MKG-Chirurgie

Gesichtstrauma nach Wildtierangriff

Angriffe auf Menschen durch heimische Wildtiere sind in Deutschland ausgesprochen selten, können aber selbst in Stadtgebieten vorkommen. Oft sind es durch den Menschen aufgezogene Jungtiere, die im Erwachsenenalter auffällig werden. Ein besonders eindrücklicher Fall ereignete sich in Hannover und beschäftigte die MKG-Chirurgie an der dortigen Medizinischen Hochschule.

Ein 78-jähriger Mann befand sich auf einem Spaziergang in einem noch innerhalb der Stadtgrenze gelegenen Naherholungsgebiet. Hierbei begegnete er einem am Wegrand stehenden, zutraulich wirkenden Rehbock. Dieser zeigte keinerlei Scheu und konnte zunächst ohne Zwischenfall passiert werden. Kurz darauf verspürte der Spaziergänger mehrere Stiche im Rücken und im Bereich des Gesäßes. Beim Umdrehen erkannte er das ihn mit dem Gehörn mehrfach von hinten angreifende Tier. Erst als der Mann ins Taumeln kam und aufs Gesicht stürzte, ließ der Rehbock von ihm ab. Zu Hilfe eilende Passanten alarmierten den Rettungsdienst. Anschließend folgte die Vorstellung in der Zentralen Notaufnahme der Medizinischen Hochschule Hannover und in der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.

Bei Aufnahme zeigte sich der Befund eines allseits orientierten 78-jährigen Patienten in gutem Allgemeinzustand und ohne für den Akutbefund relevante Vorerkrankungen. Klinisch fanden sich Hämatome periorbital beidseits, insbesondere im Bereich des medialen Lidwinkels und eine perforierende Riss-Quetsch-Wunde im Bereich des Lippenrotes der Unterlippe links. Darüber hinaus bestanden eine Behinderung der Nasenatmung und eine starke Schwellung sowie ein ausgeprägter Druckschmerz im Bereich des Nasenrückens. An der Totalprothese des Oberkiefers fand sich eine kleine Absprengung des ersetzten Zahns 11. Der Patient gab Schmerzen im Bereich des Rückens und des Gesäßes an. Die weitere körperliche Untersuchung zeigte keine Traumafolgen.

Bei klinischem Verdacht auf eine Mittelgesichtsfraktur wurde eine native Computertomografie durchgeführt. Hier zeigte sich kein Nachweis einer knöchernen Verletzung, jedoch eine partielle Verlegung der Nasennebenhöhlen sowie eine perinasale subkutane Weichteilschwellung. In der Lippe kamen einige kleine Hyperdensitäten, vereinbar mit eingesprengten Fremdkörpern durch den Sturz, zur Darstellung. Zusammenfassend wurde die Diagnose eines leichten Schädel-Hirn-Traumas (SHT), begleitet von periorbitalen Hämatomen beidseits und einer perforierenden Riss-Quetsch-Wunde der linken Unterlippe gestellt.

Nach der klinischen und der radiologischen Untersuchung erfolgte zunächst die Wundversorgung und dann die Auffrischung des Tetanusschutzes durch aktive Immunisierung (Tetanol®). Die Wunde im Bereich der Unterlippe wurde in Lokalanästhesie versorgt. Nach Reinigung und Entfernung der einliegenden Fremdkörper erfolgte der mehrschichtige Wundverschluss mit resorbierbaren Nähten (Vicryl® 3-0 und Vicryl® 4-0). Aufgebracht wurde ein Sterilpflasterverband. Postoperativ wurde der Patient aufgrund des SHT für 48 Stunden stationär überwacht, darüber hinaus erfolgten lokale Kälteanwendungen und abschwellende Maßnahmen.

Diskussion

Die Behandlung der erlittenen Verletzungen ist im vorliegenden Fall weitestgehend unabhängig vom geschilderten Wildtierangriff, da die operativ zu versorgenden Verletzungen erst durch das Sturzereignis entstanden sind. Vor der definitiven Versorgung der Riss-Quetsch-Wunde wurde zunächst eine Frakturdiagnostik durchgeführt [Hausamen et al., 2012]. Aufgrund der geringen Aussagekraft zweidimensionaler Bildgebungen empfiehlt sich zur Beurteilung des knöchernen Mittelgesichts und des Nasenskeletts eine dreidimensionale Bildgebung [Tanrikulu und Erol, 2001]. Nach sorgfältiger Inspektion erfolgte die Desinfektion der Haut und der Schleimhaut mit einem Antiseptikum noch vor der Anästhesie der zu versorgenden Bereiche [Machtens, 1985]. Auf ein Debridement und eine Wundausschneidung wurde verzichtet. Diese sind – wenn überhaupt – im Gesichtsbereich nur sehr zurückhaltend durchzuführen [Hausamen et al., 2012]. Die Entfernung des Nahtmaterials erfolgte im Verlauf abhängig von der Wundheilung und der Verletzungslokalisation.

Durch den Sturz war es zu einem SHT gekommen. Der vollkommen orientierte Patient wurde nach der Glasgow Coma Scale (GCS) mit einem Score von 15/15 bewertet [Teasdale und Jennett, 1974]. Es wurde daher die Diagnose eines leichten SHT (veraltet: SHT ersten Grades) gestellt. In den vergangenen Jahren wurde die Indikation für eine Bildgebung auch bei leichtem SHT immer breiter gestellt. Insbesondere das Alter des hier betrachteten Patienten wäre nach Annahme einiger Autoren bereits ausreichend für die Durchführung einer CT [Ono et al., 2007]. Bei Ausbleiben einer neurologischen Symptomatik wurde auf eine Bildgebung des Hirnschädels jedoch zunächst verzichtet und stattdessen eine engmaschige klinische Überwachung durchgeführt.

Die Indikationen für postexpositionelle Aktiv- und Passivimpfungen gegen Tetanus richten sich nach der Art und der Verschmutzung der Wunde sowie dem Impfstatus des Verletzten [RKI, 2018]. Wegen der nicht als „sauber und geringfügig“ [RKI, 2018] zu bezeichnenden Wunde war trotz vollständiger, jedoch mehr als fünf Jahre zurückliegender Impfung gegen Tetanus eine postexpositionelle Auffrischung indiziert.

Nachbemerkung

Angriffe durch Haustiere stellen eine gelegentlich vorkommende Verletzungsätiologie dar [Stier et al., 2020]. Wildtierangriffe erscheinen jedoch ausgesprochen selten. Vorkommnisse mit Rehwild sind in der wissenschaftlichen Literatur für Europa nach Kenntnis der Autoren bisher nicht dokumentiert. Berichte hierzu finden sich jedoch immer wieder in Tageszeitungen und der Jagdliteratur. Auffällig ist, dass überaus häufig ausgewilderte Handaufzuchten beteiligt sind. Die frühe Gewöhnung an den Menschen scheint zu Fehlprägungen bei den Tieren zu führen, die Angriffe motivieren können. Rehböcke verhalten sich im Sommer stark territorial – ein Angriff auf vermeintliche Artgenossen entspricht daher dem zu erwartenden Verhaltensmuster.

Das angreifende Wildtier war in der lokalen Jägerschaft bereits bekannt. Es handelte sich um einen im vorherigen Winter als Kitz geretteten und mit der Hand aufgezogenen Rehbock (Capreolus capreolus) namens „Eddie“. Nach der Aufzucht war er, da er sich nicht auswildern ließ, in einem nahe gelegenen Wildtierpark untergebracht worden und dort wenige Tage vor dem Vorfall auf ungeklärte Art und Weise ausgebrochen. Nach dem hier beschriebenen Angriff konnte er eingefangen und zurück in den Wildtierpark verbracht werden. 

Fazit für die Praxis

  • Wildtierangriffe stellen in Deutschland eine Rarität dar, kommen jedoch vor.

  • Abhängig vom Unfallmechanismus und der Allgemeinanamnese kann eine stationäre Überwachung und eine erweiterte Bildgebung notfallmäßig angezeigt sein.

  • Je nach der Verletzungsschwere, dem Verschmutzungsgrad der Wunde und dem Impfstatus des Patienten ist eine aktive und gegebenenfalls zusätzlich eine passive Immunisierung gegen Tetanus indiziert.

  • Vor einem Wundverschluss nach Sturz ist eine Suche nach etwaig eingesprengten Fremdkörpern durchzuführen. 

Literaturliste

[1] J.-E. Hausamen, E. Machtens, J. Reuther, H. Eufinger, A. Kübler, and H. Schliephake, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. 2012.

[2] R. Tanrikulu and B. Erol, “Comparison of computed tomography with conventional radiography for midfacial fractures,” Dentomaxillofacial Radiol., vol. 30, no. 3, pp. 141–146, 2001, doi: 10.1038/sj.dmfr.4600593.

[3] E. Machtens, Anästhesie für Zahnmediziner: 13 Tabellen. Thieme, 1985.

[4] G. Teasdale and B. Jennett, “Assessment of coma and impaired consciousness: a practical scale,” Lancet, vol. 304, no. 7872, pp. 81–84, 1974.

[5] K. Ono, K. Wada, T. Takahara, and T. Shirotani, “Indications for computed tomography in patients with mild head injury,” Neurol. Med. Chir. (Tokyo)., vol. 47, no. 7, pp. 291–297, 2007, doi: 10.2176/nmc.47.291.

[6] R. K.-I. (RKI), “EpidemiologischesBulletin No 34,” 2018.

[7] R. Stier et al., “Retrospective analysis of 15 years of horse-related maxillofacial fracture data at a major German trauma center,” Eur. J. Trauma Emerg. Surg., 2020, doi: 10.1007/s00068-020-01450-w.

[8] R. D. Hubbard and C. K. Nielsen, “White-tailed deer attacking humans during the fawning season : a unique human – wildlife conflict on a university campus,” Human-Wildlife Conflicts, vol. 3, no. 1, pp. 129–135, Jun. 2009, [Online]. Available: www.jstor.org/stable/24875694.

[9] WHO expert consultation on rabies: third report, vol. 1012. World Health Organization, 2018.

PD Dr. med. dent. Alexander-Nicolai Zeller

Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie / Fachzahnarzt für Oralchirurgie
Kieferchirurgie Königsallee

Königsallee 68,
40212 Düsseldorf
sowie
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg Str. 1, 30625 Hannover

PD Dr. med. Dr. med. dent. Philippe Korn

Leitender Oberarzt
Medizinische Hochschule Hannover, Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- 
und Gesichtschirurgie
Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover

Dr. Dr. Philipp Jehn

Medizinische Hochschule Hannover Abteilung für MKG-Chirurgie
Carl-Neubergstr. 1
30625 Hannover

Prof. Dr. Dr. Nils-Claudius Gellrich

Medizinische Hochschule Hannover Abteilung für MKG-Chirurgie
Carl-Neubergstr. 1
30625 Hannover

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