Editorial

Neue Normalitäten

In den deutschen Fußballstadien rollt der Ball wieder – wenn auch ohne Zuschauer. Unabhängig von der Diskussion, ob die Entscheidung, Fußballspiele unter besonderen Auflagen wieder stattfinden zu lassen, richtig oder falsch war, erscheint dieses Bild symptomatisch für unsere aktuelle Situation in der Corona-Krise. Nach einer rund zweimonatigen Starre kommt langsam wieder Bewegung ins öffentliche und private Leben.

Verhaltener Optimismus macht sich breit. Urlaubsreisen rücken aus der Ferne langsam wieder in mögliche Nähe. Aber Vieles, was unser Leben vor Beginn der Pandemie entscheidend ausmachte, fehlt noch. Unbekümmertheit, Lebensfreude, Ausgelassenheit – egal, ob beruflich oder privat – stellen sich nicht wirklich ein. Vielmehr durchleben wir eine seltsame Zwischenphase, die einerseits von Erleichterung darüber geprägt ist, dass wir in Deutschland insbesondere im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn noch einmal glimpflich davon gekommen zu sein scheinen. Andererseits schwingt immer die Befürchtung mit, dass das noch nicht alles gewesen sein könnte. Experten und Bürger lauschen intensiv auf das mögliche Anrollen einer zweiten Welle. Eine richtige Aufbruchsstimmung nach dem Motto „Das haben wir geschafft, jetzt geht es wieder aufwärts“ lässt deshalb noch auf sich warten.

Währenddessen müssen wir uns an Dinge gewöhnen, die wir vor einem halben Jahr nicht für möglich gehalten hätten. Mund-Nasen-Schutz, Plexiglasscheiben und Bodenmarkierungen gehören auch jenseits von medizinischen Einrichtungen inzwischen zum Alltag. Und als Brillenträger hat man langsam die richtigen Handgriffe beim Auf- und Absetzen von Schutzmasken verinnerlicht. „Social Distancing“ ist für viele Menschen – von einigen Fußballspielern einmal abgesehen – zum neuen Normal geworden. Es steht zu befürchten, dass wir noch länger in dieser Phase leben müssen.

Zu den Paradoxien dieser Zeit gehört, dass trotz allgemeiner Lockerungen der Schutzmaßnahmen – die in Deutschland ohnehin weit von den drastischen Maßnahmen in Italien oder Frankreich entfernt waren – nicht gerade wenige Menschen regelmäßig auf die Straße gehen, um gegen die vermeintliche Einschränkung ihrer Freiheitsrechte zu demonstrieren. Verwundert reibt man sich die Augen, wenn Bürgerinnen und Bürger Verschwörungsfantasien anhängen, die man im 21. Jahrhundert für überholt geglaubt hatte – kräftig befeuert von Gruppierungen des äußerst rechten Spektrums. Man könnte meinen, ein neues Zeitalter der Aufklärung tut dringend not.

Blicken wir auf die politische Bühne, wo man sehen kann, wie schnell das Pendel in Pandemie-Zeiten auch dort schwingt. Konnten Kanzlerin Angela Merkel und mit ihr die Union zum Beginn des Lockdowns Beliebtheits- und Unterstützungswerte erreichen, die man vor nicht allzu langer Zeit im Bereich des Fabelhaften verortet hätte, so schmelzen diese Höchstwerte derzeit wie Eis in der Juni-Sonne. Mit der Abgabe der Krisenführung an die Landesfürsten erodiert Merkels Macht im Eiltempo. Wie sie aus dieser Krise hervorgehen wird, wird sicherlich im Wesentlichen davon abhängen, wie schnell Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Viele Menschen werden noch lange mit den finanziellen Folgen der Pandemie zu kämpfen haben, auch wenn die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Krise in Deutschland sicher weit besser sind als in vielen anderen europäischen Ländern.

Aus den Zahnarztpraxen erreichen uns indes verhalten optimistische Stimmen. Vielen Zahnärztinnen und Zahnärzten scheint es zu gelingen, das Vertrauen ihrer Patientinnen und Patienten zurückzugewinnen – so es denn überhaupt jemals gestört war. Ein sicheres Indiz: Die Patienten kehren in die Praxen zurück und nehmen wieder verstärkt Termine wahr. Hier zahlt sich aus, dass viele Zahnärztinnen und Zahnärzte mit ihren Teams am Ball geblieben sind – um im eingangs genannten Bild zu bleiben. Umso bitterer ist daher, dass sie trotz der für sie als selbstverständlich erachteten Sicherstellung ihres Versorgungsauftrags, seitens der Politik mit der sogenannten SARS-CoV-2-Versorgungsstrukturen-Schutzverordnung eine kräftige Ohrfeige erhalten haben. Dabei geht es bei Weitem nicht nur um eine angemessene finanzielle Hilfe in dieser schweren Zeit. Die finanziellen Auswirkungen der Pandemie auf die Zahnarztpraxen sind gravierend und werden noch in den nächsten Jahren zu spüren sein. Vielmehr geht es gerade auch um die fehlende Anerkennung der geleisteten hervorragenden Patientenversorgung unter widrigen Bedingungen.

Nichtsdestotrotz scheint mir ein gesunder Optimismus das Gebot der Stunde – damit der Ball wieder richtig rollt.

Sascha Rudat

Chefredakteur

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