Corona-Krise in den Zahnarztpraxen

Warum sich nicht neu erfinden?

Sven Thiele
Mangelnde Schutzausrüstung, verunsicherte Patienten und ein enormer Umsatzrückgang – keine Frage, die Lage für deutsche Zahnarztpraxen ist ernst. Nicht wenige mussten Kurzarbeit anmelden und viele wissen nicht, wie es angesichts der derzeitigen Situation weitergehen soll. Aber jede Krise ist auch eine Chance. Sogar die Corona-Krise, sagt unser Autor Sven Thiele und gibt einige Denkanstöße.

Patienten fragen sich, ob eine erhöhte Infektionsgefahr in Zahnarztpraxen besteht, stornieren oder verlegen ihre Termine. Die Politiker halten Zahnarztpraxen für nicht sytemrelevant, wobei die in Aussicht gestellten „Liquiditätshilfen“, die ja zu 100 Prozent zurückgezahlt werden müssen, ohnehin nur einen Bruchteil des finanziellen Ausfalls kompensieren würden. Vor diesem Hintergrund fragen sich viele Zahnärztinnen und Zahnärzte, was sie tun sollen. Und was mit ihrer Praxis passiert, sollten die derzeit bestehenden Beschränkungen aus Angst vor einer zweiten oder gar dritten Infektionswelle weiter aufrechterhalten werden.

Erste konkrete Zahlen geben einen Eindruck davon, was die Pandemie wirtschaftlich für Deutschland bedeuten wird. Die Agentur für Arbeit berichtet von zehn Millionen Menschen in Kurzarbeit, fast eine halbe Million mehr Arbeitslose waren für den April 2020 gegenüber dem Vergleichsmonat im vergangenen Jahr gemeldet. Offiziell wird mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 6,3 Prozent gerechnet. Lieferketten sind unterbrochen, Restaurants geschlossen, Tourismusunternehmen stehen vor dem Kollaps und trotz teilweise wieder geöffneter Geschäfte ist von Kauflust nichts zu spüren.

Bei den Sparkassen und Banken des Landes sind bisher Zehntausende Anträge auf die Stundung von Krediten eingegangen. Viele Bürger werden in Zukunft darüber nachdenken, welche zahnärztliche Behandlung für sie überhaupt noch finanziell infrage kommt. Mit anderen Worten: Die eigentlichen Probleme kommen auf viele Praxen erst noch zu.

Kämpfen Sie nicht gegen die Umstände!

Schlimm ist aber nicht nur die Situation, schlimm ist vor allem, wenn Sie als Praxisinhaber resignieren. Derzeit arbeiten die Praxen alle unter den gleichen Bedingungen. Die Umstände können Sie als Praxisinhaber nicht ändern, was Sie aber machen können, ist proaktiv zu handeln. Denn eine Krise wie die derzeitige birgt große Chancen für alle, die auch jetzt ihrem Anspruch als Zahnarzt und Unternehmer gerecht werden wollen.

Als 1665 die Pest in England wütete, begab sich Isaac Newton für zwei Jahre im Haus seiner Eltern in Selbstisolation, da er an der Universität in Cambridge sowieso nicht unterrichten konnte. In diesen zwei Jahren entwickelte er grundlegende Ideen zur Infinitesimalrechnung, in der Mechanik und Optik, die heute noch Bestand haben.

Kämpfen Sie also nicht gegen die derzeitigen Umstände, sondern setzen Sie Ihre Kraft für Ihre Patienten und Ihre Praxis ein. Denken Sie daran: In dieser Zeit sind Ihre Patienten nicht an einem schicken Empfangstresen interessiert oder ob sie auf grünen, blauen oder grauen Behandlungsstühlen sitzen. Investitionen in Praxisatmosphäre, Stil und Ästhetik machen derzeit also wenig Sinn.

Viel wichtiger ist, dass Sie informieren und kommunizieren, denn bei den Patienten ist Vertrauen zurzeit die bedeutendste Währung. Und wenn Patienten momentan nicht in die Praxis kommen, ist dies auch ein Vertrauensverlust für die Praxis.

Rufen Sie doch mal Ihre Patienten an

Wie wäre es also, wenn Sie sich ans Telefon setzen und Ihre Patienten anrufen. Und zwar alle, von A bis Z. Sie selbst und Ihre Mitarbeiterinnen an der Rezeption. Jeder dürfte am Tag so etwa 50 bis 100 Patienten schaffen. Fragen Sie, wie es ihnen und ihrer Familie geht, in diesen schwierigen Zeiten. Ob Sie in irgendeiner Form helfen können. Machen Sie sich nicht nur auf interessante und spannende Gespräche gefasst: Richten Sie sich auch darauf ein, dass sich Ihre Aktion in Windeseile herumsprechen wird.

Lassen Sie Postkarten drucken, das geht schnell und kostet wenig Geld und teilen Sie Ihren Patienten darauf mit, dass Sie auch in dieser schwierigen Zeit für sie mit Ihrer Praxis da sind. Eine E-Mail ist günstiger? Stimmt. Eine Postkarte in heutiger Zeit erregt aber Aufsehen. Wer schreibt heute noch Postkarten? Eine Postkarte kann ich herumzeigen, während ich erzähle, wie sich „meine Zahnarztpraxis“ um mich kümmert. Geben Sie aber nicht der Versuchung nach, im nächsten Satz Ihre Praxisangebote aufzuzählen. Sie wollen Vertrauen aufbauen. Über Ihre Praxisangebote sprechen Sie, wenn Sie Ihrem Patienten persönlich gegenüber sitzen.

Ihre Mitarbeiterinnen sind zu Hause in Kurzarbeit? Nun, dann holen Sie sie schleunigst zurück, denn es gibt Arbeit. Sprechen Sie mit ihnen darüber, wie Ihr Hygienekonzept funktioniert und lassen Sie es sich von ihnen präsentieren. Und während Ihre Mitarbeiterinnen, die täglich Instrumente säubern, Oberflächen desinfizieren, Behandlungen vor- und nachbereiten, Ihnen das Hygieneprotokoll Ihrer Praxis erklären, zeigen wie ein Steri funktioniert und welches die einzelnen, detaillierten Schritte zur Infektionsvermeidung in Ihrer Zahnarztpraxis sind, ruft Ihre Rezeptionsmitarbeiterin einen Patienten nach dem anderen an und lädt zu einer Präsentation der besonderen Art in Ihrer Zahnarztpraxis ein: „Wir wissen, dass bei vielen Menschen derzeit die Sorge umgeht, sich mit dem Corona-Virus anzustecken. Vielleicht denkt der ein oder andere, dass dies auch in einer Zahnarztpraxis der Fall sein könnte. Deswegen haben wir uns in der Praxis gedacht, dass wir Sie gern einladen möchten, um Ihnen unser sicheres und bewährtes Hygienekonzept vorzustellen. Natürlich unter Wahrung der Abstandsregeln und selbstverständlich brauchen Sie keine Nasen-Mund-Maske mitzubringen, die gibt es hier in der Praxis für Sie.“ So oder so ähnlich könnte es sich anhören, wenn der Patient den Telefonhörer abnimmt und die Stimme Ihrer Mitarbeiterin hört.

Es drängt auch die Zeit, etwas für die mittel- und langfristige Entwicklung zu tun. Denn das medizinische Problem mit dem Corona-Virus ist das Eine, doch das Schwierigste steht noch bevor, wenn nämlich klar wird: Immer mehr funktioniert in der Wirtschaft nicht mehr. Jedenfalls nicht ein immer Mehr an Quantität. Ein Paradigmenwechsel ist unausweichlich.

Nur wer es jetzt schafft, eine Inventur zu machen, sich hinsetzt und sein eigenes Praxiskonzept hinterfragt, wird die Zukunft mit seiner Zahnarztpraxis erleben. Es geht nicht mehr darum, sich an prognostizierbare Sicherheit zu klammern. Denn die gibt es nicht mehr und die kommt auch nicht wieder. Ist Ihnen schon aufgefallen, wie häufig von Politikern und Medien die Worte „neue Normalität“ in den Mund genommen werden? Die erste Welle des Virus hat das deutsche Gesundheitssystem nicht an den Rand des Kollapses gebracht. Aber jetzt wird bereits vor einer zweiten und dritten Welle gewarnt. Mit anderen Worten, die derzeitigen Verhältnisse werden sich nicht morgen bereits ändern. Machen Sie sich auf einen längeren Prozess gefasst, von dem noch niemand weiß, was er bringt.

Sie haben aber Ihre Mitarbeiterinnen aus der Kurzarbeit zurückgeholt und können gleich loslegen. Fragen Sie sie, wie sie rückwirkend die Entwicklung der Praxis betrachten. Was ist ihnen dabei aufgefallen, was nicht optimal lief. Ihre Mitarbeiterinnen sind diejenigen, die die Informationen von Patienten bekommen. Was Patienten bisher nicht gefallen hat, womit sie unzufrieden waren, was Patienten sich gegebenenfalls gewünscht hätten.

Fangen Sie an zu ent-wickeln – im wahrsten Sinne des Wortes

Nehmen Sie Ihre Mitarbeiterinnen und spielen Sie mit ihnen den gesamten Ablauf der Behandlung durch. Fangen Sie mit der Terminvergabe an, und machen Sie weiter, wenn der Patient Ihre Zahnarztpraxis betritt, sich an der Rezeption anmeldet, ins Wartezimmer setzt und ins Behandlungszimmer geholt wird. Gehen Sie auch die Situation im Behandlungszimmer durch und genauso den Moment, wo der Patient an der Rezeption verabschiedet wird.

Wichtig hierbei ist: Jede und jeder ist einmal der Patient. Auch Sie selbst als Praxisinhaber. Setzen Sie sich anschließend oder am nächsten Tag zusammen und sprechen Sie darüber, was jedem Einzelnen positiv und negativ aufgefallen ist, was man verändern und besser machen kann. Fragen Sie auch danach, wie man die Prozesse anders und besser strukturieren kann. Jeder Vorschlag ist erlaubt. Ein „geht nicht, weil“ gibt es nicht. Lassen Sie es zu, dass Ihre Mitarbeiterinnen selbstorganisiert ihre Meinung sagen und sich in die Entwicklung einbringen. Ent-wickelt, das heißt, alles ist schon immer vorhanden, man muss es nur zulassen und entwickeln.

Im Augenblick ist es bekanntlich nicht möglich, auf Partys zu gehen oder sich in Bars mit Bekannten und Freunden auszutauschen. Da wäre es doch eine Idee, im eigenen Garten, auf der Terrasse oder dem Balkon über einige weitere konzeptionelle Anpassungen in Ihrer Zahnarztpraxis nachzudenken. Welche Behandlungen können Sie besonders gut und welche davon machen Ihnen persönlich am meisten Spaß? Wie wäre es, wenn Sie diese zukünftig verstärkt anbieten und auf alles andere weitgehend verzichten? Denken Sie einmal darüber nach. Was würde sich für Sie, Ihren Arbeitsablauf, Ihre Mitarbeiterinnen, Ihre Patienten und Ihre Praxis verändern?

Wer sind eigentlich die Patienten, die zu Ihnen in die Praxis kommen?

Und weil Sie gerade dabei sind, noch eine Idee zur langfristigen Praxiskonzeptentwicklung (und einige der wichtigsten Fragen, die Sie sich stellen sollten): Haben Sie sich schon einmal Gedanken dazu gemacht, wer die Zielgruppe für Ihre Praxis ist? Wer sind die Patienten, die zu Ihnen in die Praxis kommen? Welche Wünsche und Vorstellungen haben Ihre Patienten? Warum kommen diese Patienten ausgerechnet in Ihre Praxis? Was fragen Ihre Patienten nach? Fragen sie überhaupt etwas nach oder lassen sich nur passiv beraten? Welche Altersstruktur haben Ihre Patienten? Wie passt diese zu den von Ihnen angebotenen Leistungen? Wo kaufen Ihre Patienten ein, was genau machen sie beruflich und wohin fahren sie in Urlaub? Welche Verbindungen gibt es zwischen den Patienten? Wer hat wem Ihre Praxis empfohlen?

Beginnen Sie jetzt damit, Behandlungen, die Ihnen selbst Spaß machen und von denen Sie denken, dass Sie diese besonders gut beherrschen, mit Ihrer Patienten- und Praxiszielgruppe zu kombinieren. Qualitativ hochwertig und mit ausreichend Zeit, um mehr über Ihre Patienten während der Behandlung zu erfahren, wird dies langfristig ein wichtiges Mittel sein, um mit weiteren Maßnahmen Ihre Zahnarztpraxis durch unruhige und unsichere Zeiten zu führen.

Viel Spaß dabei – und schreiben Sie mir gern, wie gut es funktioniert hat: zm@zm-online.de.

Sven Thiele

Zahnarzt und Autor

Er praktizierte mehrere Jahre in London und war Dozent am Londoner King‘s College. Regelmäßig schreibt er für www.foreigndentist.wordpress.com

Dr. Sven Thiele

Sven Thiele ist Zahnarzt, Autor und Dozent am Londoner King‘s College. Regelmäßig schreibt er über die Zahnheilkunde im Vereinigten Königreich, u.a. in dem Bloghttps://foreigndentist.wordpress.com(deutsch). 

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