Editorial

Wo ist die Evidenz?

Die Suche nach wissenschaftlichen Antworten ist in der Corona-Pandemie auf ein bisher kaum gekanntes Höchstmaß gestiegen. Und noch nie standen Forscher und ihre Ergebnisse weltweit derart unter Beobachtung (und Beschuss) wie in den vergangenen Monaten.

Wissenschaft fand bisher, wenn nicht im Elfenbeinturm, dann doch meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Anders seit es die SARS-CoV-2-Pandemie gibt. Hieß es früher, es gebe in Deutschland 80 Millionen Fußball-Bundestrainer, so sind wir heute ein Volk von Virologen und Epidemiologen. Begriffe wie Letalität, Spezifität und falsch positiv gehen inzwischen selbst medizinischen Laien so leicht über die Lippen, als handele es sich dabei um eine Abseitsfalle oder ein 4–4–2-System. Durchaus verständlich, denn die Erkenntnisse der Wissenschaft und die daraus gezogenen Schlüsse und Maßnahmen seitens der Politik betreffen uns in der Corona-Krise schließlich alle.

Das aktuelle Maß der Dinge im medizinisch-wissenschaftlichen Kontext ist in Sachen Erkenntnisgewinn die evidenzbasierte Medizin. Entscheidungen sollen also auf Grundlage empirisch nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden. Zu den Gralshütern gehört dabei hierzulande das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V. – kurz EbM-Netzwerk. Die Verdienste des Netzwerks für eine bestmögliche Medizin kann man nicht hoch genug schätzen. Dass sich dieser renommierte Kreis nun auch mit der Corona-Pandemie befasst, erscheint nur folgerichtig. Am 8. September erfolgte daher eine Stellungnahme mit dem Titel „COVID-19: Wo ist die Evidenz?“.

Diese Stellungnahme lässt einen, der die sonstigen Publikationen des Netzwerks kennt, stirnrunzelnd bis kopfschüttelnd zurück. Mit diesem Papier, das ausschließlich vom Vorsitzenden des Netzwerks, Prof. Andreas Sönnichsen, unterschrieben wurde, wurde viel gewollt, aber nichts erreicht. Zitat aus der Zusammenfassung: „Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare Evidenz, weder zu COVID-19 selbst noch zur Effektivität der derzeit ergriffenen Maßnahmen, aber es ist nicht auszuschließen, dass die trotz weitgehend fehlender Evidenz ergriffenen Maßnahmen inzwischen größeren Schaden anrichten könnten als das Virus selbst.“ Diesen Satz muss man sich geistig auf der Zunge zergehen lassen. Es gibt also eine wenig belastbare Beweislage, trotzdem werden im Konjunktiv Schlüsse gezogen. In dem gerade einmal zehnseitigen Papier (davon drei Literatur) befassen sich die Autoren mit der Gefährlichkeit von COVID-19, den getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, Massentestungen, der öffentlichen Berichterstattung, der Impfstoffentwicklung und den Folgen des Lockdowns inklusive Auswirkungen der Arbeitslosigkeit. Das könnte man sportlich nennen – oder aber zu dem Schluss kommen, dass man sich völlig verhoben hat. Das Papier, das auf der Website des EbM-Netzwerks zu finden ist, sei daher zur Lektüre und als Beispiel, wie man es nicht machen sollte, empfohlen.

Als positives Gegenbeispiel für fundierte wissenschaftliche Arbeit mit Praxisbezug sei die S1-Leitlinie zum „Umgang mit zahnmedizinischen Patienten bei Belastung mit Aerosol-übertragbaren Erregern“ genannt – erstellt von der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde unter Mitarbeit der BZÄK, der KZBV, der DGMKG und der DG Paro. Die 36-seitige Leitlinie hat die klare Zielsetzung, Zahnärzten und zahnmedizinischem Fachpersonal notwendige Maßnahmen zum Selbst- und Fremdschutz vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 und Aerosol-übertragbaren Erregern zu vermitteln. Aber auch hier ist klar, das sei in aller Deutlichkeit gesagt, dass es sich um den aktuellen Stand in einem höchst volatilen Geschehen handelt. Darum ist die Leitlinie auch nur bis März 2021 gültig. Wissenschaft lebt davon, dass kontinuierlich neue Daten in den Erkenntnisprozess einfließen. Absolutes Wissen kann es nicht geben – nur das Streben danach.

Sascha Rudat

Chefredakteur

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