zm-Serie: Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“

Hans Türkheim – Hochschullehrer, Migrant, Zahnarzt in England

Carmen Hohmann, Thorsten Halling
,
Matthis Krischel
Hans Jacob Türkheim war einer von 16 Hochschullehrern, die bereits 1933 von der Universität Hamburg wegen ihres jüdischen Glaubens entlassen wurden. Der Kariesforscher und Prothetiker1 emigrierte 1936 nach England, wo er wieder Fuß fassen konnte und schnell wissenschaftliches Renommee erwarb. Deutschland gegenüber blieb Türkheim nach 1945 skeptisch, nahm aber trotzdem eine Honorarprofessur in Hamburg an.

Türkheim wurde 1889 in Hamburg in eine bürgerliche, jüdische Familie geboren. Sein Vater Julius war in der Hansestadt als praktischer Arzt niedergelassen und arbeitete als Polizeiarzt2, seine Mutter Marie, geborene Laskar, stammte aus einer angesehenen jüdischen Hamburger Kaufmannsfamilie, die als Kolonialwarenhändler unter anderem Südfrüchte und Palmöl importierte.3 Auf Türkheims Geburtsurkunde ist der Vater als „konfessionslos“ angegeben, die Mutter der jüdischen Religion zugehörig.4

Nach dem Abitur nahm Türkheim 1908 in Würzburg das Studium der Zahnmedizin auf, das er 1911 in München mit dem Staatsexamen abschloss. Während des Studiums lernte er seine Ehefrau Margarete Speyer kennen, die aus einer Kölner jüdischen Familie stammte und ebenfalls Zahnärztin wurde.5 Während der zweijährigen Assistenzzeit an der klinischen Abteilung des zahnärztlichen Instituts der Münchener Universität hörte Türkheim neben der klinischen Arbeit humanmedizinische Vorlesungen und leitete das wissenschaftliche Labor der Abteilung, wo er auch histologisch und bakteriologisch arbeitete.6 Ebenfalls in München entwickelte sich eine enge Freundschaft7 zwischen Türkheim und dem neun Jahre älteren Alfred Kantorowicz (1880–1964), der als Vertreter der sozialen Zahnheilkunde und Professor in Bonn zu den prominentesten Zahnmedizinern seiner Generation zählen sollte. Auch Kantorowicz musste aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach 1933 aus Deutschland fliehen und arbeitete danach in der Türkei, bevor er 1950 nach Bonn8 zurückkehrte.9

Der erste habilitierte Zahnarzt in Hamburg

Ende 1913 ließ sich Türkheim in seiner Heimatstadt Hamburg in privater Praxis nieder und heiratete im Jahr darauf Margarete Speyer. Die beiden Söhne Herbert und Franz-Alfred, genannt Peter, wurden 1914 und 1919 geboren. 1915 meldete der ursprünglich aus gesundheitlichen Gründen ausgemusterte Türkheim sich freiwillig zum Kriegsdienst und war bis 1916 Bataillonszahnarzt beim Landsturmbataillon IX/28 in Hamburg.10

Bis 1919 war die Promotion für Zahnärzte nicht an den medizinischen Fakultäten, sondern nur an den philosophischen Fakultäten möglich.11 Die in diesem Jahr gegründete Universität Hamburg erlaubte ab 1920 die Promotion im Fach Zahnmedizin und „eine gute Woche nach Erlaß der Promotionsordnung, wurde Türkheim zum ersten Dr. med. dent. der jungen Hamburger Medizinischen Fakultät“ promoviert.12 Der neu berufene Leiter des Zahnärztlichen Instituts, Guido Fischer (1877–1959)13 , bot Türkheim eine Stelle als Volontärassistent an. Bereits 1921 konnte Türkheim sich als erster Hamburger Zahnarzt habilitieren und wurde Privatdozent. Während dieser Zeit nutze er das wissenschaftliche Labor der Schulzahnklinik für seine Forschungen.14

1926 wurde Türkheim nach dem Ausscheiden seines Vorgängers Leiter der Prothetischen Abteilung am Zahnärztlichen Institut der Universität Hamburg und damit besoldeter Hochschuldozent. Die Arbeit in der privaten Praxis setzte er weiterhin fort, dafür nahm er eine Kürzung seiner Bezüge um 25 Prozent in Kauf. 1930 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt.15 Zu den Schwerpunkten seiner wissenschaftlichen Arbeit gehörten in dieser Zeit histologische Untersuchungen, die Kariesforschung, die Sinnesphysiologie – das Thema seiner Habilitation – sowie werkstoffkundliche Untersuchungen in der konservativen und prothetischen Zahnheilkunde.16 Zwischen 1923 und 1933 betreute Türkheim in Hamburg mindestens 40 zahnmedizinische Doktorarbeiten.17

Nach dem Krieg schrieb er nur noch auf Englisch

Türkheim veröffentlichte 95 Arbeiten, darunter drei Monografien und mehrere Handbuchbeiträge. Während er in Deutschland tätig war, schrieb er auf Deutsch, nach einer durch die Emigration bedingen Publikationspause fast ausschließlich auf Englisch.18 In Hamburg war Türkheim im „Zahnärztlichen Verein in Hamburg“ aktiv und regte nach dem ersten Weltkrieg die Gründung seines „Wissenschaftlichen Ausschusses“ an, dem er auch angehörte.19 In England gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der „Continental Dental Society“ und war zehn Jahre ihr Vorsitzender (siehe unten).

Türkheims Ehefrau Margarete verstarb am 3. Mai 1933 an einem Krebsleiden und hinterließ ihn mit den 18 und 13 Jahre alten Söhnen.20 Kurz zuvor, im April 1933, war Türkheim wegen des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von seinen Aufgaben als Hochschullehrer entbunden und zum 31. Juli aus dem Beamtenverhältnis entlassen worden. Damit verlor er auch die Lehrbefugnis und den Zugang zum wissenschaftlichen Labor, was seine wissenschaftliche Tätigkeit in Deutschland beendete.

Weitere Demütigungen folgten: 1936 wurde er aufgefordert, den Professorentitel von den Namensschildern an seiner Wohnung und Praxis zu streichen und 1940 – nach der Emigration – entzog die Hamburger Universität ihm gemäß des „Gesetzes über die Führung akademischer Grade“ den Doktortitel, weil ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden sei.21

Für das Zielland England entschied sich Türkheim bewusst. Er hatte das Land bereits besucht, hatte Kontakte zu Kollegen dort und beherrschte die Sprache. Außerdem war es für deutsche Zahnärzte dort grundsätzlich möglich, in ihrem Beruf zu arbeiten – anders als in vielen anderen Ländern.22 Mit der steigenden Zahl von Immigranten wurde die Berufsausübung aber auch hier praktisch immer schwieriger.23

Im Oktober 1936 kam Türkheim in London an und nahm die Arbeit als Zahnarzt in der Praxis des englischen Kollegen Nathan Lewin im Londoner West-End (34 Devonshire Place) auf.24 1942 heiratete Türkheim die ebenfalls aus Hamburg stammende Immigrantin Franziska (in England: Frances) Reiss, geb. Simonis (1899–1983).25 1943 gehörte Türkheim zu den Gründungsmitgliedern der „Continental Dental Society“26 , eines Vereins für vor allem deutsche und österreichische Zahnärzte, die zu wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Zwecken zusammenkamen. 1945 wurde er Vorsitzender der Gesellschaft. Unter seiner Ägide wurden wissenschaftliche und praktische Fortbildungen angeboten, die nicht nur von Immigranten, sondern auch von britischen Zahnärzten besucht wurden.27 Dem trug der Verein Rechnung, indem er sich 1957 in „Anglo-Continental Dental Society“ umbenannte. Bis 1976 richtete der Verein jährlich die „Hans Turkheim Memorial Lecture“ aus. 1983 wechselte der Name erneut, diesmal zu „European Dental Society“, die sich jedoch drei Jahre später auflöste.28 Türkheims wissenschaftliches Renommee in England lässt sich auch daran ablesen, dass er 1949 zum Mitglied der Royal Society of Medicine gewählt wurde.29

Im Jahr 1948 reisten Türkheim und seine Ehefrau Frances zum ersten Mal nach Kriegsende wieder nach Deutschland. Die Zahnärztekammer Hamburg hatte ihn zu einem Vortrag über die „zahnärztlichen Verhältnisse in Großbritannien“30 eingeladen. In persönlichen Reiseberichten bemerken die Türkheims Scham und Verdrängen der nationalsozialistischen Verbrechen unter den Hamburgern. Türkheim erlebte dies auch als persönliche Ablehnung. Er schrieb: „Hier merkte ich zum ersten Mal, wie unerwünscht meine Rückkehr war. [Ein Syndikus der Hamburger Universität] war kalt, eisig und ablehnend, als ob er sich aergerte darueber, daß ich waehrend der ganzen Jahre in Sauss und Brauss und in England leben konnte, waehrend er mit den anderen Volksgenossen die teutsche Heimat vor dem juedischen Dolchstoss retten mussten.“31

„Meine Rückkehr war unerwünscht“

Für Türkheim war zu diesem Zeitpunkt klar, dass er nicht nach Deutschland zurückkehren wollte. Dennoch nahm er 1951 über einen Rechtsanwalt Kontakt zur Universität Hamburg auf, der im Jahr 1952 zu seiner Ernennung zum Honorarprofessor führte (Abbildung 2). Türkheim erklärte: „Wenn die Fakultät bereit ist, mich zu rehabilitieren, bin ich natürlich auch bereit, Vorlesungen zu halten.“32 Dekan Schuchert war Kieferchirurg33 und setzte sich für die Ernennung Türkheims ein. Er führte Unterricht in Blockveranstaltungen bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1955 durch34 , ohne jedoch seine Praxis, seine Arbeit in der Continental Dental Society oder seinen Lebensmittelpunkt in London aufzugeben.

Hans Türkheim gehörte der ersten Generation akademisch lehrender und forschender Zahnärzte in Deutschland an, die nicht auch ein Studium der Humanmedizin abgeschlossen hatten. Als erster Habilitand für Zahnmedizin in Hamburg, Betreuer einer Generation von Doktoranden und Forscher ist er eine wichtige Person der Zahnmedizingeschichte. 1936 gelang ihm noch rechtzeitig die Flucht nach England, so dass er nicht nur dem Holocaust entkam, sondern auch wieder als Zahnarzt und Forscher wirken konnte. Als etablierter britischer Zahnarzt hinterließ er historische Quellen, aus denen sich Leben und Werk rekonstruieren lassen.

Nach dem Krieg entwickelte Türkheim ein ambivalentes Verhältnis zu Deutschland: Vor seinem Besuch in Hamburg 1948 nahm er die britische Staatsbürgerschaft an und schrieb seinen Namen von da an konsequent ohne Umlaut („Turkheim“)35 . Gleichzeitig wollte er an seine langjährige Verbindung zur Universität Hamburg anknüpfen und nahm deswegen 1952 die Lehrtätigkeit als Honorarprofessor dort auf. Heute erinnert vor dem neuen Hauptgebäude des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf ein Stolperstein an ihn.36

Dr. Matthias Krischel

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin

Centre for Health and Society, Medizinische Fakulta¨t Heinrich-Heine-Universita¨t Du¨sseldorf

Moorenstr. 5, 40225 Du¨sseldorf

matthis.krischel@hhu.de

1 Hohmann, 2009;

2 Hohmann, 2010, 45–46;

3 Hohmann, 2010, 23–31;

4 Geburtsurkunde Hans Jacob Türkheims aus dem Geburtsregister;

5 Hohmann, 2010, 63–66;

6 Hohmann, 2010, 69

7 Hohmann, 2010, 72;

8 Forsbach, 2018;

9 Groß, 2018a;

10 Vorfahrensnachweis und Abstammungsnachweis von Hans Türkheim, 24.4.1933;

11 Krischel, 2017;

12 Hohmann, 2010, 85;

13 Groß/Krischel, 2020, 27;

14 Hohmann, 2010, 89–95;

15 Hohmann, 2010, 96–98;

16 Hohmann, 2010, 159–277;

17 Hohmann, 2010, 305–306;

18 Hohmann, 2010, 159;

19 Hohmann, 2010, 278–279;

20 Hohmann, 2010, 118;

21 Hohmann, 2010, 118–121;

22 Hohmann, 2010, 127;

23 Zamet, 2006;

24 Hohmann, 2010, 135;

25 Hohmann, 2010, 136–7;

26 Zamet, 2007, 242–245;

27 Hohmann, 2010, 139–141;

28 Hohmann, 2010, 282–285;

29 Hohmann, 2010, 285;

30 Hohmann, 2010, 143;

31 Reisebericht Türkheim, 2003, 188;

32 Türkheim an Dekan Schuchardt, 4.10.1951;

33 Groß, 2018b;

34 Hohmann, 2010, 148–154;

35 Hohmann, 2010, 143–144;

36www.stolpersteine-hamburg.de (15.1.2020)

Literaturliste

Andrae M (2003) Die Vertreibung der jüdischen Ärzte des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-St. Georg im Nationalsozialismus. Med. Diss. Hamburg, überarb. Fassung. Norderstedt, Books on Demand

Forsbach R (2018) Verfolgt, vertrieben, rehabilitiert. Alfred Kantorowicz und seine Bonner Kollegen (1933-1962).

In: Groß D, Westemeier J, Scmidt M, Halling T, Krischel M (Hrsg.) Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“. Berlin, Lit, 197-214

Groß D (2018a) Alfred Kantorowicz – Wegbereiter der Jugendzahnpflege. Zahnärztliche Mitteilungen 108 (7), 734-735

Groß D (2018b) Karl Schuchardt – der wirkmächtigste Nachkriegs-Chirurg. Zahnärztliche Mitteilungen 108 (14), 1682-1683

Groß D, Krischel M (2020) Zahnärzte als Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“. Zahnärztliche Mitteilungen 110 (1-2), 24-27

Hohmann C (2010) Ein jüdisches Professorenschicksal zwischen Hamburg und London. Der Zahnmediziner Hans Jacob Türkheim (1889-1955). Berlin, Lit

Hohmann C (2009) The caries researcher and prosthodontist Hans Jacob Turkheim (1889-1955). Dental History 49, 77-87

Krischel M (2017) Zahnmedizin in Deutschland von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Hugger A (Hrsg) 100 Jahre Westdeutsche Kieferklinik. Düsseldorf, Universitätsklinikum Düsseldorf, 9-20

Zamet JS (2006) Aliens or colleagues Refugees from Nazi oppression, 1933-1945. British Dental Journal 201 (6), 397-407

Zamet JS (2007) German and Austrian refugee dentists. The response of the British authorities, 1933-1945. Phil. Diss., Oxford, Oxford Brooks University

Carmen Hohmann, Thorsten Halling

Dr. Matthis Krischel

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf

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