Patientensteuerung

Gatekeeping reduziert nicht automatisch die Kosten

Das europäische Ausland macht es vor: Primärarztmodelle erlauben eine straffe Patientensteuerung. PD Dr. Wilm Quentin, MSc HPPF, erklärt, was nötig ist, damit Gatekeeping Kosten reduzieren kann, welche Vergütungsanpassungen es geben muss und warum einer Patientengruppe besondere Beachtung geschenkt werden sollte.

Herr Dr. Quentin, KBV-Chef Andreas Gassen hat Wahltarife für ein Primärarztmodell in Deutschland ins Gespräch gebracht. Was halten Sie von einer solchen Forderung?

PD Dr. Wilm Quentin:

Primärarztmodelle oder Hausarztmodelle wurden in Deutschland bereits im Jahr 2004 mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) eingeführt. Damals wurden die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) dazu verpflichtet, ihren Versicherten Modelle der hausarztzentrierten Versorgung anzubieten.

Dabei wählen Versicherte eine Hausarztpraxis als primären Ansprechpartner für alle medizinischen Probleme und verpflichten sich für mindestens ein Jahr immer zuerst diese Hausarztpraxis aufzusuchen. Wenn nötig, überweist die Praxis zu einer Fachärztin oder einem Facharzt. Damit wird der Hausarzt zum Lotsen für den Patienten, der die Versorgung steuert – gleichzeitig aber auch zum Pförtner (Gatekeeper), da Patienten ohne Überweisung keinen Facharzt aufsuchen können. Allerdings sind einige Ärzte, etwa Frauenärzte, Kinderärzte oder Augenärzte, von der Überweisungspflicht ausgenommen.

Die hausarztzentrierte Versorgung soll durch eine bessere Koordination der Leistungsinanspruchnahme die Qualität erhöhen und gleichzeitig unnötige Untersuchungen und damit unnötige Kosten verhindern.

Inzwischen sind in Deutschland laut Hausärzteverband rund 5,4 Millionen Versicherte in der hausarztzentrierten Versorgung versichert. Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) wurden Krankenkassen vor einigen Monaten verpflichtet, ihren in Hausarztmodellen eingeschriebenen Versicherten Prämienzahlungen oder Zuzahlungsermäßigungen anzubieten, wenn Hausarztmodelle für Kassen zu Kosteneinsparungen führen.

Wie wirkt sich Gatekeeping auf die Gesundheitskosten im europäischen Ausland aus?

In der Mehrzahl der Länder in Europa ist die hausarztzentrierte Versorgung die Regelversorgung, so unter anderem in den Niederlanden, in Dänemark oder in England. Hausärzte sind in diesen Ländern die Eintrittspforte ins Gesundheitssystem und fungieren somit als Gatekeeper. Mir sind keine aktuellen Studien aus diesen Ländern bekannt, die sich mit der Frage beschäftigen, ob eine Abschaffung des Gatekeeping-Modells eventuell zu besserer Qualität oder niedrigeren Kosten führen würde.

Eine aktuelle systematische Literaturübersicht [Sripa et al., 2019] im British Journal of General Practice ist auf der Basis von 25 analysierten Studien zu dem Ergebnis gekommen, dass Gatekeeping-Modelle oft zu niedrigeren Gesundheitsausgaben führen, weil sie unnötige und teure fachärztliche Behandlungen und Krankenhauseinweisungen zu vermeiden helfen.

Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch schon eine frühere Literaturübersicht [Velasco et al. 2011]. Allerdings stammen die meisten Studien in beiden Reviews aus den USA. Nur sieben der eingeschlossenen Studien in der aktuellen Literaturübersicht kommen aus Europa.

Von den europäischen Studien berichteten sechs von niedrigeren Kosten in Gatekeeping-Modellen, wobei die Ergebnisse nicht immer signifikant sind. Außerdem handelt es sich bei den meisten Studien ausschließlich um Beobachtungsstudien, wodurch die Ergebnisse verzerrt sein können.

Was ist mit der Qualität der Gesundheitsversorgung?

In der bereits erwähnten Literaturübersicht wurden auch die Auswirkungen von Gatekeeping-Modellen auf die Qualität der Versorgung untersucht. Das Ergebnis war, dass Gatekeeping in der Regel mit besserer Qualität und angemessenerer Inanspruchnahme von Untersuchungen oder Krankenhauseinweisungen verbunden ist.

Allerdings berichtete eine Studie von signifikant niedrigeren Überlebensraten von Krebspatienten in Gatekeeping-Modellen, wobei sich im europäischen Vergleich nicht beobachten lässt, dass Überlebensraten für unterschiedliche Krebsarten in Gatekeeping-Ländern tendenziell niedriger sind als in nicht-Gatekeeping-Ländern. Die Literaturübersicht berichtete auch von zwei Studien, die eine niedrigere Patientenzufriedenheit in Gatekeeping-Modellen beobachteten.

Welche Folgen hat die Einführung eines Primärarztmodells für die Ärzte?

Die Auswirkungen auf die Ärzteschaft können ganz unterschiedlich sein: eine größere Rolle für Hausärzte, insbesondere wenn größere Primärarztpraxen gut ausgestattet sind und zusätzliche Leistungen separat vergütet werden – oder engeres Tätigkeitsspektrum, wenn schlecht ausgestattete Hausarztpraxen in einem Kopfpauschalenmodell nur als Überweiser an Fachärzte agieren.

Allerdings ist in letzterem Fall auch nicht von einer Verbesserung der Versorgung oder niedrigeren Kosten auszugehen. Daher sind die Ausstattung der Hausarztpraxen, die vorhandenen Fachkräfte in Hausarztpraxen und die Ausgestaltung des Vergütungsmodells essenziell für den Erfolg eines Hausarztmodells.

Wie sollte ein solches Vergütungsmodells idealerweise aussehen?

Alle Vergütungsmodelle haben Anreize, die sowohl beabsichtigte als auch unbeabsichtigte Auswirkungen haben können. Idealerweise kombiniert man daher verschiedene Vergütungsmodelle miteinander, um die Stärke des Anreizes jedes einzelnen Vergütungsmodells abzuschwächen.

Für Hausarztmodelle bietet sich eine Kombination aus Kopfpauschalen, Einzelleistungsvergütung, und qualitätsbasierte Vergütung an. Die Kopfpauschalen decken dabei die Grundversorgung für alle in einer Praxis eingeschriebenen Patienten ab. Die Einzelleistungsvergütung stellt sicher, dass es ausreichend Anreize zur Erbringung von Leistungen gibt, wobei insbesondere solche Leistungen gefördert werden sollten, bei denen Hausärzte zu unnötigen Überweisungen neigen könnten.

Die qualitätsbasierte Vergütung setzt voraus, dass die Qualität der Leistungserbringung hinsichtlich Struktur-, Prozess- und/oder Ergebnisqualität verlässlich gemessen wird, wobei unterschiedliche Qualitätsdimensionen berücksichtigt werden sollten: die Patientensicherheit (etwa Arzneimittelsicherheit), die Effektivität der Versorgung (zum Beispiel Anteil der gut eingestellten Diabetiker) und die Patientenzentrierung (beispielweise Anteil der Patienten, die berichten, dass der Arzt ausreichend Zeit mit ihnen verbringt).

Angenommen, die Bundesregierung erwägt die Einführung eines Primärarztmodells, an welchem Beispiel sollte sich Herr Spahn orientieren?

Länder mit gut etablierten Hausarztmodellen sind die Niederlande, Dänemark und England.

Die Fragen stellte Marius Gießmann.

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