Eine 70-jährige Frau stellte sich auf Überweisung eines niedergelassenen MKG-chirurgischen Kollegen mit einem sich progredient entwickelnden offenen Biss vor. Anamnestisch hatte sie im Urlaub vor drei Monaten einen Fahrradsturz erlitten, war direkt auf das Kinn gefallen und hatte sich dabei eine mehrfragmentäre Unterkieferfraktur (paramedian rechts, Gelenkfortsätze beidseits) zugezogen. Noch am Unfallort erfolgte die offene Reposition und Osteosynthese der Paramedianfraktur. Die beidseitige Collumfraktur wurde geschlossen-konservativ mittels fünfwöchiger intermaxillärer Fixierung behandelt. Klinisch zeigte sich ein frontoffener Biss von circa 4 mm mit Frühkontakt im Molarenbereich (Abbildung 1). Die Patientin konnte auch anhand alter Fotografien überzeugend darstellen, dass dieser vor dem Unfall bei ihr nicht vorgelegen hatte.
Die Patientin war sehr verängstigt, da sich die Situation immer weiter verschlechterte, ihr Biss sich also immer mehr verschob. Insbesondere beklagte sie die kaufunktionelle Einschränkung mit dem Unvermögen des Abbeißens, aber auch den für sie ästhetisch unbefriedigenden Status. Sensorische oder motorische Defizite lagen nicht vor. Eine 3-D-radiologische Untersuchung via dentaler Volumentomografie (DVT) zeigte beidseits in Fehlstellung teilweise pseudarthrotisch eingeheilte Kiefergelenksfortsätze sowie eine suffiziente osteosynthestische Versorgung paramedian rechts (Abbildungen 2 und 3).
Abb. 2: 3-D-Rekonstuktion des DVT-Datensatzes: suffiziente paramediane Osteosynthese sowie Fraktur des rechten Gelenkfortsatzes mit Dislocatio ad longitudinem und ad axim | Peer W. Kämmerer
Abb. 3: 3-D-Rekonstuktion des DVT-Datensatzes: Mehrfragmentfraktur des linken Gelenkfortsatzes mit Dislokation in allen Ebenen | Peer W. Kämmerer
Auch unter Beachtung des langen Zeitraums zwischen dem Frakturhergang und der Vorstellung wurden mit der Patientin die Optionen des Belassens der Situation, einer kieferorthopädischen, einer prothetischen und einer chirurgischen Therapie mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen ausführlich besprochen. Sie entschied sich für die chirurgische Option, da sie sich hierdurch am schnellsten Besserung erhoffte. Daher erfolgte im Rahmen einer Intubationsnarkose die Darstellung der beiden in Fehlstellung verheilten Frakturen über einen präaurikulären Zugang (Abbildung 4). Mittels Piezochirurgie folgte die Re-Osteotomie im Bereich der ehemaligen Brüche. Eine intermaxilläre Fixierung durch Drahtligaturen und IMF-Schrauben ermöglichte anschließend eine funktionsstabile Osteosynthese mittels Miniplatten in Okklusion (Abbildungen 5 und 6).
Abb. 4: Operativer Situs: Im Bereich des linken Kiefergelenks stellt sich eine in Fehlstellung pseudarthrotisch verheilte Fraktur dar. | Peer W. Kämmerer
Abb. 5: Postoperatives DVT: in der koronaren Schicht sichtbares Ergebnis nach Reposition und Osteosynthese mit Darstellung vor allem des linken Gelenkkopfs | Peer W. Kämmerer
Abb. 6: 3-D-Rekonstuktion des postoperativen DVT-Datensatzes: Ergebnis nach Reposition und Osteosynthese mit Darstellung des rechten Gelenkkopfs | Peer W. Kämmerer
Aufgrund der Fehlstellung mit verkürzter Abstützung war bereits präoperativ die Notwendigkeit der Bruchspaltaugmentation abzusehen, die im Anschluss mit Beckenkammspongiosa durchgeführt wurde (Abbildung 7). Postoperativ zeigte sich ein suffizientes Ergebnis der osteosynthetisch gesicherten Reposition mit guter Okklusion.
Abb. 7: 3-D-Darstellung der versorgten Frakturen beidseits | Peer W. Kämmerer
Die Patientin war sehr zufrieden mit dem ästhetischen, aber vor allem mit dem funktionalen Resultat: So konnte sie noch während des kurzen stationären Aufenthalts wieder ohne Probleme vom Brot abbeißen. Eine Einschränkung des Nervus facialis beidseits lag nicht vor. Die ambulante Weiterbehandlung übernahm der niedergelassene Kollege.
Diskussion
Frakturen des Unterkiefers machen 65 bis 70 Prozent aller Gesichtsschädelfrakturen aus, wobei am häufigsten Paramedian- beziehungsweise Medianfrakturen mit 25 bis 30 Prozent und Gelenkfortsatzfrakturen mit 25 bis 30 Prozent auftreten. Weitere typische Frakturlokalisationen sind der Kieferwinkel, die Prämolaren-, die Eckzahn- und die Molarenregion sowie im Bereich des Ramus und diakapitulär innerhalb des Kiefergelenks. Charakteristisch treten Mehrfachbrüche in bestimmten Kombinationen wie Median und im Bereich eines oder beider Gelenkfortsätze auf. Die häufigsten Ursachen für Unterkieferfrakturen im Allgemeinen stellen Verkehrsunfälle, Rohheitsdelikte sowie in den vergangenen Jahren vermehrt Stürze dar [Schneider und Kämmerer et al., 2015; Goedecke et al., 2019].
Eine Collumfraktur präsentiert sich klinisch häufig mit eingeschränkter Mundöffnung und einer Deviation auf die Seite der Fraktur. Durch die Verkürzung der Abstützung auf der betroffenen Seite können ein neu aufgetretener Frühkontakt im Molarenbereich ipsilateral sowie ein seitoffener Biss kontralateral resultieren. Bei bilateraler Fraktur der Colla – wie im beschriebenen Fall – ist nicht selten ein frontoffener Biss mit Rückverlagerung des Unterkiefers zu beobachten.
Bei der klinischen Untersuchung kann es durch leichten Druck auf das Kinn, durch Palpation des Gelenkanteils oder auch durch Austasten des äußeren Gehörgangs zu Schmerzen kommen [Kleinheinz et al., 2009]. Die notfallmäßige Erstversorgung kann mittels interfragmentärer Ruhigstellung und mandibulo-maxillärer Fixierung erfolgen (syn.: intermaxilläre Fixierung, IMF) [Bacher et al., 2011].
Während die interfragmentäre Ruhigstellung im Wesentlichen durch Drahtligaturen erreicht wird, gelten bei der Collumfraktur zur intermaxillären Fixierung IMF-Schrauben den Sprossenschienen als überlegen. Insbesondere ist das Verletzungsrisiko für den Chirurgen geringer, aber auch die benötigte Zeit für die Anbringung bei Verwendung von Schrauben kürzer. Bezüglich der Stabilität der Versorgung und dem Ergebnis der Okklusion zeigen sich keine Unterschiede [van den Bergh et al., 2015; Qureshi et al., 2016].
Die Therapie der Fraktur des Collum mandibulae kann grundsätzlich geschlossen-konservativ oder offen-chirurgisch erfolgen. Welche dieser Strategien zur Behandlung von Collumfrakturen überlegen ist, wird seit Langem kontrovers diskutiert.
Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2008 kam anhand der damals herrschenden Datenlage zu keinem Ergebnis bezüglich der zu favorisierenden Therapie [Nussbaum et al., 2008], wobei sich zuletzt ein Trend hin zur operativen Versorgung abzeichnete [Neff et al., 2014], insbesondere bei Dislokationen mit einem Winkel zwischen 10 und 45°, mit einer Verkürzung ab 2 mm [Schneider et al., 2008] oder bilateralen Collumfrakturen [Gupta et al., 2012; Singh et al., 2012]. Begründet wird dies mit geringeren Schmerzen, einer besser eingestellten Okklusion und einem besseren funktionellen Ergebnis [Berner et al., 2015].
Eine nicht oder schlecht reponierte Fraktur führt auch zu ästhetischen Einbußen wie Gesichtsasymmetrien [Ellis und Throckmorton, 2000]. Hier bietet ein extraoraler Zugang einen adäquaten Überblick über die Fraktur und somit über das Ergebnis der Reposition und Osteosynthese, insbesondere bei hoch gelegenen Frakturen sowie nach medial luxiertem proximalem Frakturanteil [Colletti et al., 2014].
Weitere Komplikationen sowohl nach geschlossen-konservativer als auch nach offen-chirurgischer Therapie umfassen neben Gesichtsasymmetrie, Kinnverlagerung, eingeschränkter Mobilität des Unterkiefers, craniomandibulärer Dysfunktion, Ankylose auch chronische Schmerzen sowie – wie bei unserer Patientin – eine persistierende Malokklusion [Forouzanfar et al., 2013]. Das Auftreten von Malokklusionen wie einem frontoffen Biss wird durch die verkürzte Abstützung (Frakturdislokation) [Chen et al., 2011] sowie durch den Zug der suprahyoidalen Muskulatur auf den Unterkiefer erklärt [Becking et al., 1998] und tritt bei bis zu 24 Prozent der konservativ-geschlossen [Forouzanfar et al., 2013; Rozeboom et al., 2017] und nur bei etwa 10 Prozent der chirurgisch-offen [Chen et al., 2011] versorgten Collumfrakturen auf.
Insgesamt zeichnet sich hier also das offene Vorgehen als die Methode mit einem für diesen Parameter besseren Ergebnis ab [Al-Moraissi und Ellis, 2015]. Die Korrektur in Malokklusion verheilter Collumfrakturen kann je nach Ausmaß durch mono- oder durch bimaxilläre Umstellungsosteotomien – mit den entsprechenden Komplikationsraten – erfolgen [Becking et al., 1998]. Zu bedenken ist dabei auch die schlechtere Lebensqualität bis zur endgültigen Korrektur der Fehlstellung [Palomares et al., 2016].
Fazit für die Praxis
- Die operative Versorgung von Collumfrakturen wird zunehmend als Therapie der Wahl angesehen.
- Die Erstversorgung mittels interfragmentärer Drahtligaturen reduziert Schmerzen und kann die definitive Frakturversorgung erleichtern.
- Gelenkfortsatzfrakturen gehören zu den häufigsten Unterkieferfrakturen.
- Das Auftreten von Facialisschäden ist bei richtiger Wahl des extra-oralen Zugangs vergleichsweise ebenso niedrig wie bei enoraler Schnittführung.
Ähnlich wie für das Aufkommen von Malokklusionen war auch der Vergleich posttherapeutischer Schmerzen in einer durchgeführten Metaanalyse aufgrund der Art der Datenerhebung nicht möglich [Berner et al., 2015]. Veröffentlichte Ergebnisse zeigen jedoch entweder einen Vorteil des offen-chirurgischen Vorgehens [Gupta et al., 2012] oder keinen Unterschied [Park et al., 2010] bezüglich des Schmerzes. In bis zu 16 Prozent der Fälle wird jedoch ein bleibender Schmerz beschrieben [Rozeboom et al., 2017].
Als Indikator für die Mobilität des Unterkiefers wird neben der Latero- und der Protrusion eine normale Mundöffnung ohne Deviation angesehen. Diese wird bei bis zu 14 Prozent der durch geschlossen-konservatives Vorgehen therapierten Patienten nicht vollständig erreicht [Monnazzi et al., 2017; Rozeboom et al., 2017]. Ein offen-chirurgisches Vorgehen scheint hier bezüglich der Mobilität überlegen zu sein [Eckelt et al., 2006; Al-Moraissi und Ellis, 2015].
Eine relevante Komplikation nach operativer Versorgung von Collumfrakturen ist das Auftreten von dauerhaften oder temporären Facialisparesen. Eine temporäre Facialisparese tritt bei enoralem Zugang in 0,72 bis 4,2 Prozent der Fälle auf, während bei retromandibulärem oder modifiziertem präaurikulärem oder retroaurikulärem Zugang die temporäre Facialisstörung in 0 bis 3,4 Prozent der Fälle auftritt [Al-Moraissi et al., 2018]. Dauerhafte Facialisstörungen werden unabhängig von dem gewählten Zugang in 0,3 bis 2,2 Prozent der Fälle berichtet [Al-Moraissi et al., 2018].
Hon.-Prof. Dr. Dr. Frank Schmidseder, M.Sc., M.Sc.
Kompetenzzentrentrum für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
Kaiserstr. 11, 60311 Frankfurt
Dr. Matthias Gielisch
Assistenzarzt
Klinik und Poliklinik für MKG-Chirurgie der Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 3, 55131 Mainz
PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, Ma, FEBOMFS
Leitender Oberarzt und stellvertretender Klinikdirektor
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Plastische Operationen
Universitätsmedizin Mainz Augustusplatz 2, 55131 Mainz
peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de
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