Gedanken zum Brexit und seinen Folgen

Schickt Boote – Die Insel geht unter!

Sven Thiele
In den Medien geht es im Augenblick kaum noch um ein anderes Thema als den Brexit. Der Tag für den geplanten Ausstieg der Briten aus der EU rückt unaufhaltsam näher und niemand weiß, ob es einen Deal zwischen dem Königreich und der EU geben wird. Doch der Exodus der Fachkräfte hat schon begonnen.

Vermeintliche Experten fabulieren darüber, dass es doch möglich sein müsse, den Termin nach hinten zu verschieben, andere wiederum plädieren gleich für ein neues Referendum. Ganz Beherzte fragen furchtlos-fröhlich in die Welt hinaus, ob es denn nicht auch noch die Möglichkeit der Absage des Brexit gebe. Nicht zuletzt Herr Soros, der einst mit seiner Wette am Geldmarkt gegen das Britische Pfund eben jenes in eine schwere Krise stürzte, dabei sehr viel Geld verdiente und sich jetzt unwidersprochen verantwortlich fühlt, aus erklärt humanitären Gründen alles dafür zu tun, Großbritannien in der EU zu halten. Wofür er auch gleich einmal eine Kampagne ins Leben rief und (offiziell) eine Million US-Dollar bereitstellte. 

All das zeigt, dass man die Engländer nicht wirklich verstanden hat oder verstehen will. Bürokraten der EU gaben direkt nach dem Brexit-Referendum breitschultrig Interviews, dass es den Briten vonseiten der EU nicht leichtgemacht werde, die Gemeinschaft zu verlassen. Nebenbei bemerkt, offenbarte dies ein seltsames Demokratieverständnis. Im Grunde genommen hat sich die Stimmung im Land seit dem Referendum auch nicht gravierend verändert und Kommentare wie „aber die Jugend ist mehrheitlich für einen Verbleib“ sind schlicht und ergreifend falsch. 

Top-Argument: die Kontrolle der Außengrenzen

Wenn man die Chance hat, sich täglich mit vielen unterschiedlichen Menschen zu unterhalten, werden schnell die Beweggründe für einen Abschied aus der EU klar. Bei etlichen Gesprächspartnern, die für den Brexit gestimmt haben (Engländer sind in ihren Antworten zu Beginn der Unterhaltung sehr vorsichtig, schließlich sprechen sie ja mit einem Immigranten), ist das wohl am meisten genannte Argument die Kontrolle über ihre Außengrenzen. Immer wieder betonen sie, dass sie keine Probleme mit den hier lebenden und arbeitenden Ausländern hätten, aber dass sie keinen unkontrollierten Zuzug möchten. 

Wer sich in der Nachkriegsgeschichte des Königreichs ein wenig auskennt, der kann diese Begründung durchaus verstehen. 1947 kamen über 60.000 Inder nach der Unabhängigkeit Indiens ins Land und da Großbritannien Arbeitskräfte zum Wiederaufbau des Landes benötigte, wurde 1948 mit dem British Nationality Act allen Bürgern des Commonwealth das Recht zum Leben und Arbeiten auf der Insel gewährt. Nachdem Hunderttausende gekommen waren, gab es 1962 einen Ausländeranteil von etwa fünf Prozent auf der Insel und nach mehreren Rassenkrawallen war Schluss mit der freien Einreise. Bis 1971 wurden die entsprechenden Gesetze immer weiter verschärft. John Enoch Powell, ein britischer Politiker und Gesundheitsminister, sprach von „Strömen aus Blut“, die Großbritannien unwiderruflich und unumkehrbar verändern werden. Was er damit meinte und wie richtig er mit seiner Einschätzung lag, kann heute in vielen Ecken, insbesondere im Norden und Osten Londons, besichtigt werden.

Mit dem Beitritt osteuropäischer Länder zur EU und der folgenden Personenfreizügigkeit kamen viele junge Menschen aus Polen, Rumänien, Ungarn und der Slowakei. Warum an der polnisch-ukrainischen Grenze ohne Chancen sein Leben verbringen, wenn London scheinbar unendliche Möglichkeiten bietet! 

Viele kamen und stellten schnell fest, dass trotz vernünftiger (Hochschul-)Ausbildung in ihren Heimatländern hier nur ein Job im Niedriglohnsektor zu bekommen war: Zimmermädchen im Hotel, Garderobenfrau in Clubs oder eine Karriere in einem Reinigungsunternehmen. Sehr viele von ihnen versuchten mit einer zweiten Ausbildung, die sie auch meist selbst bezahlen mussten, in Großbritannien doch noch etwas auf die Beine zu stellen. Inzwischen, 15 Jahre später, haben die Neubürger geheiratet, Kinder bekommen und beim Blick zurück auf die Zeit seit 2004 festgestellt, dass sie immer noch „die Ausländer“ sind und zum Teil mit bettelnden Roma und Sinti am Marble Arch verglichen werden. 

Helferinnen und Zahnärzte packen jetzt ihre Koffer

Die Kinder sind inzwischen im Einschulungsalter. Für viele Immigranten stellt sich da die Frage, was sie in Zukunft mit ihrem und dem Leben ihrer Kinder machen (sollen). Denn sowohl in Polen als auch in Rumänien geht es wirtschaftlich bergauf und die Immigranten verfügen sowohl über größtenteils sehr gute englische Sprachkenntnisse als auch über ein paar Ersparnisse und wertvolle Auslandserfahrung in einem zutiefst neoliberalen System. Seit zwei Jahren hat das Britische Pfund gegenüber dem Euro deutlich an Wert verloren, Überweisungen in die Heimat sind weniger attraktiv und die Inflationsrate im Land selbst stieg von 0,04 Prozent im Jahr 2015 auf knapp drei Prozent in 2017 und 2018.

Kein Wunder also, dass Krankenschwestern, Helferinnen, Ärzte und Zahnärzte ihre Koffer packen und zurück in ihr Heimatland reisen. Das NHS in England kommt in dieser Situation in schweres Fahrwasser. 

Nicht nur, dass diesen Fachkräften nach dem Brexit-Votum ein höheres Einkommen angeboten wurde, es gab auch die Schlagzeile, dass sich Großbritannien an Ärzte und Schwestern in aller Welt wendet mit dem Aufruf, ins Land zu kommen: „Wir benötigen 40.000.“ Ob eine Gehaltserhöhung die Lage verbessern kann, ist fraglich. Zumal es diese in den Arzt- und Zahnarztpraxen wohl kaum geben wird, auch wenn es hier für die Kolleginnen und Kollegen immer schwieriger wird, noch Personal zu finden. Helferinnenschulen (die hier privat betrieben werden) mussten schließen, weil die Nachfrage fehlt. 

Inzwischen machten unter vielen Immigranten Gerüchte die Runde, die zu einer weiteren Verunsicherung beitragen. So hieß es, alle Ost-EU-Ausländer müssten das Land nach einem Brexit verlassen. Der Brexit kann wohl eher als eine Art Katalysator für den Exodus an medizinischen Fachkräften verstanden werden. Die Frage, die jedoch bleibt, und die ich eindeutig mit „Nein“ beantworte, ist die: „Wird es überhaupt einen Brexit geben?“ 

 „Wir benötigen 40.000!“

Weder die politischen Eliten in Brüssel oder in London noch große Teile der Wirtschaft und der Finanzindustrie haben ein Interesse an einem Brexit. Und wenn eine „Remainerin“ als Regierungschefin im Königreich mit Brexit-Gegnern in Brüssel verhandelt, was soll dabei anderes herauskommen, als wenn der Papst mit dem Patriarchen von Konstantinopel über die Genehmigung von Schwangerschaftsabbrüchen verhandelt? Allerdings zeigen die seit einiger Zeit laufenden Medienkampagnen zu den bitteren Folgen eines Brexit Wirkung, egal, ob über Medikamentenengpässe, eine schlechtere gesundheitliche Versorgung oder Lebensmittelknappheit palavert wird. Und je mehr man in Deutschland über die armen Briten in den Medien berichtet, desto mehr meint man eigentlich die nachteiligen Folgen eines Brexit für die EU und Deutschland im Speziellen. So würde im EU-Rat die Sperrminorität fallen, die deutsche Autoindustrie einen wichtigen Absatz- und Zulieferermarkt verlieren, die Franzosen müssten ihren Wein und Käse selbst konsumieren und Spanien und Holland gingen in Tomaten unter.

Sicherlich, mit dem Referendum hat ein Volk demokratisch seine Meinung geäußert, die darauffolgenden zwei Jahre haben sowohl politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich viel Schaden angerichtet. Jedoch ist dies wohl in erster Linie auf das Verhalten von Politikern auf beiden Seiten des Ärmelkanals zurückzuführen. Und wenn der Brexit jetzt doch nicht kommt, der Platz reicht an dieser Stelle nicht aus, um dies in Einzelheiten zu erklären, so wäre das Königreich in seiner Reputation nach außen noch weiter geschwächt, als es nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg und dem Verlust der weltumspannenden Kolonien der Fall war.

Sven Thiele ist Zahnarzt, Autor und Dozent am Londoner King‘s College. Regelmäßig schreibt er über die Zahnheilkunde im Vereinigten Königreich, unter anderem in dem Blog www.foreigndentist.wordpress.com (deutsch). 

Dr. Sven Thiele

Sven Thiele ist Zahnarzt, Autor und Dozent am Londoner King‘s College. Regelmäßig schreibt er über die Zahnheilkunde im Vereinigten Königreich, u.a. in dem Bloghttps://foreigndentist.wordpress.com(deutsch). 

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.