Zum 200. Geburtstag von Rudolf Virchow

Der Pionier der Pathologie

Kay Lutze
Rudolf Virchow war nicht nur ein bedeutender Mediziner und Pathologe, er ging auf Forschungsreisen, war eine der Galionsfiguren des liberalen Preußen und des jungen Deutschen Kaiserreichs und kämpfte für die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse der einfachen Bevölkerung. Am 13. Oktober 2021 wäre er 200 Jahre alt geworden.

Ein historisches Gemälde des Hofmalers Anton von Werner (1843–1915), das heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin hängt, verdeutlicht die Stellung Virchows in der kaiserlichen Gesellschaft sehr eindrücklich: Es zeigt den damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (1831–1888) – den späteren Kaiser Friedrich III. – beim Hofball 1878 im Weißen Saal des Berliner Schlosses im Gespräch mit dem Reichstagspräsidenten und Berliner Oberbürgermeister Max von Forckenbeck (1821–1892). Im roten Talar auch abgebildet: der Dekan der medizinischen Fakultät der Friedrich Wilhelms Universität, Rudolf Virchow. Die Gruppe um den liberalen Kronprinzen gehörte zu einer kleinen Minderheit aufgeschlossener und fortschrittlicher Größen des Kaiserreichs, die sich gegen eine große Mehrheit nationalistischer Konservativer stellte. In diesem Spannungsfeld stand Virchows politisches Engagement, das er als Berliner Stadtverordneter begann und später als Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus und Reichstag fortsetzte.

Wie sieht der biografische Hintergrund dieses außergewöhnlichen Mediziners und Politikers aus? Geboren wurde Rudolf Ludwig Carl Virchow als Sohn des Kaufmanns und Stadtkämmerers Carl Christian Siegfried Virchow und seiner Frau Johanna, geborene Hesse, im pommerischen Schivelbein. Nach seiner Schulzeit in Köslin, einer Stadt nahe der Ostseeküste in Pommern, ging er nach Berlin an die 1795 gegründete Pépinière, ein Institut zur Aus- und Weiterbildung von Militärärzten des Königreichs Preußen. Seit 1818 trug die Lehranstalt den Namen „Medizinisch-chirurgisches Friedrich-Wilhelms-Institut“. Seine Studienzeit von 1839 bis 1843 schloss er mit der Promotion „De rheumate praesertim comeae“ bei dem Mediziner und Naturforscher Johannes Müller (1801–1858) ab. Die erste Anstellung führte Virchow 1844 zu dem Anatom und Pathologen Robert Froriep (1804–1861), der seit 1833 Prosektor der Charité war. Virchow war von 1846 bis 1849 kommissarischer Leiter der Prosektur und des „Pathologischen-anatomischen Cabinets“ der Charité. Parallel dazu beendete er seine Habilitation „De ossificatione pathologica“ und lehrte als Dozent für Pathologie an der Charité. 

1849 bis 1856 war er Ordinarius für pathologische Anatomie an der Universität Würzburg, wo er die Basis seiner Zellularpathologie erarbeitete. Der Weggang von Berlin stand im Zusammenhang mit der politischen Situation in Preußen: Die 1848er-Revolution war endgültig gescheitert und Virchow geriet mit seinem Engagement für demokratische Reformen in Konfrontation zu den Regierenden, die einen Weg der Restauration einschlugen. Privat bescherte ihm die Zeit in Franken ein glückliches Ereignis: 1850 heiratete Virchow Rose Mayer (1832–1913), zusammen bekamen sie sechs Kinder. 

1856 zog Virchow zurück nach Berlin und wurde ordentlicher Professor des neu eingerichteten Lehrstuhls für Pathologische Anatomie und Allgemeine Pathologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität, heute Humboldt-Universität. Mehrfach ist er Dekan der Medizinischen Fakultät an der Charité und von 1892 bis 1893 Rektor der Berliner Universität. Von herausragender Bedeutung war seine Vorlesung „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“.

„Was ich mit gutem Gewissen sagen kann“

Mit der Zellularpathologie lassen sich alle Krankheiten des menschlichen Körpers auf krankhaft veränderte Körperzellen zurückführen. Damit zog er einen endgültigen Schlussstrich unter die Jahrhunderte alte Humoralpathologie, die Vier-Säfte-Lehre. In seiner Einleitung zur Vorlesung schrieb Virchow 1858: „Hier kann ich wohl mit gutem Gewissen sagen, dass ich eben so wenig die Tendenz habe, den Galen oder den Paracelsus zu rehabilitiren, als ich mich davor scheue, das, was in ihren Anschauungen und Erfahrungen wahr ist, offen anzuerkennen. In der That finde ich nicht bloss, dass im Alterthum und im Mittelalter die Sinne der Aerzte nicht überall durch überlieferte Vorurtheile gefesselt wurden, sondern noch mehr, dass der gesunde Menschenverstand im Volke an gewissen Wahrheiten festgehalten hat, trotzdem dass die gelehrte Kritik sie für überwunden erklärt. Was sollte mich abhalten, zu gestehen, dass die gelehrte Kritik nicht immer wahr, das System nicht immer Natur gewesen ist, dass die falsche Deutung nicht die Richtigkeit der Beobachtung beeinträchtigt? Warum sollte ich nicht gute Ausdrücke erhalten oder wiederherstellen, trotzdem dass man falsche Vorstellungen daran geknüpft hat?“ 

Besonders viel Beachtung fanden seine 30 Vorlesungen über „Die krankhaften Geschwülste“, die er an der Berliner Universität im Wintersemester 1862/63 hielt. Über die Osteome der Kieferknochen sagte er: „Die Zahn – Geschwülste sind unter sich wiederum verschieden. Zunächst können sie an einem regelmässig entwickelten und gelagerten oder an einem unregelmässig entwickelten und gelagerten Zahn vorkommen. Insbesondere ist es nicht selten, dass der betroffene Zahn nicht ordnungsmässig hervorgetreten, dass er irgendwo in der Tiefe des Knochens liegen geblieben und dass die von ihm ausgehende Knochengeschwulst daher im Knochen mehr oder weniger eingeschlossen ist. Solche Osteome von retinirten Zähnen haben begreiflicherweise mit Enostosen eine grosse Aehnlichkeit“ [Virchow, R.: Vorlesungen über Pathologie!, 3. Band: Onkologie, 2. Teil, Berlin 1864/65, S. 53].

Von Bismarck zum Duell herausgefordert

Als beim preußischen Kronprinzen 1887 der Verdacht auf Kehlkopfkrebs bestand, wurde Virchow zurate gezogen, um die Gewebeprobe zu untersuchen. Kronprinzessin Victoria hatte zuvor den britischen Arzt Morell Mackenzie (1837–1892) zur Beurteilung hinzugezogen, der keine bösartige Krebserkrankung vermutete. Als Virchow, die Koryphäe auf dem Feld der Zellpathologie, – fälschlicherweise wie sich später herausstellte – keine Anzeichen einer Bösartigkeit entdeckte, fühlte sich der Brite bestätigt und nahm zunächst keinen chirurgischen Eingriff vor. Ob bei einer anderen Entscheidung der Kronprinz länger hätte leben können, muss angesichts der damaligen therapeutischen Möglichkeiten bezweifelt werden. Durch das beherzte Eingreifen des jungen Chirurgen Friedrich Gustav Bramann (1864–1913), Assistent des berühmten Chirurgen Ernst von Bergmann (1836–1907), konnte Friedrich III. durch einen Luftröhrenschnitt am 9. Februar 1888 zunächst vor dem Erstickungstod bewahrt werden und seinem Vater, Kaiser Wilhelm I., für 99 Tage auf den deutschen Thron nachfolgen.

Dass Otto von Bismarck, damals noch preußischer Ministerpräsident, Virchow 1865 nach einer Budgetdebatte im Preußischen Landtag zum Duell herausforderte, zeigt, auf welcher Seite dieser als Politiker stand. Virchow soll ihm geantwortet haben, mit Waffen könne man keine politischen Konflikte lösen.

Der junge Virchow wurde auf der Seite der Demokraten und Reformer in der 1848er-Revolution aktiv und war von 1859 bis 1902 Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung, wo er sich für der Bau von Krankenhäusern einsetzte. Mit dem Historiker Theodor Mommsen zählt er zu den Gründern der Deutschen Fortschrittspartei. Seit 1862 saß Virchow auch im Preußischen Abgeordnetenhaus. Im Reichstag vertrat er von 1880 bis 1893 die Fortschrittspartei. 

Virchow stellte sich im Berliner Antisemitismusstreit auf die Seite der liberalen Kräfte um Mommsen. Der Streit wurde losgetreten von dem erzkonservativen und antisemitischen Historiker und Reichstagsabgeordneten Heinrich von Treitschke. Zur Gruppe der Antisemiten gehörte auch der Hofprediger Adolf Stoecker. Gegen die Ausgrenzung von Juden, besonders von hohen Staatsämtern, und die Verhinderung einer zu hohen Einwanderung jüdischer Menschen, wandte sich eine Erklärung von 1880, die auch Virchow unterschrieb. Diese „Offizielle Erklärung gegen Antisemitismus“ war ein Plädoyer gegen Rassismus und Fanatismus und für die Gleichheit aller Deutschen, ob Juden oder Christen. Die Ausgrenzung der Juden hielt Virchow für Propaganda.

Mit Schliemann reiste er nach Troja und Ägypten

Anfang der 1880er-Jahre unterzeichnete Virchow mehrfach Aufrufe, um Mittel zu sammeln für durch Pogrome Not leidende russische Juden. Zu den Gegnern des Antisemitismus gehörten übrigens auch Friedrich III. und seine Frau Kaiserin Victoria (1840–1901), Tochter von Queen Victoria. Der damalige Kronprinz schämte sich dafür, dass so etwas im Reich und in Preußen möglich war. Sein Sohn Wilhelm II. und sein Enkel Friedrich Wilhelm verhielten sich in späterer Zeit dagegen ganz anders.

Nicht verschwiegen werden soll, dass Virchow mit seiner Kollektion von menschlichen Schädeln und Knochen (als Kind seiner Zeit) aus heutiger Sicht kritischer zu beurteilen ist, vor allem weil diese zu ethnologisch-anthropologischen Zwecken gesammelt wurden. Aus aller Welt bekam Virchow menschliche Skelette und Schädel zugeschickt. Es wurden Messmethoden erdacht, um die einzelnen Merkmale klassifizieren zu können, in der damals verbreiteten Überzeugung so die Menschheit in „entwickelte“ und „weniger entwickelte“ Rassen aufzuteilen. Bei Völkerschauen wurden indigene Menschen, teilweise in Zoos, zur Schau gestellt und untersucht. Dies hat auch Virchow getan. 

Die private Präparaten-Sammlung von Virchow wurde 1899 zum Grundstock der über 20.000 Exponate des Pathologischen Museums der Charité, das seit 1998 Berliner Medizinhistorisches Museum heißt. Bereits 1869 wurde Virchow Vorstandsvorsitzender der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Von 1886 bis 1888 war er an der Gründung des Ethnologischen Museums und des Völkerkundemuseums beteiligt. Mit Heinrich Schliemann war Virchow 1879 in Troja und 1888 in Ägypten. Virchows politische Tätigkeit ist untrennbar mit seinem sozialen Engagement für breite Bevölkerungsschichten verbunden. Aus der 1848er-Revolution stammt folgendes Zitat: „Die Ärzte sind die natürlichen Anwälte der Armen, und die soziale Frage fällt zu einem erheblichen Teil in ihre Jurisdiktion.“ Dies schrieb Virchow in der eigenen Zeitschrift „Die Medicinische Reform“, die er für kurze Zeit mit dem Kollegen Rudolph Leubuscher (1821–1861) herausgab. Ebenfalls in der Revolutionszeit hatte er für die preußische Regierung die Typhusepidemie in Oberschlesien erforscht und auf die unabdingbare Notwendigkeit von Demokratie zur Verbesserung der medizinischen und allgemeinen Lebensverhältnisse hingewiesen.

Auch während seiner Würzburger Zeit kümmerte sich Virchow um die notleidende Bevölkerung und deckte Missstände auf. In seinem Bericht über die Not im Spessart befasste er sich mit den sozialen Ursachen der gesundheitlichen Probleme der einfachen Menschen. Darin schreibt er: „Bildung, Wohlstand und Freiheit sind die einzigen Garantien für die dauerhafte Gesundheit eines Volkes.“ 

Ein Kämper für Hygiene und Demokratie 

Bahnbrechend war sein Kampf für eine Verbesserung der Hygienesituation in Berlin. Vor der Fertigstellung der Kanalisation war die hygienische Situation in der preußisch-deutschen Hauptstadt katastrophal. Schmutzwasser und Abfälle gelangten aus den Häusern, Höfen und Fabriken in zum Teil offene Rinnsteine, die dann in die Spree oder in Kanäle mündeten. Zusammen mit dem Berliner Baurat James Hobrecht (1825–1902) setzt Virchow die Pläne für eine zentrale Wasserversorgung und -entsorgung als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses durch. Im Jahr 1871 legte Hobrecht den Plan für eine moderne Kanalisation vor, mit dessen Umsetzung 1873 begonnen wurde. 

Von 1873 bis zu seinem Tod am 5. September 1902 war Virchow Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1899 wurde ihm die Helmholtz-Medaille verliehen, 1901 wurde er Mitglied der Friedensklasse des Ordens „Pour le mérite“ für Wissenschaft und Künste und erhielt eine Marmorbüste des Bildhauers Hans Arnold im Pathologischen Museum. Viele Straßen tragen heute seinen Namen und das berühmte Krankenhaus im Berliner Wedding ist nach ihm benannt. Begraben liegt Virchow auf dem alten St. Matthäus-Kirchhof in Schöneberg.

Kay Lutze

Historiker, M.A.

Kay Lutze

Historiker, M.A.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.