Evidenzbasierte Präventions- und Therapiemöglichkeiten – Teil 3

Kariesmanagement bei Senioren

Sebastian Paris
,
Christian H. Splieth
,
Falk Schwendicke
Mit der in den vergangenen Jahrzehnten stetig verbesserten Zahngesundheit und dem zunehmenden Zahnerhalt bis ins hohe Alter rückt zunehmend die Frage nach dem Kariesmanagement bei Senioren in den Fokus. Bei der Abwägung von Versorgungsalternativen spielen stärker als bei jüngeren Altersgruppen patientenindividuelle Faktoren wie die Berücksichtigung oft bereits bestehender Allgemeinerkrankungen, die Möglichkeiten des Patienten zur Mundhygiene und altersbedingte biologische Gegebenheiten eine Rolle. Dieser Beitrag stellt die evidenzbasierten Präventions- und Therapiemöglichkeiten vor [Paris et al., 2020].

Die Gruppe der älteren Erwachsenen und Senioren gewinnt für die zahnärztliche Behandlung immer mehr an Bedeutung. Zum einen wächst wegen der gestiegenen Lebenserwartung und der geringen Geburtenraten in vielen Industrieländern sowohl die Gesamtanzahl als auch der relative Anteil älterer Erwachsener an der Bevölkerung. Zum anderen nimmt – anders als bei Kindern und Erwachsenen – der Versorgungsbedarf bei älteren Erwachsenen nicht ab, sondern tendenziell sogar zu [Schwendicke et al., 2018; Jordan et al., 2019; Schwendicke et al., 2018a]. Ein wesentlicher Grund hierfür ist der allgemeine Rückgang der Zahnlosigkeit.

Während vor einigen Jahrzehnten bei Senioren Zahnlosigkeit weit verbreitet war und viele zumindest einen Großteil ihrer Zähne verloren hatten, werden heute die eigenen Zähne aufgrund der Erfolge von Prävention, restaurativer Zahnheilkunde und Parodontologie bis ins hohe Alter hinein erhalten. Damit einhergehend bleibt allerdings auch das Risiko bestehen, dass diese Zähne an Karies oder Parodontitis erkranken. Getriggert werden diese Risiken durch altersbedingte Faktoren – reduzierte manuelle Geschicklichkeit bei der häuslichen Mundhygiene, Rückgang der Speichelfließrate, Freiliegen von Wurzeloberflächen und viele weitere.

Empfehlungen zum Kariesmanagement

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Arbeitsgruppe aus Experten der ORCA und der EFCD/DGZ |

DGZ

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Die Gruppe der älteren Erwachsenen ist sehr heterogen (Tabelle 1). Dazu zählen körperlich und geistig rundherum gesunde Erwachsene im Rentenalter („Best-Ager“) wie auch gebrechliche, pflegebedürftige und präfinale Patienten mit multiplen Erkrankungen. Nehmen bei Kindern mit zunehmenden Alter die kognitiven Fähigkeiten und die manuelle Geschicklichkeit im Laufe ihrer Entwicklung zu, nehmen diese bei älteren Erwachsenen mit zunehmendem Alter im Rahmen physiologischer Abbauvorgänge ab. Anders als bei Kindern geschieht dies jedoch individuell in sehr unterschiedlichem Ausmaß und abhängig von bestehenden Allgemeinerkrankungen.

Die zunehmenden Einschränkungen der individuellen Fähigkeiten bestimmen ganz maßgeblich die Durchführbarkeit und Wirksamkeit zahnmedizinischer präventiver und therapeutischer Maßnahmen bei Senioren. Zudem leiden ältere Erwachsene häufiger an Allgemeinerkrankungen und nehmen daher eine Vielzahl an Medikamenten ein. Sowohl die Allgemeinerkrankungen als auch die Nebenwirkungen der Medikamente haben oftmals großen Einfluss auf die orale Gesundheit sowie die Durchführbarkeit und Wirksamkeit zahnmedizinischer präventiver und therapeutischer Interventionen. Auch umgekehrt können orale Erkrankungen und Zustände die Allgemeingesundheit beeinflussen. So gibt es zunehmend Hinweise darauf, dass orale Erkrankungen und die Mundhygiene mit Allgemeinerkrankungen wie Diabetes und respiratorischen Erkrankungen assoziiert sind [Azarpazhooh und Leake, 2006].

Zahnverlust hat nicht nur negative Folgen auf die Ernährung des Patienten, sondern ist auch mit sozialen Einschränkungen [Thomson et al., 2002], einem geringeren Selbstwertgefühl [Hakeem et al., 2019] sowie mit einem erhöhten Risiko für Demenz assoziiert [Yoo et al., 2019]. Aufgrund dieser wechselseitigen Beziehungen zwischen allgemeiner und oraler Gesundheit ist bei Senioren mehr noch als bei anderen Altersgruppen der Zahnarzt in der Rolle als Mediziner gefragt, und eine enge Zusammenarbeit mit allgemeinmedizinischen Kollegen und Spezialisten sowie mit pflegenden Angehörigen und dem Personal ist notwendig.

Wurzelkaries

Wurzelkaries ist eine sehr häufige und zunehmende Kariesform bei Älteren [Schwendicke et al., 2018a]. Im zweiten Beitrag dieser Reihe (zm 20/2020) wurde bereits Bezug auf Karies an Restaurationen genommen, die auch bei älteren Erwachsenen verbreitet ist und sich nicht immer klar von Wurzelkaries abgrenzen lässt. Wurzelkaries entsteht an freiliegenden Wurzeloberflächen, wie sie bei älteren Erwachsenen aufgrund parodontaler Vorerkrankungen und physiologischer Alterungsprozesse wesentlich häufiger zu finden sind als in allen anderen Altersgruppen.

Die hohe Anfälligkeit der Wurzeloberflächen für Karies liegt in mehreren Ursachen begründet. Zum einen sind Wurzeloberflächen wesentlich schwieriger zu reinigen als die meisten Schmelzoberflächen und viele Senioren sind aufgrund der abnehmenden manuellen Geschicklichkeit und eines reduzierten Sehvermögens zunehmend weniger in der Lage, ihr Gebiss adäquat selbstständig zu reinigen. Zum anderen sind Dentin und Wurzelzement aufgrund ihrer Zusammensetzung wesentlich anfälliger für Demineralisationen als Zahnschmelz. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass freiliegende Wurzeloberflächen anders als der darüber liegende Zahnschmelz keine jahrelange „posteruptive Reifung“ durch Einlagerung von lokal zugeführten Fluoriden erfahren haben. Ebenso kann ein Abtragen von oberflächlichem Wurzeldentin während parodontaler Therapien dazu führen, dass oberflächliche Fluorideinlagerungen verloren gehen.

Abgesehen von den oben genannten Besonderheiten zeigen Wurzelkaries und koronale Karies aber auch Gemeinsamkeiten. Auch Wurzelkaries ist ein dynamischer Prozess, der durch eine Veränderung der pathogenen Faktoren zugunsten einer Remineralisation arretiert werden kann. Hierzu zählen Maßnahmen zur Beeinflussung des Biofilms wie Mundhygienemaßnahmen oder antimikrobielle Substanzen.

Empfehlungen

Die Wirksamkeit von non-invasiven zahnmedizinischen präventiven und therapeutischen Maßnahmen hängt wesentlich von deren Anwendung durch den Patienten ab. Da ältere Erwachsene sehr unterschiedlich dazu in der Lage sind, sollten zahnärztliche Maßnahmen auf die individuellen Möglichkeiten, den Allgemeinzustand, die Unterstützung durch pflegende Angehörige oder das Pflegepersonal abgestimmt werden. Ebenso sollte bei der Festlegung des Recall-Intervalls neben dem individuellen Kariesrisiko berücksichtigt werden, dass sich der Gesundheitszustand bei gebrechlichen Senioren mitunter sehr schnell ändern kann. Da bei gebrechlichen, pflegebedürftigen und/oder dementen Senioren umfangreiche und zeitaufwendige Rehabilitationen, die ein hohes Maß an Mitarbeit des Patienten erfordern, oft nicht möglich sind, sollten pragmatische Ansätze favorisiert und nötigenfalls Kompromisse eingegangen werden. Die Erhaltung von Kaufunktion und Sprache sollte hierbei im Vordergrund stehen (Tabelle 1).

Aktive Wurzelkariesläsionen sollten therapiert werden (Tabelle 2, Abbildung 2). Falls die Zugänglichkeit der Läsion und die Fähigkeiten des Patienten / der Pflegenden es zulassen, sollten non-invasive Maßnahmen gegenüber restaurativen Maßnahmen vorgezogen werden. Hierzu zählen die regelmäßige Reinigung, die Anwendung hochfluoridhaltiger Zahnpasta, Fluorid-Lacke oder Silberdiaminfluorid. Aktive Wurzelkariesläsionen, bei denen non-invasive Maßnahmen allein nicht erfolgreich sind oder scheinen, sollten restaurativ behandelt werden.

Hierfür kommen neben Komposit-Kunststoffen auch kunststoffverstärkte oder konventionelle Glasionomerzemente infrage. Bei eingeschränkten Behandlungsmöglichkeiten (zum Beispiel in Heimen) kann die Atraumatische Restaurationstechnik (ART) einen Kompromiss darstellen, auch wenn hierbei mit höheren Versagensraten zu rechnen ist.

Zusammenfassung

Die Altersklasse der älteren Erwachsenen ist sehr heterogen und mit steigendem Alter vermehrt durch Gebrechlichkeit, Multimorbidität und Multimedikation charakterisiert. Die Auswirkungen auf die orale Gesundheit und Therapiefähigkeit erfordern vom behandelnden Zahnarzt umfassendes medizinisches Wissen und eine gute Zusammenarbeit mit den betreuenden Ärzten und Pflegenden.

Das allgemein geringe Evidenzniveau, auf dem die Empfehlungen des Experten-Workshops der European Organisation for Caries Research (ORCA), der European Federation of Conservative Dentistry (EFCD) und der Deutschen Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ) beruhen, wie auch die zunehmende Relevanz der Senioren als Patientengruppe für den zahnärztlichen Alltag unterstreichen die Notwendigkeit für verstärkte Forschung in diesem Bereich.

Univ.-Prof. Dr. Sebastian Paris

Leiter der Abteilung für Zahnerhaltung

und Präventivzahnmedizin

Centrum 3 für Zahn-, Mundund

Kieferheilkunde,

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Aßmannshauser Str. 4–6, 14197 Berlin

Prof. Dr. Christian H. Splieth

Leiter der Abteilung für Präventive Zahnmedizin & Kinderzahnheilkunde

Universitätsmedizin Greifswald, Zentrum

für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Fleischmannstr. 42, 17475 Greifswald E-mail:Prof. Dr. Falk Schwendicke, MDPH

Leiter der Abteilung für Zahnärztliche Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung

Centrum 3 für Zahn-, Mund- und

Kieferheilkunde,

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Aßmannshauser Str. 4–6, 14197 Berlin

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Literaturliste

C.H. Splieth, P. Kanzow, A. Wiegand, J. Schmoeckel, A. Jablonski-Momeni, How to intervene in the caries process: proximal caries in adolescents and adults-a systematic review and meta-analysis, Clin Oral Investig  (2020).

H. Meyer-Lueckel, V. Machiulskiene, R.A. Giacaman, How to Intervene in the Root Caries Process? Systematic Review and Meta-Analyses, Caries Res  (2019) 1-10.

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R.S. Santamaria, G. Gül, S. Mourad, G.F. Gomez, A. Ferreira-Zandonna, How to intervene in the caries process: dentine caries in primary teeth, Caries Res  (2020 in press).

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