Masern-Studie

Das Immungedächtnis wird gelöscht

Kathrin Schlüßler
Schon länger ist bekannt, dass das hochinfektiöse Masernvirus (MeV) das Immunsystem schwächt. Entgegen der landläufigen Meinung ist eine durchgemachte Maserninfektion aber kein Boost für den Körper. Im Gegenteil: Das Immunsystem ist bis zu Jahre danach geschwächt und das Immungedächtnis gelöscht.

Eine internationale Forschergruppe fand jetzt heraus, dass eine Infektion mit dem Virus zu einer lang anhaltenden Immunsuppression führen kann. Gründe für die Immunschwäche sahen die ForscherInnen in Veränderungen des B-Zell-Apparats: Durch die Infektion steigt die Virenlast im Blut von Erkrankten (Virämie), gleichzeitig sinkt die Lymphozytenzahl dramatisch ab (Lymphopenie). Nach der durchgemachten Infektion erholt sich die Lymphozytenzahl nach dem Verschwinden des Masern-assoziierten Hautausschlags innerhalb von vier Wochen. Der B-Zell-Pool jedoch, also die Menge frei zirkulierender naiver B-Lymphozyten (reife B-Zellen, die bisher keinen Kontakt zu einem Antigen hatten) im Blut, bildet sich nur unvollständig zurück.

Immungedächtnis mit Amnesie

Zudem wird die Ausbildung von B-Gedächtniszellen gestört. Diese spezialisierten B-Zellen gehen aus aktivierten B-Zellen beim Kontakt mit einem Antigen hervor – bei erneutem Kontakt mit demselben Antigen werden sie sofort aktiviert und können innerhalb weniger Stunden eine Immunreaktion auslösen. Ohne sie schwächelt das Langzeitgedächtnis des Immunsystems.

Die ForscherInnen analysierten die Rezeptorvielfalt der Immunzellen und die Entwicklung der B-Gedächtniszellen bei ungeimpften Personen mit und ohne vorangegangene Maserninfektion sowie bei gegen Masern geimpften Personen. Während die genetische Zusammensetzung und Vielfalt der B-Gedächtniszellen bei Personen ohne Maserninfektion und bei geimpften Personen stabil blieb, fanden sich bei Personen nach Maserninfektionen eine signifikante Zunahme der Mutationsfrequenz und vermehrt unreife B-Zellen – aufgrund einer beeinträchtigten B-Zellreifung im Knochenmark. Bei etwa zehn Prozent der Personen, die eine Maserninfektion durchgemacht hatten, war die Vielfalt der Immunzellen sogar sehr stark beeinträchtigt.

Die Ergebnisse zeigen, dass eine Maserninfektion die Vielfalt der naiven und der Gedächtnis-B-Lymphozyten verändert, die nach dem Abklingen der klinischen Masernerkrankung bestehen bleiben und somit zu einer beeinträchtigten Immunität gegen frühere Infektionen oder Impfungen beitragen. Das Immungedächtnis „vergisst“, mit welchen Erregern es bereits in Kontakt kam.

Sekundärerkrankungen nehmen zu

Im Tierversuch wurde außerdem die erhöhte Inzidenz für Sekundärinfektionen untersucht: Zunächst wurde durch eine Influenza-Impfung ein immunologischer Schutz gegen ein Grippevirus aufgebaut. Als Masern-verwandte primäre Viruserkrankung nutzten die Forscher eine Morbillivirus-Infektion (Hundestaupevirus CDV). Das Team konnte belegen, dass die durch eine Influenza-Impfung erworbene Immunität gegen das Influenzavirus nach der durchgemachten Primärinfektion mit dem Morbillivirus deutlich erschöpft ist. Dies führte zu einer beeinträchtigten Immunantwort und zu einer erhöhten Schwere der Erkrankung nach einer sekundären Influenzavirus-Exposition.

Insgesamt konnte bewiesen werden, dass die immunologischen Folgen von Masern bis mehrere Jahre nach der Infektion anhalten und zu einer erhöhten Kindersterblichkeit führen. Laut einer Kohortenstudie aus Großbritannien hatten 10 bis 15 Prozent der Kinder fünf Jahre nach der Maserninfektion Anzeichen einer Immunsuppression, die zu einer erhöhten Inzidenz von Sekundärinfektionen führte. Studien bei Makaken legen ähnliche Mechanismen der Immunsuppression, der Hemmung der Lymphozytenproliferation und Erschöpfung des immunologischen Gedächtnisses nahe.

Die genauen Mechanismen beim Menschen sind jedoch nach wie vor unbekannt. Fakt ist: Obwohl sich der Spiegel aller zirkulierenden Lymphozyten vier Wochen nach der Infektion erholt, bleibt die Erschöpfung spezifischer B- und T-Gedächtniszellen-Untergruppen bestehen. Inwieweit diese Zellen ihre gesamte Bandbreite an Antigenspezifitäten wiedererlangen, um eine effiziente Erkennung neuer Antigene zu gewährleisten und Reaktionen auf zuvor angetroffene abzurufen, bleibt unklar.

Velislava N. Petrova, Bevan Sawatsky, Alvin X. Han, Brigitta M. Laksono, Lisa Walz, Edyth Parker, Kathrin Pieper: Incomplete genetic reconstitution of B cell pools contributes to prolonged immunosuppression after measles. Published in Science Immunology 1 November 2019.

DOI: 10.1126/sciimmunol.aay6125.

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