Modellprojekt zur Förderung der interkulturellen Kompetenz

Wie ticke ich? Und wie ticken die anderen?

Mit kulturellen Unterschieden von Patienten umzugehen, ist Teil des Praxisalltags – im Hinblick auf das Krankheitsempfinden, aber auch im Umgang mit Trauer, Tod und Trauma. Ein neues Fortbildungskonzept aus Nordrhein will die transkulturelle Kompetenz von Ärzten, Zahnärzten und Gesundheitsberufen stärken.

„Was hilft, ist die nötige Sensibilisierung und Empathie“ sagt Dr. Martina Levartz, Geschäftsführerin des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN), gegenüber den zm. „Wir wollen erreichen, dass Ärzte und Zahnärzte das notwendige Wissen parat haben, um sich für fremde Kulturen öffnen zu können.“

Hier setzt das von ihr geleitete Modellprojekt InterKultKomm an, das in der Region Aachen erprobt und vor Kurzem erfolgreich abgeschlossen wurde. Ärzte, Zahnärzte sowie Angehörige von Gesundheits- und Pflegeberufen können sich interprofessionell fortbilden, um mehr Sicherheit im Umgang mit Patienten aus anderen Kulturen zu gewinnen.

Hintergrund war die Überlegung, dass das deutsche Gesundheitssystem vielfach nicht auf die Besonderheiten im Umgang mit Menschen aus anderen Ländern, Kulturen oder Ethnien eingestellt ist. Neben Sprachbarrieren sind kulturelle, religiöse und lebensgeschichtliche Unterschiede oft Hürden, wenn es um die Versorgung von Patienten geht. Die Gesundheitsberufe – ob Ärzte, Zahnärzte, Pflegekräfte, MFA, ZFA – sind hier oft unsicher, wenn nicht gar überfordert.

Im Modellprojekt spielen daher Verständnis und Wertschätzung bei der Kommunikation eine große Rolle. Ausgewählt wurden Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus einer Versorgungsregion – der Städteregion Aachen. Wichtig war ein Konzept, das eine offene Haltung gegenüber Unterschieden in der Kultur (religiös, politisch, gesellschaftlich) und in den Lebensentwürfen fördert sowie zu einer Reflexion der eigenen kulturellen Prägung und zur Einstellung fremden Kulturen gegenüber anregt. Entwickelt wurden fünf Module, bei der Vermittlung sowohl Impulsreferate, Rollenspiele als auch Gruppenübungen eingesetzt.

1. Die Haltung

In diesem Modul werden die Teilnehmer sensibilisiert für die Reflexion der eigenen Haltung gegenüber fremden Kulturen. Sie lernen, inwieweit die eigene kulturelle Prägung die Wahrnehmung, das Denken und die Bewertung im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen beeinflusst – und ihre Haltung zu unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Werte und Orientierungssystemen zu hinterfragen.

Wie ticke ich und wie ist meine kulturelle Prägung? Und was hat das mit meiner Haltung zu tun? Ein Beispiel ist die Aussage: „Arrangierte Ehen halten länger.“ Zu prüfen ist, welche Einstellungen sich im westlichen Kopf dazu zeigen: Wird das verneint – oder verbergen sich dahinter nicht doch nachvollziehbar positive Aspekte? Ein anderes Beispiel: Wie äußert ein Patient Schmerz? Leise leidend, wie es oft in westlichen Kulturen der Fall ist? Oder laut klagend, weil es im eigenen Kulturkreis Usus ist, sein Befinden klar zu äußern?

2. Die Kommunikation

Es geht um Beziehungsgestaltung und aktives Zuhören. Wie vermittelt man seinem Gegenüber durch sprachliche und nonverbale Mittel Akzeptanz? Auch der Umgang mit Fachdolmetschern ist wichtig – und zu wissen, warum es schwierig ist, Angehörige dolmetschen zu lassen.

Drei Beispiele: Der Behandler sollte wissen, dass es in manchen Ländern Erfahrungen gibt, wie: „Schlimme Diagnosen werden verschwiegen und höchstens den Verwandten mitgeteilt.“ Oder: „Eine gute Behandlung kostet Geld, in staatlichen Krankenhäusern sterben die Menschen.“ Oder: Die Frage: „Geht es Ihnen besser?“ wird mit Ja beantwortet, weil ein Nein als unhöflich gilt. Fazit: Fragen sollte man besser offen stellen.

Hilfreich ist es für den Arzt, wenn er mehr über die Herkunft des Patienten erfährt. Falls Großfamilien sich ihm vorstellen, bietet sich etwa in manchen Kulturen zunächst die Kontaktaufnahme mit älteren Personen an, dann erst die zum Patienten.

Wichtig ist, dem Patienten zu erklären, dass Ärzte in Deutschland verpflichtet sind, über Nebenwirkungen sehr detailliert aufzuklären, was aber nicht heißt, dass diese auch eintreten. Bei der Auswahl von Dolmetschern ist darauf zu achten, dass sie neutral sind und der Schweigepflicht unterliegen: Alles wird übersetzt, keine Handynummern ausgetauscht, keine Fachwörter benutzt.

3. Krankheitsverarbeitung

 Im Zentrum stehen die unterschiedlichen Phasen der Krankheitsverarbeitung: Wie erkennt und hinterfragt man individuelle Wahrheitskonstrukte und was kann bei Menschen Angst, Scham und Schuld auslösen? Es geht um den Umgang mit akuten und chronischen Erkrankungen, um den Stellenwert und die Sichtweise von Krankheiten, den Umgang mit psychischen Erkrankungen oder mit mit körperlichen und geistigen Behinderungen.

Fragen sind etwa: Ist Krankheit für mich ein Störfall, ein Schicksal, eine Gottesprüfung? Betrachte ich meinen Köper als Geschenk? Dann muss ich sehr auf ihn achten. Ein weiteres beispielhaftes Problem: Wenn Kinder mit Diabetes von ihren Eltern Süßigkeiten als Belohnung erhalten, da Süßes im Kulturkreis als Zuwendung gilt. Hier braucht es viel Fingerspitzengefühl, die Eltern vom Gegenteil zu überzeugen.

4. Familie und Gender

Themen sind unterschiedliche Familien- und Gesellschaftsstrukturen, der Stellenwert von Familie und Frauen, der Umgang mit Kindern und Jugendlichen, mit körperlicher und geistiger Behinderung in der Familie, Prävention und Gesundheitsförderung oder Betreuung im Alter.

Ein typisches Beispiel: Die strikte Geschlechterrolle und Geschlechtertrennung. Das bedeutet: Männer sind bei Frauenthemen wie Schwangerschaft nicht anwesend. Moch ein Beispiel: Menschen mit Behinderungen sind in den Herkunftsregionen meist in die Gemeinschaft integriert, gesonderte Einrichtungen sind oft unbekannt. Familien mit Kindern mit Behinderungen kapseln sich oft ab. Oder: Bei älteren Migranten herrschen Bildungsarmut und enge Familienzusammenhalte: Die Pflege erfolgt dann zu Hause durch die eigenen Kinder und nicht durch Institutionen.

Wie werden Traumata verarbeitet, wie wird mit posttraumatischen Belastungsstörungen oder Gewalterfahrungen umgegangen, wie sehen Sterbebegleitung, Trauer und Abschiedsrituale aus?

5. Der Umgang mit Schmerz

Ein Beispiel: Patienten mit Fluchthintergrund leiden oftmals unter posttraumatischem Stress mit Symptomen wie Schlafstörungen, innerer Unruhe, Reizbarkeit oder Bluthochdruck. Hier hilft beispielsweise eine kultursensible Diagnostik, wenn möglich durch muttersprachliche Untersucher oder unter Einbindung von Kultur- und Sprachmittlern.

Beispiel Tod und Trauer: Entscheidend ist für den westlich geprägten Behandler, dasss er die kulturübliche und religiöse Betreuung im Sterbefall kennt. Dazu gehören im Islam die Begleitung durch Familie, Freunde und Bekannte genauso wie durch die religiöse Gemeinde, ebenso Sterberituale wie etwa das Glaubensbekenntnis, die richtige Lagerung des Sterbenden und die religiöse Waschung. Fragen Sie am besten offen die Angehörigen, was zu beachten ist.

Beispiele aus der Zahnarztpraxis

Dr. Thomas Heil, Zahnarzt und Teilnehmer am Modellprojekt, erzählt, wie die Modul-Inhalte im zahnärztlichen Praxisalltag angewendet werden können:

  • Zur Haltung:Die Prägung durch unsere Eltern hat bei uns allen ihre Spuren hinterlassen. Die Worte meines Vaters, „Sage bitte guten Tag und gib brav die Hand!“ klingen immer noch in meinen Ohren. Was die Höflichkeit gebietet, aber aus hygienischen Gründen in den Praxen teilweise hinterfragt wird, kann im Kontakt mit fremden Kulturen manchmal einen ganz handfesten Konflikt auslösen. In einigen Kulturkreisen darf zum Beispiel eine Frau einem männlichen Nichtfamilienmitglied auf keinen Fall die Hand geben. Ein respektvoller Umgang und eine etwas zurückhaltende, die andere Geste übernehmende Begrüßung können da helfen.

  • Zur Kommunikation:Die Kommunikation zwischen Mann und Frau ist manchmal schon nicht einfach, und wenn wir unseren Kindern etwas erklären wollen, suchen wir nach den richtigen Worten, um verstanden zu werden. Jetzt sitzt vor Ihnen ein Mensch, der Sie sprachlich und fachlich nicht versteht. Die Übersetzung wird in der Regel geleistet durch Familienangehörige, Kinder, Partner oder Freunde und ganz selten durch professionelle Dolmetscher. Ein übertriebenes Beispiel zur Veranschaulichung: Eine 50-jährige Zahnärztin untersucht einen 30-jährigen, nicht heimatsprachlichen Mann und übersetzt wird durch seine achtjährige Tochter. Alltägliche Situation! Kulturelle, sprachliche, geschlechtliche und große Altersunterschiede bei der individuellen Bewertung und Interpretation von Sprache. Das Kinderspiel „Stille Post“ lässt grüßen. Hier hilft nur eine einfache Sprache weiter. Benutzen Sie Gesten, Bilder und Zeichnungen. Man muss den Dschungel der Fachsprache verlassen und versuchen, sich selber der aktuellen Situation anzupassen.

  • Zu Krankheitsverarbeitungen:Symptom- oder Schmerzbeschreibungen fallen bereits bei uns Heimatsprachlern sehr unterschiedlich aus. Jeder Patient empfindet Schmerz anders. Kulturelle Prägungen können dies noch enorm verstärken. Es gibt Kulturkreise, in denen eine kleine Aphthe als den Alltag stark einschränkend empfunden wird, und in andere Kreisen wird man selbst mit einem die Mundöffnung einschränkenden Abszess noch angelächelt. Es wäre eben unhöflich, nicht zu lächeln. Dies sind jetzt zwar zwei beschriebene Extreme, aber der Behandler steht hier immer wieder vor der Aufgabe, durch gezielte Fragestellungen, zusammen mit den objektivierbaren Befunden, die richtige Diagnose zu stellen. Manchmal muss man in seinen Fragen halt kleine Fallen einbauen, um zum richtigen Ziel zu gelangen.

  • Zu Gender und Familie:Die Wertigkeit und der Stellenwert der Familie sind in vielen Kulturkreisen sehr unterschiedlich. Dadurch kann es durchaus vorkommen, dass einem der Patient nicht alles erzählt, was eigentlich zur Behandlung seiner Krankheit vonnöten wäre. Es gibt Kulturkreise, in denen der Arzt mit zur Familie zählt, und in der Familie werden Peinlichkeiten vermieden oder unangenehme Sachen einfach nicht berichtet. Aber gerade diese unangenehme Krankheit, mit ihrer notwendigen Medikation, könnte in der aktuellen Behandlung Probleme erzeugen. Beim Erheben einer Anamnese hilft es manchmal, diese mit anderen Behandlern abzugleichen oder doch noch mal beim Patienten oder seiner Familie gezielt nachzuhaken.

  • Zum Umgang mit Gewalt, Trauma, Schmerz, Tod und Trauer:Trauma – ein wichtiges Thema. Was ein Mensch in seinem Leben alles erleben musste, ist nicht immer im Lebenslauf oder Anamnesebogen zu finden. Es kann vorkommen, dass ein Geräusch bei einer Behandlung, das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen beim Abdruck, bei einer Extraktion eines Zahns am Kopf umklammert zu werden, eine Erinnerung beim Patienten wieder aufleben lässt, auf die wir alle mehr als gerne verzichten wollen. Reagieren Sie auf für uns als Behandler nicht erklärbare Reaktionen des Patienten gelassen. Hinterfragen Sie die Reaktion beim Dolmetscher oder Angehörigen. Wissen hilft, zu verstehen. Verstehen hilft, mit ungewöhnlichen Situationen umgehen zu können.

Dr. Thomas Heil ist Mitglied des Vorstandes der Zahnärztekammer Nordrhein und Referent für die Ausbildung zur ZFA.

Fazit

Die Universität Witten/Herdecke stufte das Projekt in ihrem Abschlussbericht als sehr erfolgreich ein. Die Teilnehmer steigerten demnach ihre interkulturelle Kompetenz; viele gaben an, dass sie jetzt mehr Sicherheit im Umgang mit Personen aus anderen Kulturen haben. Sie bezeichneten die Schulungen als hilfreich für den Arbeitsalltag. So gab es zum Modul Kommunikation Rückmeldungen wie: „Ich habe die Bedeutung der Kommunikation neu entdeckt“, oder „Die Haltung zum Patienten und zu den Angehörigen ist ganz wichtig“. Zum Modul Krankheitsverarbeitung hieß es: „Ich habe gelernt, auf Menschen mit anderem kulturellem Hintergrund zuzugehen“ oder „Der Begriff ´kultursensibel´ hat für mich eine klare Bedeutung bekommen“. Zum Modul Gender und Familie gab es folgende Rückmeldungen: „Ich sehe klarer, wie Familienstrukturen funktionieren“ oder „Es geht um das Individuelle einer jeden Person mit ihrer Herkunft und Geschichte“. Ein Teilnehmer brachte sein Fazit so auf den Punkt: „Patienten aus anderen Kulturen sind gar nicht so anders, vieles ist wie bei uns, vieles ist mir jetzt vertrauer und einsichtig.“

Hintergrund

Das Modellprojekt „Entwicklung und Evaluation eines interprofessionellen und intersektoralen Fortbildungskonzepts zur Förderung der Kommunikation und kultursensibler Handlungskompetenzen in der Gesundheitsversorgung (InterKultKomm)“ wurde von der Robert Bosch Stiftung gefördert. Beteiligt sind die Ärzte- und Zahnärztekammer Nordrhein, die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein, die Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen, der Pflegerat NRW und der Verband medizinischer Fachberufe. Mit der Umsetzung war das von Ärztekammer Nordrhein und KV Nordrhein getragene Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN) beauftragt. Die Evaluation führte die Universität Witten/Herdecke durch. Das Projekt lief von Anfang Oktober 2017 bis Ende August 2019.

Projektleiterin war Dr. Martina Levartz, MPH, Geschäftsführerin des IQN. Schulungsregion war die Städteregion Aachen, Schulungsort das Rhein-Maas-Klinikum. Als Teilnehmer wurden gezielt Ärzte und Pfelgende aus dem beteiligten Krankenhaus, niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, und ihre MFA/ZFA sowie Pflegeheime und ambulante Pflegedienste eingeladen. Die Teilnahme war freiwillig.

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