zum Schluss in der Behandlung nur noch wenig von anderen Patienten unterscheiden.“

Ihr Tipp: Zahnarztpraxen, die sich im Bereich Behindertenzahnmedizin weiterbilden wollen, können Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderen medizinischen Unterstützungsbedarf (AG ZMB) werden oder deren Fortbildungsangebote auf der Jahrestagung – in diesem Jahr vom 27. bis zum 29. September in Dortmund – besuchen. Auch die Landeszahnärztekammern bieten entsprechende Fortbildungen an. 

„Bauliche Veränderungen waren kaum nötig“ 

Die Kooperation mit einem Seniorenheim motivierte den Berliner Zahnarzt Dr. Helmut Kesler dazu, seine eigene Praxis mehr auf ältere Patienten und Patienten mit Pflegebedarf einzustellen. „Dadurch erkannte ich schnell die Notwendigkeit, Patienten mit eingeschränkter Mobilität verstärkt in unserer Praxis zu behandeln“, berichtet der Niedergelassene. „Dann haben wir den Zugang zu unserer Praxis vereinfacht, indem wir die Stufen durch eine rollstuhlgerechte Rampe ersetzt haben. Umfassende bauliche Veränderungen sind für die Behandlung von Pflegebedürftigen gar nicht zwingend nötig, habe ich festgestellt.“

Viel wichtiger ist aus Sicht des 57-Jährigen, der auch aktives Mitglied der DGAZ ist, die Behandlung des pflegebedürftigen Patienten gut vorzubereiten. Kesler beschäftigt sich daher vor der eigentlichen Behandlung eingehend mit der Anamnese und der rechtlichen Sachlage. „Bevor ich behandeln kann, muss ich wissen, ob der Patient einen Vormund hat, der das absegnen muss“, erklärt er. „Das gilt auch für den Fall, dass der Patient, wenn man ihn im Heim oder zu Hause antrifft, geistig sehr klar und ansprechbar ist.“ Im Seniorenheim sei der Pflegedienstleiter ein guter Ansprechpartner, um sich über Vormundschaften zu informieren. Oder der Blick in die Patientenakte. Im häuslichen Umfeld könne ein ambulanter Pflegedienst weiterhelfen. „Erfährt man auf diesem Weg nichts, muss man das Gespräch mit den Angehörigen suchen. Können Sie nicht belegen, wie die Vormundschaft geregelt ist, ist es dringend ratsam, sich die Behandlung schriftlich erlauben zu lassen. Ohne etwas Schriftliches sollte man nicht behandeln“, so Kesler. Nach entsprechenden Vordrucken kann man sich bei der DGAZ erkundigen.

„Darüber hinaus ist es natürlich wichtig, dass man auf die besonderen körperlichen Befindlichkeiten der Patienten eingeht. Manche Patienten können zum Beispiel nicht den Rollstuhl verlassen und müssen so zwangsläufig in diesem behandelt werden. Andere Patienten haben geistig emotionale Einschränkungen und lassen sich nur mit der Unterstützung von Angehörigen oder Pflegern behandeln“, führt der Zahnarzt aus. 

Generell empfiehlt Kesler den Besuch von Fortbildungen, um sich auf die Behandlung pflegebedürftiger Patienten einzustellen. „Ganz egal, ob es sich um rechtliche Aspekte, um die richtige Ausstattung, die Zusammenstellung eines Hausbesuch-Koffers oder ergonomische Tipps handelt: Die Pionierarbeit ist geleistet und man kann von den gesammelten Erfahrungen der Kollegen profitieren“, erklärt der Berliner. Die praktischen Tipps seien es, die den Unterschied machten. „Man sollte zum Beispiel im Seniorenheim immer an die Prothesenmarkierung denken, um sich unnötige Arbeit zu ersparen.“ Fortbildungen im Bereich Seniorenzahnmedizin und Patienten mit Pflegebedarf zu finden, ist laut Kesler deutschlandweit kein Problem. Sein Team und er bildeten sich regelmäßig im Bereich aufsuchende Behandlung und Behandlung von Patienten mit besonderem Betreuungsbedarf weiter. Gute Ansprechpartner für Angebote seien die Landeszahnärztekammern oder die Länderbeauftragten der DGAZ.

Bei der verstärkten Behandlung pflegebedürftiger Patienten stellt sich Praxisinhabern auch die Frage: Zahlt sich der Aufwand am Ende aus? „Ja“, antwortet Kesler ohne zu zögern. „Zwar ist es aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht nicht ganz so einfach, eine ausreichende Rendite zu erwirtschaften, doch wenn man die Abläufe optimiert, lässt sich ein zumindest zufriedenstellendes Ergebnis erreichen. Wenn man es zulässt, ist darüber hinaus der ideelle Zugewinn in Zahlen nicht zu bemessen. Meine emotional schönsten Erlebnisse als Zahnarzt hatte ich bei Hausbesuchen.“

„Mit einem klaren Konzept rechnet es sich“

Dr. Guido Elsäßer, niedergelassener Zahnarzt in Kernen und Vorstandsmitglied der AG ZMB, war schon bei Praxisgründung im Jahr 1995 klar, dass er die Betreuung von 1.200 Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung übernehmen würde. Nach seiner Assistenzzeit hatte er einen Anruf erhalten vom damaligen Chefarzt des ärztlichen Dienstes einer großen Behindertenwohneinrichtung in der Region, ob er die Betreuung der Bewohner übernehmen wolle. Die Aufgabe reizte ihn und er nahm an.

„Aus diesem Grund hatten wir schon immer eine spezielle Aufteilung der Sprechzeiten. Zu zwei Dritteln behandeln wir nichtbehinderte Patienten, ein Drittel ist für die Special-Care-Sprechstunde reserviert“, erklärt Elsäßer. Die meisten Patienten mit Behinderung, die er in seiner Praxis sieht, seien geistig und mehrfach behindert. Da er eine barrierefreie Praxis hat, kämen aber auch viele Rollstuhlfahrer und immobile pflegebedürftige Patienten. Neben baulicher Barrierefreiheit achten Elsäßer und sein Team auf eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Heimärzten und einem Anästhesieteam. 

Als der Zahnarzt mit 29 Jahren seine Praxis startete, gab es noch keine Fortbildungsmöglichkeiten im Bereich der Behindertenzahnheilkunde – weder für Zahnärzte noch für ihre Mitarbeiter. „Ich hospitierte damals bei Prof. Peter Cichon in Witten-Herdecke. Er hat mich sehr ermutigt“, erinnert sich Elsäßer. Heute gebe es ein breites Angebot. Außerdem passierten Teamfortbildungen aus Erfahrung des Zahnarztes ganz automatisch im Alltag – über „das tägliche Tun, über den Austausch mit den Heilerziehungspflegern und mit den Angehörigen“.

Die Behandlung von Patienten mit Behinderung unterscheidet sich für Elsäßer von der nicht behinderter Patienten häufig nur in der Frage des „Wie?“. Elsäßer: „Wenn wir zum Beispiel Implantate bei entsprechender Indikation setzen, stellt sich die Frage: Geht es im Wachzustand oder besser in Narkose?“ 

Auf die Frage nach der betriebswirtschaftlichen Seite seiner Arbeit antwortet er: „Interessierten jungen Kollegen sage ich immer: Fünf bis zehn Menschen mit schweren Behinderungen kann jede Praxis vertragen auch wenn deren Behandlung völlig defizitär ist. Zehn bis 50 ist schon eine kritische Größe, da der administrative und zeitliche Aufwand enorm höher ist als bei nicht behinderten Patienten. Ab 50 lohnt es sich, ein spezielles Konzept zu entwickeln. Dazu kann die strukturierte Aufklärung der rechtlichen Betreuer und des Heimpersonals gehören oder Genehmigungsverfahren mit den Krankenkassen zum Beispiel zur Krankenbeförderung. Mit einem klaren Konzept rechnet es sich.“

Die neuen Abrechnungspositionen nach § 22a sind laut dem Praxisinhaber sehr interessant. „Wie sich diese betriebswirtschaftlich auswirken, muss man noch abwarten. Ich sehe aber neben dem Benefit für die Patienten durchaus auch eine wirtschaftliche Verbesserung für uns Zahnärzte“, so Elsäßer.

Eine gut durchmischte Praxis zu haben, sei aber nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht ratsam, erklärt der Zahnarzt: „Viele Patienten mit Behinderung und auch deren Umfeld benötigen häufig viel Geduld und Verständnis. Die psychische und auch die physische Belastung ist höher und wäre fünf Tage in der Woche auch nicht leistbar, zumal die Menschen mit Behinderung auch immer älter und pflegebedürftiger werden.“ Zudem sei es hilfreich, bei behinderten Patienten, die sich nicht mitteilen können, auf die Erfahrung aus der Behandlung von nicht behinderten Patienten zurückgreifen zu können, besonders bei der Schmerzdiagnostik.

„Fachlich und menschlich so abwechslungsreich!“

Nach 23 Jahren in eigener Praxis lautet Elsäßers Fazit: „Die Arbeit mit Menschen mit Behinderung ist fachlich und menschlich so abwechslungsreich und bietet immer wieder neue Facetten, dass die Freude am Zahnarzt-Sein bis heute anhält.“

Susanne TheisenFreie Journalistin

Gesund im Mund – bei Handicap und Pflegebedarf

In Deutschland leben nach Angaben des Statistischen Bundesamts 7,6 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung. Die Zahl der Pflegebedürftigen belief sich Ende 2015 auf rund 2,86 Millionen Menschen, kann aber laut Prognose der Statistiker bis 2030 auf 3,4 Millionen ansteigen, bis 2040 sogar auf 4,5 Millionen. Die Mundgesundheit in diesen beiden Gruppen ist schlechter als im Bevölkerungsdurchschnitts. Vor allem ihr Risiko für Karies-, Parodontal- und Mundschleimhauterkrankungen ist deutlich erhöht. 

Der Tag der Zahngesundheit richtet in diesem Jahr am 25. September daher den Fokus auf die Mundgesundheit dieser beiden Patientengruppen. Weitere Informationen zum Aktionstag, verschiedene Materialien sowie eine Übersicht über geplante Veranstaltungen finden Sie unter: www.tagderzahngesundheit.de.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.