Interview mit Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach

„Ich habe die Hoffnung, dass es ein Zusammenrücken gibt“

Als positiver Kollateralschaden der Corona-Krise gilt inzwischen unisono, dass sie die verborgenen Strukturprobleme offengelegt hat. Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, benennt die deutschen Stärken und Schwächen und begründet, warum er für die Zukunft dennoch guter Hoffnung ist – und skeptisch zugleich.

Herr Prof. Gerlach, welche Lehren ziehen Sie aus der ersten Welle der Corona-Krise für unser deutsches Gesundheitswesen? Was haben wir gut gemacht, wo hat es gehakt?

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach: Persönlich bin ich froh, die Corona-Krise in Deutschland durchleben zu dürfen. Wir haben im Vergleich zu vielen anderen Ländern viele Dinge richtig gemacht, aber auch schlicht ein wenig Glück gehabt. Geholfen hat uns etwa die flächendeckend und dezentral organisierte ambulante Versorgung, der schnelle Aufbau sehr großer Kapazitäten zur PCR-Testung und eine hervorragend ausgebaute Intensivmedizin. Nachdem die ersten Bilder aus Wuhan und der überforderten Lombardei kamen, hatten wir zudem noch viele Wochen Zeit, um uns vorzubereiten. Das war Glück.

Es gab und gibt aber auch zahlreiche Probleme: So fehlte initial Schutzausrüstung, die vorhandenen Pandemiepläne erwiesen sich als völlig unzureichend, der Öffentliche Gesundheitsdienst war ungenügend vorbereitet, durchdachte Schutzkonzepte für besonders vulnerable Gruppen – etwa in Pflegeheimen – fehlten.

Was muss konkret passieren, damit der ÖGD seine Aufgaben besser wahrnehmen kann – in der Krise, aber auch darüber hinaus?

Der ÖGD wurde jahrzehntelang sträflich vernachlässigt. Er ist personell, materiell und finanziell ausgeblutet. Das hat sich jetzt in der Krise, in der dem ÖGD eine wichtige Rolle zukommt, gerächt. Dass erst jetzt die Zettelwirtschaft und das Übersenden von Infektionsmeldungen per Fax langsam durch eine elektronische Übermittlungssoftware (DEMIS) abgelöst wird und erst 20 Prozent der Gesundheitsämter mit einer Software zur Kontaktnachverfolgung und zum Pandemiemanagement (SORMAS) unterstützt werden, lässt tief blicken.

Der ÖGD muss aber nicht nur materiell und personell gestärkt werden. Dem ÖGD fehlt auch ein wissenschaftliches Fundament: Es gibt keine entsprechenden Professuren, keine wissenschaftliche Fachgesellschaft, kaum Forschung und bisher keine Integration in die studentische Ausbildung. Der ÖGD muss daher im Sinne einer evidenzbasierten Public Health auch wissenschaftlich weiterentwickelt sowie insbesondere mit der hausärztlichen Versorgung besser verzahnt werden.

Wie beurteilen Sie die Rolle der niedergelassenen Ärzte in der Pandemie – was kann bleiben, was muss besser werden?

Die ambulante und insbesondere die hausärztliche Versorgung hat sich während der Corona-Krise als erste Anlaufstelle für (potenziell infizierte) Patientinnen und Patienten bewährt. So konnte – anders als in Ländern beziehungsweise Regionen mit einer krankenhauszentrierten Versorgung wie in Frankreich oder in der Lombardei – weitgehend verhindert werden, dass auch bei uns Kliniken, die unter infektiologischen Gesichtspunkten gefährliche Orte sind, zum Ausgangspunkt von Superspreader-Ereignissen wurden.

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach

Prof. Dr. med. Ferdinand M. Gerlach, MPH, ist Direktor des Institut für Allgemeinmedizin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

Besonders wichtig sind daher auch eine abgestimmte Kooperation zwischen der ambulanten praxisärztlichen und der stationären Versorgung sowie die Vernetzung mit dem ÖGD, die zukünftig auch in den Pandemieplänen zentral berücksichtigt werden muss. Es gibt noch viel zu tun – vor allem beim Schutz und bei der Betreuung vulnerabler Zielgruppen in Pflegeheimen. Auch sollte das telemedizinische Monitoring von Patienten zu Hause mit digitaler Überwachung der Vitalparameter, etwa via Pulsoxymetrie per Finger-Clip, gezielt etabliert und erprobt werden.

Was sollte in der Krankenhausplanung künftig anders laufen?

In der Corona-Krise lassen sich – wie unter einem Brennglas – unsere Strukturprobleme erkennen. Die Hauptlast der Versorgung tragen die Maximalversorger. Nur dort gibt es die entsprechende Ausstattung und Kompetenz, um ein Lungenversagen zu behandeln. Rund 150.000 Betten standen in der ersten Welle leer. Krankenhäuser ohne Beatmungskompetenz oder Computertomografie, die zur Erkennung einer Milchglaslunge zwingend erforderlich ist, können gar nicht sinnvoll an der Versorgung von COVID-19-Patienten teilnehmen.

Die Pandemie bestätigt die Notwendigkeit einer Reform hin zu mehr Zentrenbildung, Kooperation und Spezialisierung. Die Krankenhausplanung und auch eine Vorhaltekapazitäten berücksichtigende Finanzierung dürfen zukünftig nicht mehr auf „Betten“ zielen, sondern auf die Entwicklung einer sektorenübergreifenden, bedarfs-, leistungs- und qualitätsorientierten Versorgungsstruktur. Dabei ist Qualität wichtiger als Nähe. Krankenhäuser der Grundversorgung, die in der Versorgung von COVID-19-Patienten nur eine untergeordnete Rolle spielen, haben dabei eine mittel- bis langfristige Perspektive als wohnortnahe, ambulant-stationär integrierte Versorgungszentren.

Und in der Pflege?

Auch der Stellenwert der Pflege und der Pflegenden wurde in Deutschland bislang leider sträflich vernachlässigt. Dies gilt für alle Bereiche, etwa die Akutpflege in Krankenhäusern, die Langzeitpflege in Alten- und Pflegeheimen sowie die ambulante Pflege. Applaus von den Balkonen oder eine einmalige Bonuszahlung sind erfreulich, reichen aber nicht aus. Die Pflege muss generell weiterentwickelt und nachhaltig gestärkt werden. Es fehlt an attraktiven Aus-, Weiter- und Fortbildungsangeboten, an einer angemessenen Bezahlung, an Qualifizierungs- und damit Aufstiegsperspektiven sowie letztlich an einer besseren öffentlichen beziehungsweise gesellschaftlichen Wertschätzung. Dazu gehören auch die Vermittlung und Ausübung erweiterter Kompetenzen von Pflegenden etwa beim Wundmanagement oder bei der Betreuung chronisch Kranker sowie flankierende vertrags-, vergütungs- und haftungsrechtliche Grundlagen.

Der Sachverständigenrat hat schon oft die Rückständigkeit des deutschen Gesundheitswesens bei der Digitalisierung kritisiert. Sind wir durch die Pandemie jetzt auf dem richtigen Weg?

Verschiedene internationale Rankings zur Digitalisierung im Gesundheitswesen zeigen uns in der Tat immer im Tabellenkeller. Das rächt sich jetzt in der Krise. Es ist ja bemerkenswert, dass bei uns erst die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), also eine Fachgesellschaft, die Initiative ergreifen musste, um ein Register der Intensivbetten und Beatmungsplätze zu etablieren. Diese sehr sinnvolle und absolut notwendige Maßnahme wurde erst unter dem Druck der Krise verpflichtend gemacht.

Erst das DIVI-Intensivregister hat uns gezeigt, dass wir in der ersten Welle zu keinem Zeitpunkt auch nur in der Nähe einer Auslastung waren. Heute wissen wir, dass drastische Maßnahmen, wie die Absage aller Routineeingriffe und das großflächige Freihalten von Betten, unnötig waren.

Ähnliches gilt für die ab 2021 vorgesehene elektronische Patientenakte mit Medikationsplan, Impfpass oder eine Datenbank mit Röntgenbildern, CTs und MRTs. Wir könnten Patienten schon jetzt besser versorgen und viel schneller und mehr über COVID-19 lernen. Wir sollten den Digitalisierungsschub jetzt bestmöglich nutzen, denn auch die Corona-Krise zeigt: Daten teilen, heißt besser heilen!

Ist die Pandemie ein Booster für Reformen? Welche konkreten langfristigen Perspektiven sehen Sie?

In einigen Bereichen, etwa der Digitalisierung, die einen erheblichen Schub bekommen hat, sind langfristige Auswirkungen durch die dauerhafte Etablierung digitaler Abläufe sehr wahrscheinlich. In anderen Bereichen, etwa der Überwindung der Sektorengrenzen, befürchte ich, dass wieder alle in ihre sektoralen Schützengräben steigen und von dort aus die Stärkung des jeweils eigenen Sektors fordern werden. Ich hoffe dennoch, dass die Krise dazu beiträgt, dass man besser erkennt, wie sehr man aufeinander angewiesen ist. Ich habe die Hoffnung, dass es ein Zusammenrücken gibt – aber angesichts der bisherigen Erfahrungen auch eine gewisse Skepsis, ob das gelingt.

Das Gespräch führte Gabriele Prchala.

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