MKG-Chirurgie

Totaler Kiefergelenkersatz nach Weisheitszahnextraktion

Coordt Alexander Büddicker
Die klinische Praxis zeigt uns immer wieder für den Patienten geradezu schicksalhafte Krankheitsverläufe, deren Ätiologie auch nach umfangreicher Ursachensuche unklar bleibt. Im vorliegenden Fall bildet die Entfernung eines Weisheitszahns den Ausgangspunkt für eine drei Jahre andauernde Behandlung, die nun zu einem totalen Kiefergelenkersatz führte.

Eine gesunde 23-jährige Patientin stellte sich mit einem submukösen Abszess und beginnendem Wangeninfiltrat rechts bei Zustand nach Weisheitszahnentfernung der Zähne 18, 28, 38, 48 (Abbildung 1) alio loco im Notdienst unserer MKG-chirurgischen Abteilung Anfang 2015 vor. Nach Abszessinzision, Drainage und Gabe eines oralen Antibiotikums (Clindamycin) kam es zunächst schnell zu einer Verbesserung der klinischen Situation, so dass nach unserer Behandlung die weitere Nachsorge durch den niedergelassenen Zahnarzt erfolgte.

Fünf Monate später wurde die Patientin mit rezidivierenden Wundproblemen in Regio 048 und Zustand nach Wundrevision beim Zahnarzt erneut vorstellig. Ein nun von uns erstelltes Halbseiten-OPG (Abbildung 2) zeigte einen periapikal verbreiterten PA-Spalt des Zahns 47 und eine leere, unscharf begrenzte Extraktionsalveole Regio 048. Wir führten eine erneute ambulante Wundrevision und plastische Deckung durch und rezeptierten ein orales Analgetikum (Novalgin) und ein orales Antibiotikum (Clindamycin). Eine Ultraschalluntersuchung erbrachte lediglich den Verdacht auf reaktive Lymphknoten unterhalb des rechten Kieferwinkels jugulo-digastrisch.

Innerhalb der nächsten acht Wochen, unter laufender oraler Antibiotikatherapie, kam es zunächst erneut zu einer Beschwerdebesserung. Als plötzlich wieder stärkere Schmerzen im Unterkiefer auf der rechten Seite auftraten, zeigte sich im erneuten OPG nun eine Osteomyelitis in regio 048 bis zum Processus muscularis (Abbildung 3). Hier wurde stationär, unter intravenöser Antibiose, die Dekortikation, die Entfernung des gelockerten und schmerzhaften Zahns 47, die Einlage von Gentamycinschwämmchen und plastische Deckung durchgeführt, sowie eine naso-gastrale Ernährungssonde appliziert. Auf eine Kontinuitätsresektion und Anlage einer Reko-Platte konnte zunächst verzichtet (Abbildung 4) werden.

Im weiteren Verlauf von 2016 bis Anfang 2017 erfolgten aufgrund rezidivierender Beschwerden eine hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) in der Uniklinik in Düsseldorf und auch eine weitere Dekortikation in der MKG-Abteilung der Kollegen. Die regelmäßigen OPG-Kontrollen in der Zeit zeigten eine sklerosierende Osteomyelitis beziehungsweise eine Sklerosierung der Mandibula (Abbildung 5).

Im Februar 2017 (Abbildung 6) zeigte sich dann aber eine erneute Knochendestruktion im Sinne einer Osteomyelitis mit Beteiligung des Rest-Processus muscularis, des Collums und des Capitulums, so dass erneut stationär eine Dekortikation vom Capitulum rechts bis regio 047 von i.o. erfolgte (Abbildung 7). Die Histologie erbrachte eine gering chronische, mäßig floride Osteomyelitis mit gesteigertem Knochenabbau und Knochenumbau und die Mikrobiologie Streptococcus parasanguinis und gordonii, also durchaus Erreger der physiologischen Mundflora.

Von März 2017 bis Anfang 2018 kam es unter der Langzeitantibiotikatherapie und einer zusätzlichen oralen Cortisongabe zu einer klinisch akzeptablen Stabilisierung.

Aufgrund einer erneuten starken Zunahme der Beschwerden 2018 war der Leidensdruck der Patientin nach drei Jahren nun so groß, dass sie nach Bestätigung der erneuten Aktivitätszunahmen im Bereich des Capitulums in der Knochenszintigrafie und einer erneuten Osteolyse und in der CT im Bereich des aufsteigenden Unterkieferastes rechts und des Capitulums die Planung eines total-endoprothetischen Kiefergelenkersatzes wünschte (Abbildungen 8a bis 8c).

Dieser erfolgte nach Planung einer individuell angefertigten Gelenkprothese mit Resektion des rechten Rest-Caputs, des Collums und des Unterkiefers bis regio 44. Aus Gewichtsgründen wurde hier eine Titanlegierung verwendet und die Platte bis regio 34, 35 extendiert, um bei einer möglichen Progression der Osteomyelitis noch weitere Resektionsmöglichkeiten zu haben (Abbildung 9). Der Eingriff verlief komplikationslos und im weiteren postoperativen Verlauf berichtete die Patientin lediglich über Wärmesensationen und leichte Schwellungen.

Sollte es zu einer klinischen und radiologischen Remission kommen, wäre eine Rekonstruktion des Unterkiefers mit einem mikrovaskulär gestielten Beckenkammtransplantat möglich, dies wurde im individuellen Design der in situ befindlichen Platte entsprechend berücksichtigt.

Im Rahmen einer letztmaligen Wiedervorstellung im Oktober 2018 war die Okklusion regelgerecht. Die extraoralen Narben waren reizlos, nicht überwärmt und die Mundöffnung war bei 30 mm (SKD) Schneidekantendistanz gut. Histologisch ergab sich im resezierten Unterkiefer eine Knochensklerose mit mäßig chronischer Entzündung.

Diskussion

Im Unterschied zur Bisphosphonat-assoziierten Kiefernekrose (BP-ONJ) und der Osteoradionekrose, der zirkumskripten Osteomyelitis (Alveolitis sicca) oder Wundinfekten ist die primär chronische Osteomyelitis – synonym aufgrund ihrer radiologischen Veränderungen häufig primär sklerosierende Osteomyelitis [van de Meent et al., 2018] genannt – nach Zahnentfernung eine eher seltene Komplikation [Langie et al., 2011; Muraleedharan, 2015].

Die Ätiologie ist unklar. Wie im vorliegenden Fall sind meist keine spezifischen Erreger nachweisbar. Auslöser sind häufig dentogene Entzündungsherde. Es ist natürlich unklar, warum im vorliegenden Fall eine junge, gesunde Frau ohne Risikofaktoren, ohne Medikamente nach anamnestisch problemloser Weisheitszahnentfernung, ohne das Vorliegen von Sequestern oder Wurzelresten eine solch schwere Erkrankung des Kiefers entwickelt, die bis hin zur Kontinuitätsresektion mit Exartikulation und totalendoprothetischem Kiefergelenkersatz führte [Patel et al., 2010].

Letztlich haben alle Therapieansätze und -versuche mit Wundrevisionen, Dekortikationen, oraler Antibiotikatherapie, intravenöser Antibiotikatherapie, systemischer Kortisontherapie, hyperbarer Sauerstofftherapie (HBO) keine „Heilung“ gebracht und zu dem beschriebenen, fast schon als schicksalhaft zu bezeichnenden Vorgehen bei der inzwischen 26-jährigen Frau geführt [Prathap et al., 2016].

Coordt Alexander Büddicker

Leitender Oberarzt
Diakonie Klinikum GmbH – Jung-Stilling-Krankenhaus,
Abteilung Mund-, Kiefer- und Gesichts-Chirurgie
Wichernstr. 40, 57074 Siegen
Coordt-Alexander.Bueddicker@diakonie-sw.de

Literaturliste

1.) Radiographic characteristics of chronic diffuse sclerosing osteomyelitis/tendoperiostitis of the mandible, van de Meent et al., Journal of craniomaxillofacial surgery 2018

2.) Osteomyelitis of the temporomandibular joint secondary to dental extraction R. Langie et al, Brazil, Oral and maxillofacial surgery 2011

3.) An etiological dilemma in osteomyelitis: A case report. Muraleedharan, India, Journal of Indian Academy of oral medicine and radiology, 2015

4.) Osteomyelitis presenting in 2 Patients: a challenging disease to manage. Patel et al., British Dental Journal, 2010

5.) Osteomyelitis of lower jaw following extraction of third molar in a young adult. Prathap et al, International journal of oral health and medical research, 2016

Coordt Alexander Büddicker

Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie -plastische Operationen
Diakonie Klinikum, Standort Jung Stilling
Wichernstr. 40,
57074 Siegen

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