Interview mit Dr. Martin Herlinghaus

„Die Systemrelevanz der Zahnmedizin ist nicht verhandelbar“

Dr. Martin Herlinghaus führt seit 35 Jahren eine Gemeinschaftspraxis mit 17 Mitarbeitern in Verden, Niedersachsen. Als die Corona-Pandemie sich ausbreitet, organisiert er den Betrieb komplett um. Mitarbeiter melden sich krank, es gibt nur noch Notfallbehandlungen, Team-Besprechungen finden im Garten statt. Der wirtschaftliche Schaden ist erheblich: Er und sein Partner arbeiten derzeit mehr, um die Einbrüche zu kompensieren. Je nachdem wie sich die Pandemie entwickelt, bedeutet dies auch eine längere Lebensarbeitszeit.

Wie sah Ihr Krisenmanagement während des Lockdowns aus?

Dr. Martin Herlinghaus:

Ich bin relativ früh auf Corona aufmerksam geworden, hatte mir aber zunächst keine Sorgen gemacht, war aber durch den Austausch mit anderen Ärzten sensibilisiert. Am Anfang wussten wir relativ wenig. Ich habe trotzdem versucht, immer offen zu kommunizieren, habe Studien gelesen und meinen Kenntnisstand weitergegeben. Für das Team gründeten wir eine WhatsApp-Gruppe und trafen uns ab März täglich draußen im Garten zur Besprechung. Zwei Meter Abstand waren mit allen drinnen nicht möglich.

Wir entschieden uns, auf Notfallbetrieb herunterzufahren. Dafür teilten wir uns in drei Gruppen auf, die an verschiedenen Tagen im Einsatz waren. Die Einteilung machte zwar für den Infektionsschutz Sinn, brachte aber einen enormen organisatorischen Aufwand mit sich: die Übergaben für Folgebehandlungen von Patienten an das nächste Team zu schreiben und zu dokumentieren, kostete Stunden. Normalerweise behandelt jeder von uns seinen Patienten von A bis Z durch. Auch die Maßstäbe des Kollegen mussten berücksichtigt werden. Jeder hat ja seine Spezifikation. Wir arbeiteten abwechselnd im Rhythmus von drei Tagen. Alles, was aufschiebbar war, haben wir nach hinten terminiert und nur noch Notfälle behandelt. So haben wir das auch an die Patienten kommuniziert. Alle waren einverstanden. Noch heute rufen wir jeden Risikopatienten vorher an und klären ab, wann und wie die Behandlung durchgeführt werden kann.

Wir kommunizieren umfangreich über unsere Website und über Facebook, wie wir was händeln. Die Patienten sind dankbar dafür, dass wir so offen sind. Sie wissen das zu schätzen und kommen nach der Lockerung auch wieder. Dabei kommt es immer wieder zu Änderungen der Abläufe, die sich am jeweils aktuellen Kenntnisstand des Infektionsschutzes orientieren. Dass unsere Patienten dies verstehen und akzeptieren, stimmt uns positiv.

Wir haben zu Beginn der Pandemie deutschlandweit mit ärztlichen Kollegen Rücksprache gehalten und gefragt: Wie macht ihr das? Alle standen ja vor derselben Herausforderung. Denen ging es genauso wie uns: Keine offiziellen Informationen und Unsicherheit im Umgang mit der neuen Situation. Viele wollten zunächst den Betrieb runterfahren, nicht alle haben es getan. Wir haben dann Anfang März den Praxisbetrieb bis auf Notfallbehandlungen runtergefahren, auf rund acht Prozent des Normalumsatzes. Wir versuchten, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln und alle zu schützen: die Patienten, die Mitarbeiter und uns selber. Dadurch ist im Nachhinein aber ein großer wirtschaftlicher Schaden entstanden.

Glücklicherweise haben wir unsere Praxis in der Vergangenheit auf solide Beine gestellt und können durch angesparte Rücklagen mit einem blauen Auge aus der Krise kommen, auch wenn dies zu einer Verlängerung unserer Lebensarbeitszeit führt. Es gibt aber auch Praxen, die relativ normal weitergearbeitet haben und deren Verluste dementsprechend vermutlich deutlich geringer ausfallen. Das belegen ja auch die veröffentlichten Zahlen der BZÄK.

Die ZFA hatten durch das Kurzarbeitergeld Einbußen. Als wir am 6. Mai wieder hochfahren konnten, haben wir Ärzte unseren Urlaub deutlich gekürzt und arbeiten jetzt mehr Wochenstunden, um den Mitarbeiterinnen die 1.500 Euro Corona-Pauschale auszubezahlen und ihren Ausfall etwas zu kompensieren.

Wurde Ihnen geholfen?

Wir haben schnell die 20.000 Euro Corona-Soforthilfe erhalten. Da kann ich überhaupt nicht meckern. Dem gegenüber stehen aber fast 130.000 Euro Verlust.

Wie war es um Schutzmittel bestellt?

Anfang März, als bereits klar war, dass da eine Ausnahmesituation auf uns zurollt, war von offizieller Seite aufgrund der Kurzfristigkeit keine konkrete Unterstützung absehbar. Wir haben uns dann selbst um die Beschaffung der Schutzausrüstung gekümmert.  Als große Praxis haben wir immer genug da, um den Bedarf eines Jahres zu decken. Jetzt ist der Verbrauch natürlich deutlich angestiegen und unser Bestand wird nicht mehr bis Jahresende reichen. Die aktuell auf dem Markt verfügbare Ware wird zu deutlich erhöhten Preisen angeboten. Geschätzt zum jetzigen Zeitpunkt sind es rund 15 bis 20 Prozent Mehrausgaben.

Wie hoch sind Ihre Mehrkosten insgesamt?

Die Material- und Personalkosten haben sich merklich erhöht und gleichzeitig können wir nicht mehr die Zahl an Patienten durch den Praxisbetrieb führen wie vorher. Die Zeiten zwischen den einzelnen Behandlungssitzungen sind größer. Die benötigte Zeit zum Desinfizieren der Behandlungszimmer und den Ab- und Aufbau hat sich verdoppelt.

Obwohl wir im Juni 2020 also wieder auf 100 Prozent gearbeitet haben, liegt der Umsatz aufgrund der geänderten Rahmenbedingungen rund 20 Prozent unter dem Juni 2019.

Was bleibt Ihnen besonders in Erinnerung aus dieser schwierigen Zeit?

Dass wir Zahnärzte von der Bundesregierung im ersten Notstandsgesetz nicht mal erwähnt wurden, hat mich getroffen. Die Systemrelevanz der Zahnmedizin ist nicht verhandelbar und unsere Profession nicht weniger wichtig als die Arbeit anderer Ärzte. Zwar haben wir unsere Arbeit zu Hochzeiten der Krise temporär auf die Behandlung von Notfällen begrenzt, aber selbstverständlich ist unsere Arbeit zum Wohle der Patienten nicht beliebig aufschiebbar. Die Mundgesundheit ist für das Wohlergehen und die Grundgesundheit unserer Patienten unverzichtbar.

Und es ist auch nicht so, dass die Zahnarztpraxen eine Extremsituation, wie wir sie in den vergangenen Monaten erlebt haben, per se finanziell leichter stemmen können als Humanmediziner. Das war vielleicht in den 1980er-Jahren der Fall und scheint in der Politik nach wie vor verankert zu sein.

Was ist Ihnen positiv aufgefallen in der Krisenzeit?

Die Patienten haben wirklich Verständnis und erkennen an, dass wir unser Möglichstes zum Schutz aller Beteiligten tun. So tragen wir unter anderem zusätzlich zum MNS ein Gesichtsvisier. Die Dankbarkeit der Patienten und der große Einsatz und Zusammenhalt unseres gesamten Praxisteams haben mich besonders beeindruckt und auch ein bisschen stolz gemacht.Es gibt viel Zuspruch von Bekannten, die sagen: „Ich möchte jetzt kein Zahnarzt sein“.

Wie schätzen Sie die Lage ein?

Lang bestehende, etablierte Praxen kommen über die Runden. Wir werden das wuppen! Aber nicht jeder Praxis fällt das leicht. Es kommt ganz auf die Konditionen und die Konstitution an und den wirtschaftlichen Druck.

Die Fragen stellte Laura Langer.

Dr. Martin Herlinghaus

Ist Zahnarzt aus Verden an der Aller, Niedersachsen.

Die Zahnarztpraxis mit 17 Mitarbeitern im niedersächsischen Verden an der Aller führt Dr. Martin Herlinghaus als zertifizierter Implantologe seit knapp 35 Jahren. Zusammen mit seinem Partner Axel Witte wird hier der Schwerpunkt auf Zahnerhalt und Prävention gesetzt. Die Praxis verfügt über sieben Behandlungszimmer auf einer Fläche von 330 Quadratmetern.

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