Dentaltourismus in Südosteuropa – Teil 2

Schlechte Qualität muss nicht billig sein

Sven Thiele
Schlägt man hier in London eine dieser Gratis-Zeitungen auf, fallen einem großformatige Werbeanzeigen von zahnärztlichen Praxen oder Zahnkliniken ins Auge: Implantate für 990 britische Pfund oder günstiger, inklusive der dazu notwendigen Zirkonoxid- Krone. Wie kann man in London derartige Versorgungen zu einem derart niedrigen Preis, das heißt für etwa 50 Prozent der Kosten einer normalen Zahnarztpraxis, anbieten? Interessant. Aber es geht – scheinbar – noch günstiger.

Wie kann das funktionieren, bei den Gewerbemieten, den Gehältern für Helferinnen und Zahnärzte? Mein Interesse war geweckt, zu verstehen, wie Praxen und Kliniken in der Lage sind, diese Margen zu realisieren. Schnell wurde mir bei der Recherche klar, dass es immer noch günstiger geht. Und zwar, wenn sich Patienten in Südosteuropa oder der Türkei behandeln lassen. Im Jahr 2000 wurden zahlreiche Verordnungen innerhalb der Europäischen Union erlassen, die es Patienten ermöglichen, sich im europäischen Ausland behandeln zu lassen. Die gesetzlichen Krankenkassen müssen dabei einen Teil der Kosten übernehmen – in Deutschland per Festzuschuss.

„Der ausländische Zahnarzt sieht Patienten nur in einer Momentaufnahme, hat ein enges Zeitfenster, um die vollständige Versorgung zu realisieren. Ich habe große Skepsis, dass das für Patienten von Vorteil sein kann. Ich würde davon die Finger lassen.“

Carsten Hünecke, Präsident der ZÄK Sachsen-Anhalt

Praxen östlich der deutschen Grenzen waren jetzt nicht mehr nur auf eigene Patienten angewiesen, sie konnten nun auch Patienten aus Deutschland behandeln, die sich davon Einsparungen versprachen. Denn ohne Frage: Hochwertige deutsche Zahnheilkunde kostet Geld. Für den einen oder anderen übersteigen die in Praxen aufgerufenen Preise das Budget. In Ungarn beispielsweise erkannte man recht schnell die sich eröffnenden Chancen und so etablierten sich um die Jahrtausendwende zahlreiche Praxen an der Grenze zu Österreich. Die Zielgruppe bestand aus österreichischen Patienten, die es gern etwas günstiger als in der Heimat haben wollten. Anfangs wurde diesem grenzüberschreitenden und mittlerweile in der Literatur als Dentaltourismus beschriebenen Phänomen wenig Bedeutung zugemessen. Gelegentlich gab es den einen oder anderen Artikel in Fachzeitschriften über unzureichenden Zahnersatz im Ausland mit entsprechenden Bildern.

Entgegen aller Warnungen vor suboptimalen prothetischen Versorgungen im Ausland entwickelte sich der Markt zahnmedizinischer Leistungen in Osteuropa aber sehr dynamisch. Allein in der ungarischen Stadt Mosonmagyarovar gibt es bei 32.000 Einwohnern mehr als 150 Zahnarztpraxen und drei Kliniken. Der Ort hat die höchste Zahnarztdichte in Europa und die zweithöchste weltweit nach einem Stadtteil in Los Angeles.

Die osteuropäischen Praxen und Kliniken hielten es schließlich für notwendig, in den technischen Fortschritt zu investieren. Denn nun geriet das Thema Implantate mehr und mehr in den Fokus der Patienten. Ging es zuvor noch um Totalprothesen, Kronen und Brücken, sprach man jetzt eine Klientel an, die eben genau dies nicht mehr wollte. Statt Prothese und Brücke sollte es fortan der ästhetisch perfekte Zahnersatz auf Implantaten sein. Inzwischen haben sich Praxen und Kliniken in Südosteuropa etabliert und Mittel und Wege gefunden, Patienten in immer stärkerem Maße von ihren Leistungen zu überzeugen.

Vermittelt wird die Klinik, aber auch die Abrechnung

Gibt man bei Google „Dentaltourismus“ ein, dann findet man etwa 300.000 Einträge zum Thema. Der Großteil verweist auf Webseiten von Praxen und Kliniken im Ausland, einige wenige Einträge auf Artikel, die sich mit der Materie beschäftigen. Gleiches gilt für YouTube, und auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender widmen sich dieser Thematik in zahllosen Beiträgen. Offerten gibt es inzwischen auch nicht mehr nur in Ländern der EU, man findet Kliniken mit Angeboten in der Türkei, auf den Seychellen, in Vietnam, der Ukraine, Indien.

Der Markt hat inzwischen eine derartige Dimension angenommen, dass es spezielle Reiseanbieter für zahnmedizinische Leistungen im (ost-)europäischen Ausland gibt. Price Waterhouse Cooper [pwc, 2017] prognostiziert eine Steigerung des Gesundheitstourismus allein nach Polen von zehn bis zwölf Prozent pro Jahr. Agenturen vermitteln neben der Klinik auch gleich den Flug, das Hotel und teilweise die Abrechnung mit den deutschen Krankenkassen. Taucht man tiefer in die Abläufe und Strukturen ein, findet man ein miteinander verfilztes Netzwerk aus Kliniken, „unabhängigen“ Webseiten und Zertifizierungsgesellschaften, die dazu dienen, an Kontaktdaten potenzieller Patienten zu gelangen und eine scheinbare Sicherheit bezogen auf Behandlungsabläufe und -qualitäten zu suggerieren.

Ideale Kunden: Patienten mit Zahnarztangst

Patienten, häufig mit einer ordentlichen Portion Zahnarztangst und Scham ausgestattet, sind im Internet auf der Suche für eine Lösung ihrer zahnmedizinischen Probleme. Dort finden sie sprachlich auf ihre Zielgruppe abgestimmte Artikel mit tollen Bildern und Videos über die Behandlungs-erfolge von Kliniken im Ausland.

Patienten berichten von ihren fantastischen Erfahrungen, von deutsch sprechenden Zahnärzten und einer supermodernen Klinikausstattung. Viele dieser Filme entstanden kurz nach der endgültigen Fertigstellung einer Implantat-getragenen Prothetik, also zu einem Zeitpunkt, zu dem sich über den mittel- und langfristigen Erfolg der Therapie wenig Aussagen treffen lassen. Die Kliniken haben nicht zuletzt auch deswegen aufgerüstet, weil es für den lukrativen Markt der Implantatversorgungen eine andere Ausstattung in den Praxen braucht als für eine totale Ober- oder Unterkieferprothese.

Intraoralscanner, Cone-Bean-Scanner, digitale Inhouse-Zahnlabore, in denen mittels CAD/CAM prothetische Arbeiten geplant und im Nebenraum gefräst werden. Verständlich, dass Patienten sich entsprechend positiv dazu äußern, denn eine solche Technik dürfte in den wenigsten Zahnarztpraxen Deutschlands, Österreichs oder der Schweiz stehen. Muss auch nicht, denn die Anforderungen sind andere, aber das wiederum ist für den Patienten nicht ersichtlich.

Marketing ist King, ähnlich wie jede monetär erfolgreiche Kaffeefahrt ein ausgezeichnetes Marketing benötigt.

Keine gute Kaffeefahrt ohne gutes Marketing

Das wusste schon meine Lieblingstante Waltraud. Sie liebte Kaffeefahrten und wann immer sich die Gelegenheit bot, war sie dabei. Allerdings nur, weil es für sie die Gelegenheit gab, sich kommunikativ mit anderen Rentnern auszutauschen, ein wenig im Bus durch die Gegend gegondelt zu werden und den vom Veranstalter angebotenen Kuchen zu essen. Warum ein 128-teiliges Kochtopfpaket kaufen, wenn es dasselbe beim Händler um die Ecke zu einem ähnlichen Preis gibt?

Ein Marketinginstrument ist die Ausstattung, ein anderes der Service, der in diesen Praxen und Kliniken geboten wird. Es gibt Kliniken in Ungarn, die ihre Patienten im Shuttle vom Flughafen Schwechat in Wien abholen. Andere fahren sie gleich als ganze Busladung in die Praxis. Patienten, die sich in der Türkei behandeln lassen, können mit einem Rabatt bei Turkish Airlines rechnen.

Werbung auf Google und Facebook sind unverzichtbar, um genügend Patienten in die Kliniken zu locken. Und hat man erst einmal – egal wie – die E-Mail-Adressen potenzieller Patienten, die auf irgendeinem Portal ihre Angaben hinterlassen haben, um Informationen über Behandlungsabläufe oder Preise für Zahnersatz zu erhalten, dann fliegt E-Mail über E-Mail in die Mailbox.

„Jetzt unseren Gutschein nutzen und Hotelaufenthalt geschenkt bekommen“, „Denken Sie schon im Winter an ein strahlendes Lächeln im nächsten Frühjahr – vereinbaren Sie sofort Ihren Termin in unserer Klinik“, „Wir haben noch ein paar freie Kapazitäten, buchen Sie deshalb jetzt für Ihr schönstes Lächeln“ – solche und ähnliche Texte landen regelmäßig im Posteingang. Haben Sie schon einmal daran gedacht, den Patienten Ihrer Praxis eine Stadtrundfahrt anzubieten oder sie zum Abendessen mit Rahmenprogramm einzuladen? Sicher nicht. Aber das ist ebenfalls meist Teil der Marketingstrategie. Denn die Patienten sollen zu Hause ja nicht nur von ihren neuen Zähnen schwärmen.

Dentaltouristen bringen Geld ins Land

Dentaltourismus-Anbieter sind inzwischen fester Bestandteil in den Planungen von Tourismusbüros und Rathäusern. Denn die Dentaltouristen bringen Geld ins Land und in die Stadt. Hotelunterkünfte (die meisten Patienten übernachten zwischen vier und 14 Tagen), Restaurantaufenthalte, Shopping – zu 80 Prozent reisen Patienten mit einem Familienmitglied an [Bünten, 2006]. Während der Ehemann neue Zähne bekommt, entspannt die Gattin im Thermalbad oder im Beauty-Salon beziehungsweise besichtigt historische Stätten.

Tourismusbehörden oder Internet-Magazine veröffentlichen Hinweise, wie Patienten aus bestimmten EU-Ländern neben ihrer kostengünstigeren Behandlung auch noch Steuervorteile bei der Rückkehr bei Vorlage der Rechnungen erhalten. Selbstverständlich muss auch in den Herkunftsländern ordentlich getrommelt werden. Dazu werden von Praxen und Kliniken Journalisten eingeladen, die dann in kürzeren oder ausführlichen Beiträgen die Vorteile einer Zahnbehandlung im Ausland schildern.

Geschieht dies bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, bei ARD oder ZDF, fragt man sich schon, ob dies noch mit dem Bildungsauftrag vereinbar ist und es sich um neutrale Berichterstattung handelt. Patienten werden auf ihren Reisen begleitet und dürfen erzählen, wie entzückt sie sind, noch bevor der erste Behandlungsschritt erfolgte. Im Unterschied dazu werden Reportagen über angeblich abkassierende deutsche Zahnärzte gedreht, wie beispielsweise die aktuelle ZDF-Doku „Teure Tricks der Zahnärzte. Abzocke mit eigenem Zahnlabor und überhöhten Rechnungen“ vom 7. Oktober (siehe Artikel Seite 34–45).

Die Techniker Krankenkasse (TK) hat Partnerkliniken im Ausland und empfiehlt diese ihren Patienten. Damit auch alles seine Ordnung hat, werden die ausländischen Zahnkliniken alle drei Jahre überprüft. Aber nach welchen Kriterien? Dazu gibt es keine Angaben und es sind auch keine von der TK veranlassten Untersuchungen über die Qualität von Zahnbehandlungen im Ausland bekannt.

Auf Facebook findet man späte Erkenntnisse

Es ist auch nicht zu erwarten, dass es jemanden in der Klinik interessiert, denn Zeit ist Geld und die Investoren erwarten Rendite. Der Laden wird nach Gutsherrenart geführt, wer Zweifel an der ethischen und der fachlichen Unternehmensführung hat, läuft Gefahr, eine Abmahnung zu kassieren oder entlassen zu werden. Die Klinik ist Video-überwacht, alles ist unter Kontrolle. An dieser Stelle reicht der Platz nicht aus, um tiefer auf Abläufe einzugehen, die in Deutschland vor dem Arbeitsgericht, wahrscheinlich mit Schließung der Klinik enden würden. Was Patienten denken, wenn sie nicht offiziell von der Klinik für ein YouTube-Werbevideo nach der Behandlung von der Klinik bezahlt werden, erfährt man, wenn man sich in den Facebook-Gruppen mancher Kliniken umschaut. Dort findet man späte Erkenntnisse, die, sofern sie nicht rechtzeitig vom Administrator gelöscht werden, eine deutlich andere Sprache als die Hochglanzbroschüren sprechen.

Das Geschäft mit dem Dentaltourismus wird sich weiter dynamisch entwickeln, das Phänomen ist genauso wenig aufzuhalten, wie die Dentalketten in Deutschland. Die Kliniken werden größer – allein im Großraum Istanbul entsteht derzeit eine Klinik mit mehr als 100 Behandlungsstühlen. Kleinere Player auf dem Markt werden verschwinden und hinter den großen stehen ausreichend finanzkräftige Investoren, um mehr Patienten in größere Kliniken zu bekommen.

Der Präsident der ZÄK Sachsen-Anhalt, Carsten Hünecke sagte im MDR auf die Frage, was er von Behandlungen im Ausland hält: „Der ausländische Zahnarzt sieht Patienten nur in einer Momentaufnahme, hat ein enges Zeitfenster, um die vollständige Versorgung zu realisieren. Ich habe große Skepsis, dass das für Patienten von Vorteil sein kann. Ich würde davon die Finger lassen.“ Nicht jede ausländische Klinik bietet schlechte Versorgungen, die Qualität variiert, aber jede Leistung hat ihren Preis und man bekommt, wofür man zahlt.

Sven Thiele
Zahnarzt, Autor und Dozent
Seine Erfahrungen als Berater einer Dentalklinik in Südosteuropa hat er in seinem neuen Buch verarbeitet, das Anfang 2020 erscheint.

Die Studienlage

Einer der ersten, die sich des Dentaltourismus von wissenschaftlicher Seite aus annahmen, war Andreas Joss von der Universität Bern [Joss et al., 1999]. In seiner Studie wurden 103 Patienten von neutralen Zahnärzten untersucht, ohne dass die Herkunft des angefertigten Zahnersatzes bekannt war. Die Qualität der prothetischen Arbeit wurde mit einer Skala von A (sehr hohe Qualität) bis E (schwerste Mängel) bewertet. Joss und Mitarbeiter konnten für keinen in Ungarn angefertigten Zahnersatz die Bewertung A oder B vergeben, lediglich 20 Prozent der Arbeiten erhielten die Bewertung C und immerhin 41 Prozent die Bewertung D, gefolgt von 39 Prozent mit der Bewertung E.

In Deutschland wurde eine erste wissenschaftliche Bewertung von Behandlungen im Ausland 2004 durchgeführt: Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Rheinland-Pfalz untersuchte mit dem Institut für Medizinische Biometrie und Informatik der Universität Mainz 60 Patienten mit im Ausland angefertigtem Zahnersatz [Baulig et al., 2004]. In 53 Prozent der Fälle wurde eine Neuanfertigung des Zahnersatzes als notwendig erachtet. Insgesamt bestand bei 97 Prozent der im Ausland gefertigten Einzelkronen die Frage nach der Notwendigkeit ihrer Anfertigung. Eine erneute Untersuchung in 2008 ergab, dass immerhin noch 45 Prozent der im Ausland erfolgten Versorgungen nicht-richtlinienkonform und noch dazu mängelbehaftet waren [Baulig, 2008].

Noch 2009 berichtet das Institut für Wissen in der Wirtschaft (IWW), dass der Dentaltourismus keine dynamische Entwicklung nimmt. An einer Studie von Dr. David Klingenberger [Klingenberger et al., 2009] nahmen 1.368 Patienten teil – 1,2 Prozent der Befragten waren für zahnärztliche Behandlungen bereits ins Ausland gereist. Für die Schweiz ergab eine Studie von 2006, dass bereits 11 Prozent für eine Behandlung im Ausland waren [Klingenberger, 2008].

Literatur

  • Athieh MA, Alsabeeha N, Faggion jr CM, Duncan WJ (2013): The frequency of peri-implant diseases: a systematic review and meta-analysis. J Periodontol 2013; 84(11): 1586–1598

  • Baulig C, Weibler-Villalobos U , Körner I, Krummenauer F (2004): Evaluation von Ergebnisqualität und Kosteneffektivität zahnärztlich-prothetischer Versorgungen im (Nicht-EU-) Ausland. Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift 59 (2004), S.230–235

  • Baulig C (2008): Zahnersatz aus dem Ausland – Qualität und Kosten. Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift 63 (2008) 7, S. 452–454

  • Bünten, K (2006): Dentaltourismus in Ungarn: Bestandsaufnahme und Perspektiven einer neuen Form des Gesundheitstourismus. Europa Regional, 14.2006(3), 132–142

  • Joss A, Morten M C, Jakob S, Oberholzer G, Lang N P (1999): Qualität von zahnärztlich-prothetischen Versorgungen im Vergleich (Schweiz/Ausland, speziell Ungarn). Acta Med Dent Helv 4: 77–85 (1999)

Sven Thiele

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