Ärzte berichten aus Bergamo

„Das Coronavirus ist das Ebola der Reichen!“

In der wohlhabenden Lombardei liegt das Epizentrum Italiens, besonders in der Stadt Bergamo gerät der Ausbruch mehr und mehr außer Kontrolle. Erschöpfte Ärzte eines Krankenhauses wagen eine erste Analyse: Gefordert ist ein langfristiger Plan für die nächste Pandemie, denn eine solche Katastrophe kann ihrer Ansicht nach überall stattfinden.

Die Lombardei ist eine der reichsten und am dichtesten besiedelten Regionen Europas – und am stärksten vom Coronavirus betroffen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) meldete am 18. März 74.346 im Labor bestätigte Fälle in Europa – fast die Hälfte (35.713) in Italien. Davon sind zu diesem Zeitpunkt allein in Bergamo mit seinen 120.000 Einwohnern 4.305 Infizierte verzeichnet – mehr als in Mailand oder anderswo im Land.

Auch das dortige Krankenhaus Papa Giovanni XXIII., eine brandneue, hochmoderne Einrichtung mit 48 Intensivbetten, ist hochgradig kontaminiert. „Wir sind weit über den Kipppunkt hinaus“, schreiben die Ärzte um Mirco Nacoti in ihrem am 21. März erschienen Artikel. Insgesamt 300 von 900 Betten sind mit Covid-19-Patienten belegt, 70 Prozent hat man für schwere Verlaufsfälle mit realer Überlebenschance reserviert. „Die Situation hier ist düster, da wir weit unter unserem normalen Versorgungsstandard arbeiten“, skizzieren die Mediziner ihre Lage.

Das Krankenhaus ist völlig kontaminiert

Wartezeiten auf ein Intensivpflegebett betragen demnach Stunden, ältere Patienten werden nicht wiederbelebt und sterben ohne angemessene Palliativversorgung allein, während die Familie telefonisch benachrichtigt wird – „oft mit guter Absicht von einem erschöpften und emotional erschöpften Arzt ohne vorherigen Kontakt“.

In der Umgebung scheinen die Zustände jedoch noch schlimmer: Die meisten Krankenhäuser seien überfüllt und kurz vor dem Zusammenbruch. Die Patienten lägen auf Bodenmatratzen. Medikamente, mechanische Beatmungsgeräte, Sauerstoff und persönliche Schutzausrüstung stünden nicht zur Verfügung.

In den Krankenhäusern versuchen die Ärzte und das Pflegepersonal derweil verzweifelt, das System funktionsfähig zu halten, heißt es in dem Beitrag. Außerhalb würden Impfprogramme gestoppt, die Vorsorge werde völlig vernachlässigt und selbst die Erbringung von Standardleistungen wie etwa Entbindungen sei problematisch.

Seit dem 10. März befinden wir uns in Quarantäne. Leider scheint die Außenwelt nicht zu wissen, dass dieser Ausbruch in Bergamo außer Kontrolle geraten ist.

Mitten in dieser Krise, schreiben die Ärzte, erfahren sie, dass die Krankenhäuser zu den Hauptüberträgern von Covid-19 zählen, weil der Virus dort schnell auf nicht infizierte Patienten übertragen wird. Zu den Vektoren gehören auch Krankenwagen und das Personal, das teilweise asymptomatische Verläufe zeigte oder bei entsprechenden Anzeichen nicht überwacht wurde. „In der Folge sterben Ärzte und Pfleger, darunter auch junge Menschen, was den Stress der Menschen an der Front erhöht“, bilanziert Nacoti.

Dieser Ausbruch sei Ausdruck einer Krise des öffentlichen Gesundheitswesens, lautet das Fazit der Autoren. Die westlichen Gesundheitssysteme seien um das Konzept der patientenzentrierten Versorgung herum aufgebaut worden, aber eine Epidemie erfordere einen Perspektivwechsel hin zu einem Konzept der gemeindenahen Versorgung. „Was wir schmerzlich erfahren, ist, dass wir Experten für öffentliche Gesundheit und Epidemien brauchen.“ Doch dies habe bisher nicht im Fokus der Entscheidungsträger gestanden: „Es fehlt uns an Fachwissen über die Bedingungen von Epidemien.“

Patienten liegen auf Bodenmatratzen

Zentral sei, mithilfe häuslicher Pflege und mobiler Kliniken unnötige Bewegungen zu vermeiden und die Krankenhäuser zu entlasten. So könnten Sauerstofftherapien, Pulsoximeter und Lebensmittel in die Häuser von leicht kranken und rekonvaleszenten Patienten geliefert werden, inklusive telemedizinischer Instrumente zur Überwachung. „Dieser Ansatz würde den Krankenhausaufenthalt begrenzen und dadurch die Ansteckung verringern, Patienten und medizinisches Personal schützen und den Verbrauch von Schutzausrüstung minimieren“, verdeutlicht Nacoti. In Krankenhäusern sollte dem Schutz des medizinischen Personals Vorrang eingeräumt werden. Bei den Protokollen sollten keine Kompromisse gemacht werden; Ausrüstung müsse verfügbar sein. Maßnahmen zur Verhinderung von Infektionen müssten strikt und überall umgesetzt werden.

Ihr abschließender Appell: „Das Coronavirus ist die Ebola der Reichen und erfordert eine koordinierte transnationale Anstrengung. Es ist nicht besonders tödlich, aber es ist sehr ansteckend. Je stärker die Gesellschaft medizinisch organisiert und zentralisiert ist, desto weiter verbreitet sich das Virus. Diese Katastrophe, die sich in der reichen Lombardei entfaltet, könnte sich überall ereignen.“

Mirco Nacoti et al.:

At the Epicenter of the Covid-19 Pandemic and Humanitarian Crises in Italy: Changing Perspectives on Preparation and Mitigation, in: NEJM Catalyst, March 21, 2020, DOI: 10.1056/CAT.20.0080 )

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