Dentale Start-ups in den USA

Ein Zahnputzbecher für 55 Dollar

Eine lebensnahe Versorgung in coolen Wohlfühlpraxen, die Künstliche Intelligenz einsetzen und hippe Mundpflegeprodukte vertreiben – in den USA buhlen Start-ups aus der Dentalbranche mit (Pseudo)Innovationen um Patienten. Die Vision ist, das Image und die Versorgungsleistung der Branche in den USA nachhaltig zu verbessern.

Hip gestaltete Instagram-taugliche Zahnarztpraxen mit Wohlfühlfaktor sind das Markenzeichen des New Yorker Start-ups Tend. Seit dem Markteintritt im Oktober 2019 arbeitet das Unternehmen nach eigener Aussage daran, einen neuen Ausstattungsstandard für Zahnarztpraxen zu setzen und ein „patientenzentriertes Erlebnis in einer beruhigenden und sicheren Umgebung“ zu bieten. Was nach Weltverbesserung und Innovation klingt, ist in Wirklichkeit eine knallharte Marketing-Strategie. Und die folgt einer Vermutung, die US-Psychologen wie Lisa Heaton vom Portal www.dentalfearcentral.org stützen: Nämlich die, dass bis zu 75 Prozent aller Amerikaner in irgendeiner Weise Unbehagen oder Angst verspüren, wenn sie an den nächsten Zahnarztbesuch denken – obwohl die Prävalenz von diagnostizierter Zahnarztangst bei Erwachsenen in den USA bei etwa 10 Prozent liegt.

Holzgetäfelte Wände, sanfte Beleuchtung, braune Lederbänke und Marmortische: die Tend-Praxen in den US-Metropolen New York City (11), Washington D. C. (6), Boston (2) und Atlanta (2) sind designorientiert eingerichtet und bieten neben modernster Behandlungstechnologie eine Vielzahl von hübschen Annehmlichkeiten: Die Patienten können während der Behandlung ihren favorisierten Streamingdienst auf einem Deckenfernseher genießen, Geräusch-unterdrückende Kopfhörer reduzieren dabei akustische, Designer-Sonnenbrillen optische Störfaktoren. 

Binge watching im Behandlungsstuhl

Aus Patientensicht habe sich der Zahnarztbesuch „seit Jahrzehnten nicht geändert“, sagte Tend-Mitgründer Andy Grover dem Boston Globe, als er nach seiner Motivation gefragt wurde. „Im Jahr 2021 zum Zahnarzt zu gehen, fühlt sich größtenteils so an, als würde man 1981 oder vielleicht sogar 1961 zum Zahnarzt gehen.“ Das will Tend ändern und die Praxis zu einem Ort machen, „auf den sich die Patienten freuen“. Dazu soll ein Mix aus Hightech (unter anderem besonders geräuscharme Winkelstücke) und Serviceversprechen („Durchschnittliche Wartezeit 3 Minuten“) beitragen.

Wagniskapitalgeber konnten Grover und sein Mitbegründer und Tend-Chef Doug Hudson auf jeden Fall überzeugen: Medienberichten zufolge hat Tend in drei Finanzierungsrunden rund 198 Millionen US-Dollar für die Umsetzung seiner Ideen eingeworben. Nach letzten Mitteilungen arbeiten 256 Mitarbeiter für das Start-up, dass aktuell „die Top-20-Standorte in den USA“ für die weitere Expansion sucht.

Die bestehende Filialkette ist offiziellen Angaben zufolge trotz Pandemie gut ausgelastet: Mehr als 20.000 Kunden zahlten bereits für „Luxus-Erstuntersuchungen“ (350 Dollar), Zahnaufhellungen (495 Dollar), Alignerbehandlungen oder hochpreisige Zahnpflegeprodukte. Denn Tend hat auch einen Prophylaxeshop mit eigener Produktlinie – mit New Yorker Preisen – im Portfolio: Passend zur Tend-Schallzahnbürste (100 Dollar) gibt es Zahnpasta (12 Dollar), Mundwasser (28 Dollar) – und einen handgemachten Zahnputzbecher („Ein Stück Tend für Zuhause“) für 55 Dollar.

Was sind „Luxus-Erstuntersuchungen“?

Weniger edel, dafür aber auf einen hohen Bedienkomfort und Nachhaltigkeit bedacht, sind die Zahnpflegeprodukte des US-Start-ups quip. Seit der Einführung im Jahr 2015 hat das Unternehmen 162 Millionen US-Dollar von Kapitalgebern bekommen und in einer Mundpflegeproduktlinie mit massentauglichen Preisen und Designs, Nachfüllkonzepten und Papierverpackungen umgesetzt – und noch weitere Dentaldienstleistungen hinzugefügt. Der Name quip steht in den USA darum auch für ein Terminbuchungs- und Dentalversicherungssystem (quipcare), eine Zahnputz-App mit Rabattsystem (Oral Care Companion) und eine eigene Aligner-Marke samt bekanntem Fernbehandlungsansatz.

Das Gegenteil von Fernbehandlung haben Unternehmen wie Henry the Dentist oder Onsite Dental im Sinn. Konkret bieten die Start-ups aufsuchende Zahnmedizin für die Beschäftigten von Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern oder für Studierende und Belegschaften von Universitäten an. Die Idee ist einfach: Die Start-ups kommen entweder mit fahrbaren Zahnarztpraxen in Form voll ausgestatteter Wohnmobile, mit Auflieger-Anhänger oder Container und stellen diese auf dem Unternehmensparkplatz oder dem Campus ab. Wer vorab online gebucht hat, kann bequem und zeitsparend zu Fuß zur mobilen Zahnarztpraxis gehen.

Henry the Dentist startete 2017 mit dem Geschäftsmodell, hatte zwei Jahre später schon mehr als 70 große Kunden wie etwa den Mischkonzern Unilever und war in vier US-Bundesstaaten aktiv. Im Sommer 2021 wurde das Start-up dann vom Mitbewerber Onsite Dental geschluckt. Das Unternehmen war nach eigenen Angaben schon vor dem Zusammenschluss der größte US-Anbieter für Arbeitgeber-basierte Zahnpflege. Zusammen haben beide Unternehmen mindestens 70 Millionen US-Dollar von Investoren eingeworben und betreuen nach eigenen Angaben heute mehr als 850.000 Patienten von 150 Kunden in 14 US-Bundesstaaten.

Die Praxis kommt auch in die Firma – und bleibt da

Dabei konzentriert sich Onsite Dental nicht nur auf mobile Lösungen. Das Start-up bietet sehr großen Unternehmen auch an, in deren Räumen eine feste Praxis einzurichten, wo die Beschäftigten in zur Firmenphilosophie und dem Markenprofil passenden Räumen einen Zahnarzttermin wahrnehmen können.

In den USA scheint es hierfür einen Markt zu geben. Nach Angaben von Onsite Dental verdoppelten beide Unternehmen vor Pandemiebeginn ihren Jahresumsatz und das kombinierte Unternehmen kalkuliert in Zukunft mit derselben Wachstumsrate. Denn auch die mobilen Praxen setzen neben modernsten Behandlungsstandards dem Zeitgeist entsprechend auf viel Komfort. Patienten bekommen auch hier angeboten, mit Noise-Cancelling-Kopfhörern Netflix oder HBO zu schauen, um sich vom Check-up-Prozess oder der Zahnreinigung abzulenken. Und da die Unternehmen nach eigenen Angaben mit allen gängigen Gesundheitsversicherungsträgern großer Unternehmen zusammenarbeiten, sind die bequemen Behandlungen auf dem Firmengelände oder Campus für die Patienten kostenlos.

Luxus für Patienten – KI für Behandler

Neben mehr Service (Onsite Dental), Nachhaltigkeit und Style bei Hygieneprodukten (quip) und Luxus im Praxisablauf (tend) setzen viele US-Start-ups auf technische Assistenzsysteme für den Behandler, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten. Der Branchendienst medicalstartups.org listete Ende Dezember 2021 die Top-16-Dental-Start-ups weltweit – gemessen am Erfolg bei ihren Investitionsrunden. Unter den Top 16 waren neun US-Unternehmen, drei davon (Pearl, VideaHealth, Overjet) arbeiten an einer Softwareunterstützung bei der Auswertung von dentalen Röntgenbildern, eines (Neocis) an einem Roboterarm, der noch genauere Implantationen erlauben soll (zm-online berichtete). Die weiteren gelisteten Unternehmen bieten passgenaue Brackets aus dem 3-D-Drucker, spezielle Praxissoftware für große Praxisketten oder versuchen, nach dem mittlerweile auch in Deutschland bekannten Muster Alignerbehandlungen über das Internet zu verkaufen.

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