Die Behandlung der Hypoplasien von Schmelz und Dentin wird meist im Kontext der Kinderzahnheilkunde diskutiert. Wie aber verhalten sich Zähne mit entwicklungsbedingten Strukturanomalien im fortgeschrittenen Lebensalter? Dieser Patientenfall schildert Befund und Therapie eines betroffenen Molaren im ansonsten auch kariesaktiven Gebiss eines Erwachsenen. Dabei zeigten sich die hypoplastischen Areale in hohem Maß kariesresistent.
Ein 34-jähriger Patient stellte sich im August 2020 zur Wurzelkanalbehandlung an 25 und 36 und zur Versorgung kariöser Läsionen an mehreren Zähnen in der Praxis vor. Die Anamnese und der bisherige Therapieverlauf offenbarten eine hohe Kariesaktivität ab dem 25. Lebensjahr. An Molar 26 wurde klinisch und radiografisch eine profunde Karies mit deutlicher Progression mesial und distal diagnostiziert (Abbildungen 1 und 4). Gleichzeitig war der Zahn durch eine frühkindliche, metabolisch ausgelöste Hypoplasie von Schmelz und Dentin geprägt. Die Inzisivi und die unteren Molaren waren von der Anomalie nicht betroffen, stattdessen zeigten sich hypoplastische weiße Flecken an 31, 32 und 33 (Abbildung 1). Der Zahn 16 war im Alter von 21 Jahren alio loco extrahiert worden.
Nach Eröffnung der distalen Läsion an 26 wurde im vollständig kariesfreien hypoplastischen Dentin aus der präeruptiven Zahnentwicklung eine typische ausgedehnte hypermineralisierte Transparenzzone freigelegt. Die Dentinkaries wurde konventionell mit einer Unterfüllung als Pulpaschutz („Dentinersatz“) versorgt und mit Composite-Material („Schmelzersatz“) aufgebaut. Weil die Hypoplasie-Areale auch nach knapp zehn Jahren hoher Kariesaktivität nicht befallen waren, blieben diese Areale selbst an den Kavitätenrändern unversorgt (Abbildung 2).
Abb. 2: Differenzierung von Hypoplasie und Aplasie und gleichzeitige approximale Caries profunda an 26. a: Klinischer Befund mit Versiegelung der okklusalen kariesresistenten Hypoplasie mit Übergang zur Aplasie und Abschluss der Kariesbehandlungb: Entfernung des Versieglers mit kariesfreier Okklusalfläche und Eröffnung der distalen Approximalkaries: weiße Pfeile: Grenze der hypermineralisierten sklerotischen Dentin-Hyperplasie, rote Pfeile: Beginn dieser Transparenzschicht parallel zur Kronenkonfiguration im Nachgang zum Hypoplasie-Ereignis bei vollständiger Kariesfreiheitc: Kariestherapie mit Unterfüllung mesial und definitive Restauration mit Composite-Material: Übergang der kariesresistenten Hypoplasie palatinal zum Präparationsrand der Approximalkaries, Kontrollaufnahme in feuchter Mundhöhle mit Maskierung der palatinalen Dentin-Hyperplasie; Entstehung im zweiten bis dritten Lebensjahr. | Lang, Gängler
Der hier vorgestellte Patientenfall wurde in einem Podcast der Autoren diskutiert: https://anchor.fm/intradental
Trotz freiliegender hypoplastischer Dentinareale okklusal-palatinal erinnerte sich der Patient, auch als Kind niemals eine „Hypersensibilität“ des betroffenen Zahns verspürt zu haben.
Diskussion
Strukturanomalien der Zähne als seltene hereditäre Dysplasien (Amelogenesis et Dentinogenesis imperfecta, Dentin-Dysplasie, ICD-10-WHO-Version 2019/2021, K00.5) und viel häufigere Hypoplasien (meist symmetrische metabolische Hypoplasie, ICD-10-WHO-Version 2019/2021, K00.4) lassen sich seit Berten [1895], Black [1914], Schour und Massler [1940], Tucker und Sharpe [2004] sowie Gängler und Arnold [2007] sehr genau aus der Zahnentwicklung ableiten. Dabei werden die symmetrischen Hypoplasien durch eine metabolische Schädigung der Ameloblasten aus dem inneren Schmelzepithel im Glockenstadium ausgelöst [Ida-Yonemochi et al., 2020]. Wenn diese Funktionsstörung zum Ausfall kleiner – wie im vorliegenden Fall – oder ausgedehnter aplastischer Kronenareale führt, ist die vor der Schmelzentwicklung induzierte Dentinentwicklung besonders betroffen. Das demonstrierte Berten bereits 1895 sehr überzeugend, als er die gleichzeitig an den Wachstumslinien im Schmelz und im Dentin entstandene „Hypoplasie des Schmelzes (congenitale Schmelzdefecte; Erosionen)“, so der Titel, zeigte.
Abb. 3: Röntgenologische Darstellung der Kariesläsionen an den Zähnen 25 und 26 (rote Kreise) und der Dentin- und Schmelzhypoplasie (grüne Pfeile) mit erhöhter Radioluzenz an Zahn 26 vor (a) und nach (b) der Kariestherapie und anschießender Revision der Wurzelkanalfüllung an 25. | Lang, Gängler
Abb. 4: Orthopantomogramm nach Abschluss der konservierenden Therapie: Der kariesaktive Patient wies mit DMF-T 15 einen im Vergleich zum Durchschnitt bei jungen Erwachsenen (DMF-T 11,2 – DMS V) deutlich erhöhten Indexwert auf. | Lang, Gängler
Diese Dentin-Hypoplasie reagiert durch überlebende Odontoblasten mit einer heftigen Hypermineralisation als Dentinsklerose, die sich während der Eruption, in der eine kurzzeitige Hypersensibilität entstehen kann, weiter ausbreitet und parallel zur früheren Schmelz-Dentin-Grenze verläuft [Berten, 1895] (Abbildung 2b). Entsprechend dem Invaginationskonzept im Glockenstadium [Gängler, 1986] entstehen dann runde hypoplastische Schmelzwülste an den Rändern der Aplasie [Ida-Yonemochi et al., 2020], wie in diesem Fall bei dem Molaren. Diese bleiben ebenso kariesresistent wie das Dentin und können in jedem Lebensalter minimal-invasiv an Restaurationen erhalten bleiben (Abbildung 2c).
Bei ausgedehnten Schmelz-Aplasien können die Schmelzränder auch abbrechen – nicht weil der Schmelz hypoplastisch ist, sondern weil das hypoplastische Dentin den Schmelz nur ungenügend abstützen kann. Jedenfalls sind metabolisch entstandene Hypoplasie-Zähne mit anpassungsfähigen Restaurationen aus Composite-Materialien, Goldlegierungen und indirekten Hybrid-Composite-Materialien lebenslang erhaltungsfähig, weil die Karies einen Bogen um die Hypoplasie macht, aber vor dem normalen Schmelz und Dentin des Zahns nicht Halt machen muss.
Dr. Tomas Lang
ORMED, Institute for Oral Medicine at the
University of Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Str. 45, 58455 Witten
Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Gängler
ORMED, Institute for Oral Medicine at the
University of Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Str. 45, 58455 Witten
peter.gaengler@uni-wh.de
Fazit für die Praxis
- Hypoplastische Schmelzläsionen und die dabei betroffenen Dentinläsionen sind in der Regel – so die bestätigte Studienlage – (möglicherweise sogar immer?) kariesresistent.
- Durch die tubuläre Struktur hypoplastischen Dentins wird bei Bedarf eine optimale Speichelremineralisation erreicht.
- Die hypoplastischen Schmelzareale erweisen sich ebenfalls in der Regel widerstandsfähig bei der Mastikation und halten länger als manche zahnärztliche Restauration.
- Auch ausgedehnte Dentinläsionen sind in der Regel – so die bestätigte Studienlage – (möglicherweise sogar immer?) auf exogene Reize schmerzsymptomlos („Hypersensibilität“), weil parallel zu den Invaginationen im Glockenstadium der Zahnentwicklung ausgeprägte hypermineralisierte Zonen (Dentinsklerose) verlaufen, die jeden Reiz abblocken können. Es sei denn, dass Kältereize („Eisessen“) während der Eruption auf noch nicht genügend hypermineralisiertes Dentin treffen: Temporäre konventionelle Glasionomer-Zemente können schützen und Abwarten hilft.
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