Frankreich

Das Unternehmen Dentexia

Boni für Vertragsabschlüsse, Verkäufer, die Implantate setzen, eklatante Hygienemängel: In Frankreich zieht der Skandal um die bankrotte Dentalkette Dentexia Kreise. Hier wurden Patienten dazu animiert, sich für Implantate zu verschulden – und erhielten dafür keine oder eine minderwertige Versorgung. Der Gründer sitzt mittlerweile im Gefängnis. Aber was ist mit den 3.000 Betroffenen?

Am 4. März 2016 wurde Dentexia für bankrott erklärt, am 3. Mai 2016 landete der erste Fall vor dem Obersten Gericht von Chalon-sur-Saone in Saone-et-Loire: Massive Beschwerden über schlechte, falsche und abgebrochene Behandlungen hatten die Ermittlungen ausgelöst.

Zwei Jahre später, am 20. September 2018, werden der Gründer Pascal Steichen, seine Ehefrau sowie der Schatzmeister in Untersuchungshaft genommen. Die Richter verdächtigen das Trio gravierender Straftaten, darunter „betrügerische Geschäftspraktiken“, „schwere Täuschung“, „organisierte Geldwäsche“, „Vertrauensbruch“, „Missbrauch von Unternehmenseigentum“, „Steuerhinterziehung“ und „organisierter Bandenbetrug“. Insgesamt 22 Millionen Euro Schulden hat Steichen hinterlassen, vier von fünf Millionen bereits bezahlten Behandlungen wurden niemals durchgeführt, etwa 60 Gehälter sind noch offen.

480 Euro für ein Implantat, 390 für eine Krone

Alles beginnt mit der „Loi Bachelot“, einem 2009 in Frankreich verabschiedeten Gesetz, das es gemeinnützigen Vereinigungen, sogenannten Associationen, im Gesundheitssektor erlaubt, sich an rein profitorientierte Firmen anzudocken. Dieses Schlupfloch nutzt der ehemalige Berater Steichen, als er 2011 nach ersten Erfahrungen im Dentalmarkt die Association Dentexia gründet. Sein vorgebliches Ziel: „Die Zahngesundheit für alle zugänglich zu machen – mit Angeboten, die zwei- bis dreimal niedriger als der Marktpreis sind!“ 480 Euro soll ein Implantat kosten, 390 Euro eine Keramikkrone. 

„Ein Implantologe ging in steriler OP-Kleidung auf die Toilette. Ein anderer fand die Röntgenaufnahmen eines Patienten nicht und fragte: „Wie viele Implantate wurden ihm verkauft?“ „Elf.“ „Gut, ich inseriere elf.“ (Ohne überhaupt zu wissen, wo.)“

Dr. Jean-Claude Pagès in seinem Tagebuch „Steichen m‘a tuer“

Das entspricht der Hälfte der in Frankreich üblichen Sätze. Dumpingpreise. Das Angebot richtet sich explizit an Bedürftige – einkommensschwache Bürger, die über die Couverture de maladie universelle (CMU) krankenversichert sind. Eingestellt werden vor allem unerfahrene Assistenzzahnärzte – und Verkaufsassistenten. Etwa 200.000 bis 300.000 Euro Umsatz erwirtschaftet eine freie Zahnarztpraxis durchschnittlich pro Jahr. Steichens Vorgabe lautet: 90.000 Euro pro Dépendance – und pro Monat.

Dr. Jean-Claude Pagès ist nicht der Einzige, der an die Sache glaubt. Der Implantologe baut die Zentren unter Steichens Aufsicht auf und sieht sich als „Papst der Luxuszahnmedizin, der sein Talent in den Dienst der Ausgeschlossenen stellt“. Für diese Fehleinschätzung muss er später büßen: Er wird am Ende aus der Kammer ausgeschlossen, ist finanziell ruiniert, alkoholabhängig. Bis heute leidet er an Depressionen. In seinem offenen Tagebuch „Steichen m‘a tuer“ („Steichen hat mich umgebracht“) erzählt er, wie er Stück für Stück hinter Steichens Fassade blickte, aber keinen Weg sah, einen Schlussstrich zu ziehen.

Christine Teihol

„Zu Hause bin ich den ganzen Tag zahnlos“

„Zu Hause bin ich den ganzen Tag zahnlos“, erzählt die 60-jährige Christine Teihol. Die Französin zahlte Dentexia 12.000 Euro für Implantate und Kronen, um ihre durch Zahnfleischerkrankungen verlorenen Zähne zu ersetzen. Nachdem das Zentrum in diesem Frühjahr pleite ging, bleibt sie zurück – nur mit den Schrauben, die aus ihrem Zahnfleisch ragen – schwarze Stümpfe für die weißen Keramikkronen, die sie nie bekam. „Glauben Sie mir: Auch nach vielen Jahren Ehe ist das sehr hart für ihr Privatleben.“

aus: Politico vom 26. Juli 2016

Auch dank Pagès erfährt die Öffentlichkeit, wie Steichen vorging, um sich zu bereichern: Mit aggressiven Spots bewirbt er sein Billigangebot. Bereits beim ersten Termin erfasst der Empfang, welche Patienten für eine Implantatbehandlung infrage kommen. Wer eine andere – minimalinvasivere oder günstigere – Versorgung benötigt, ist unerwünscht, wird weggeschickt. Für die Erläuterung des Behandlungsplans sowie für die Unterzeichnung der Einverständniserklärung und der Finanzvereinbarung steht ein Zeitfenster von insgesamt 45 Minuten zur Verfügung. Bezahlt werden muss im Voraus. Eine mit Dentexia verbandelte Finanzfirma (Franfinance) vergibt die Kredite. Leitfäden geben den Ablauf strikt vor: Implantat verkaufen, Rechnung stellen, Bargeld einziehen beziehungsweise Kredit vergeben und – falls Material, Zeit und Geld vorhanden – die Behandlung ausführen.

Verkäufer setzten Implantate

Es dauert nicht lange, bis das System kollabiert: Die Preise sind viel zu niedrig kalkuliert, so dass Rechnungen nicht bezahlt werden. Lieferanten behalten daraufhin die Ware ein. Die Folge: Es fehlt überall an Material. Behandlungen können kaum noch durchgeführt werden. Trotzdem werden immer mehr Patienten akquiriert, immer mehr Verträge abgeschlossen. Verkäufer erhalten, vermutet Pagès, einen Bonus. Viele Zahnärzte kündigen in dieser Situation. Zurück bleiben: die Unfähigen, die Verzweifelten und die Skrupellosen. Immer mehr Fachfremde werden eingesetzt: zur Rekrutierung, für die Verträge, aber auch zur Überprüfung der Hygienevorschriften – und für die Behandlung. Da die französischen Zahntechniker nicht bezahlt wurden, wird ein Labor in Vietnam beauftragt: mit miserablen Leistungen. 24 der 25 Implantologen beschweren sich, dass die Abutments nicht halten. Pagès wird Zeuge, wie ein Angestellter, der zuständig für die Kundenakquise war– kein Zahnarzt! –, auf Steichens Anweisung in Lyon Implantate setzt. Der Verkäufer hatte offenbar einem Implantologen beim Implantieren kurz über die Schulter geschaut, dann zog er sich den Chirurgenkittel an und implantierte selber.

Fünf Minuten sind für einen Sinuslift vorgesehen, 45 für die Herstellung einer Prothese. Berufsvorschriften und Leitlinien werden ignoriert: Selbst bei Kontraindikationen – Rauchen – wird implantiert.

„Einige Prothetiker schickten mir Fotos von unbrauchbaren Präparationen und Abdrücken aus dem Labor mit der Frage: „Was mache ich damit?“ Die Antwort lautete immer: „Nichts, du nimmst den Abdruck.““

Dr. Jean-Claude Pagès in seinem Tagebuch „Steichen m‘a tuer“

Die geltenden Hygieneverordnungen werden unterlaufen: Geräte werden nicht ordnungsgemäß gereinigt, Sterilisatoren unsachgemäß weil von Laien betrieben, und für Ultraschallwannen gibt es kein Budget. Immer Praxen beschweren sich über schmutzige Instrumente. „Die geleistete Arbeit entspricht absolut nicht den Mindeststandards“, resümiert Pagès.

Im Frühjahr 2016 fliegt Steichen schließlich endgültig auf. Die Bilanz: Neun von zehn Patienten, fast 3.000, die bei Dentexia behandelt worden waren, blieben mit unvollendeten Therapien oder den Folgen von Behandlungsfehlern zurück. Zum Teil wurde die Versorgung über Nacht abgebrochen. Auf den extra aufgenommenen Krediten bleiben sie sitzen. „Sie sind in der Falle, weil sie ihre Therapie im Voraus, aus eigenen Mitteln oder durch Darlehen bezahlt haben“, heißt es auf der Website des „Collectif contre Dentexia“, das die Opfer vertritt.

Insgesamt 1.553 Patientenbeschwerden haben Pariser Richter in einem bundesweiten Dossier erfasst. Sie untersuchen sowohl die Gründe für dem Zusammenbruch des Konglomerats als auch die Fachmängel bei den Behandlungen.

„Der beste Zahn ist das Implantat!“

Pascal Steichenm, Ex-Dentexia-Präsident

Im Fokus stehen die Dentexia-Zentren in Paris, Colombes, Lyon, Vaulx-en-Velin und Châlon-sur-Saône. Die damalige Gesundheitsministerin Marisol Touraine kündigte auf Druck die Freigabe „finanzieller Mittel“ für die Opfer an und bat die regionalen Gesundheitsbehörden (ARS) und das Bundessozialamt (IGAS) um Unterstützung bei der Betreuung der Patienten.

Vier angeklagte Zahnärzte – die Sündenböcke?

Anfang Oktober vergangenen Jahres wurden außerdem vier ehemalige Zahnärzte von Dentexia, die in Zentren in Chalon-sur-Saône arbeiteten, mit einem vorübergehenden Berufsverbot belegt. Die Disziplinarstelle der regionalen Zahnärztekammer in Dijon untersagte ihnen unter Strafe die Berufsausübung für einen Zeitraum von sechs Monaten. Für ihren Anwalt Philippe Rudyard Bessis sind seine Mandanten die Bauernopfer: „Insgesamt arbeiteten 23 Zahnärzte in der Kette, und diese vier müssen jetzt als Sündenböcke herhalten!“

Steichens Methoden

Die Schulungsvideos

Nach einer telefonischen Auswahl wurden die Patienten in einer Dentexia-Praxis empfangen, wo ein Zahnarzt eine Anamnese durchführte und über den Mundgesundheitszustand informierte. Wenn alles nach Plan lief, war der Patient am Ende überzeugt, dass sich seine Zähne in einem sehr viel schlechteren Zustand befanden, als er zuvor dachte. Die im Intranet des Unternehmens geposteten Schulungsvideos geben Aufschluss über Steichens Methoden: Darin lernen die „Klinischen Berater“, die Angstzustände des Patienten einzuschätzen. Je besorgter der Patient ist, desto besser. Hat er nicht genug Angst, muss der Berater das Stresslevel erhöhen: „Wenn wir nichts tun, wird sich der Knochen zurückbilden und die anderen Zähne werden sich lockern ...“

Denn ein Patient „in Panik“ wird wahrscheinlich nicht nachdenken (und den Betrug erahnen). Beim ersten Termin soll der Berater allerdings keine Therapie vorschlagen. Im Gegenteil: „Lassen Sie den Patienten für eine gute Woche schmoren!“

francetvinfo.fr, Auszug aus: „Dentexia: le scandale des sans-dents“, 27. April 2017

Der Berufsverband zahnärztlicher Implantologen von Saône-et-Loire sieht das anders. Er bezichtigt die angeklagten Zahnärzte, die Gesundheit der Patienen aufs Spiel gesetzt und das ärztliche Ethos verletzt zu haben. Es gebe Fälle von Verstümmelung, Überbehandlung und mangelnder Aufklärung. „Wenn es diese Profitgier nicht gegeben hätte, wäre es nicht zu diesen Exzessen gekommen“, sagte die Anwältin des Verbands, Marie Vicelli, bei der Anhörung.

Ein Zahnarzt könne sich nicht mit dem Argument aus der Verantwortung ziehen, er habe in einer „besonderen“ Umgebung, wie einem Billig-Dentalzentrum gearbeitet, bekräftigt Marc Sabek, Vizepräsident des Verbands zahnärztlicher Implantologen, Chirurgiens-Dentistes de France (CNSD).

„Wir sind Opfer des Systems, das der Gründer von Dentexia, Pascal Steichen, ins Leben gerufen hat“, sagt Abdel Aouacheria, Sprecher des Collectif contre Dentexia und selbst eines der Opfer. Ihn erreichten seit Beginn der Affäre fast 25.000 Nachrichten – Briefe, E-Mails und Anrufe von Geschädigten, die ihm von ihrem Leid erzählten: große Schmerzen, entstellte Münder, soziale Ausgrenzung, Depressionen, Selbstmordversuche. „Auf der anderen Seite gibt es die, die diesen Skandal ermöglicht haben, in diesem Fall der Gesetzgeber und die Gesundheitsbehörden. Und schließlich diejenigen, die alles getan haben, um ihn am Laufen zu halten: die Ordre National du Dentiste, die eine echte Vendetta gegen preiswerte Versorgungen organisierte, um ihr Monopol zu schützen.“

„Wir sind Opfer des Systems“

Die Opfer gehen als „Sans Dents“, die „Zahnlosen“, auf die Straße, „sans dents, mais pas sans voix“, „Zahnlos, aber nicht ohne Stimme“. Die Bezeichnung ist eine Anspielung auf den ehemaligen Präsidenten François Hollande. Der Sozialist hatte 2008 Leute aus der Unterschicht als „Zahnlose“ verhöhnt.

Abdel Aouacheria

„Der Absturz konnte nicht vermieden werden!“

Aus meiner Sicht handelt es sich bei Dentexia um die Kommerzialisierung der Zahnmedizin. Nur das frische Geld, das von neuen Patienten vor Behandlungsbeginn eingebracht wird [...], kann die Versorgung früherer Patienten finanzieren. Grundsätzlich ist die Dentexia-Affäre für mich die gescheiterte Geschichte einer Analogie zu den „Billigfliegern“ der Zivilluftfahrt. Der Kunde, der sein Ticket bei einem Billigunternehmen kauft, [...] wird sich mit Handgepäck und einem Glas Wasser statt mit einem großen Koffer und einem Erfrischungsgetränk zufriedengeben, aber er weiß, dass das Flugzeug normalerweise nicht abstürzt. Bei Dentexia aber war dieses Risiko einkalkuliert. Mehr noch: Der Absturz konnte nicht vermieden werden.

Abdel Aouacheria, Sprecher des Collectif contre Dentexia, im Dezember 2018, gekürztes Statement 

Ziel sei, eine Entschädigung von Axa, der Versicherungsgesellschaft von Dentexia, zu bekommen. „Alles wurde zum Nachteil des Patienten geregelt“, sagt Aouacheria und fügt als Beleg die Kopie eines Versicherungsscheins bei. Dabei handele sich eigentlich um einen Nichtversicherungsvertrag, da alle Behandlungen vertraglich ausgeschlossen seien: „Nichts, was bei Dentexia gemacht wurde, könnte also demnach zu einer Opferentschädigung führen.“

Odontological Efficiencies heißt die Firma, die Steichen während seiner Beraterzeit gegründet hatte. Eigentlich hätte sie längst zumachen müssen, doch Steichen führte sie als Verwaltungsgesellschaft für die Dentexia-Praxen und -Satelliten fort – und ließ sich regelmäßig über NPS dorthin Gelder transferieren. Über den Verbleib der Mittel haben wir nichts herausfinden können.

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