MKG-Chirurgie

Ossäres Choristom am aufsteigenden Unterkieferast

Seltene Entitäten können vor allem dann lange unerkannt bleiben, wenn sie mit den aktuellen Beschwerden des Patienten nicht in Verbindung zu bringen sind und nur nebenbefundlich auffallen könnten. Der folgende Fall zeigt, wie wichtig eine sorgfältige Befundung der Bildgebung bei der Identifizierung seltener Anomalien ist.

Ein 64-jähriger Patient wurde im Zuge einer Überweisung zur Beurteilung der Weisheitszähne 18 und 28 in unserer oralchirurgischen Überweiserpraxis vorstellig. Allgemeinanamnestisch litt er an einer mit Bisphosphonaten medikamentös therapierten Osteoporose. Speziell anamnestisch wies er eine chronische Sinusitis maxillaris und eine chronische Sinusitis frontalis auf. Diese wurden 2010 medikamentös und operativ alio loco frustran versorgt.

Die Therapie der chronischen Sinusitiden blieb erfolglos, so dass der Patient an täglicher, beidseitiger Exkretion grünlichen Sekrets aus den Nasenlöchern sowie chronischen Kopfschmerzen litt. Dental waren alle Oberkieferzähne klinisch unauffällig und vital. Zum Ausschluss einer klinisch okkulten dentogenen Ursache der chronischen Sinusitis maxillaris und zur Beurteilung der Lage der retinierten Zähne 18 und 28 wurde eine Panoramaschichtaufnahme (PSA) erstellt.

Nebenbefundlich zeigte sich in der PSA (Abbildung 1) im Bereich des rechten Kieferastes eine circa 10 mm x 6 mm große, klar begrenzte, knochendichte Opazität. Diese Opazität erschien als am Rand opak verdichtete und nicht infiltrierende Struktur, die mit keiner erkennbaren dentogenen oder nicht-dentogenen Struktur direkt korrelierte. Auf einer zum Vergleich vom Hauszahnarzt angeforderten PSA, die etwa neun Jahre zuvor erstellt wurde, ist ein vergleichbarer Befund zu sehen (Abbildung 2).

Zur erweiterten radiografischen Diagnostik wurde dann eine dreidimensionale Bildgebung im Sinne einer digitalen Volumentomografie (DVT) des Mittelgesichts angefertigt. Wie in Abbildung 3 zu sehen ist, präsentierte sich im DVT an der medialen Seite im kranialen Drittel des aufsteigenden Astes des Ramus mandibulae am Übergang zum Processus condylaris eine in alle Achsen ausgedehnte, etwa 10 mm x 6 mm große, knochendichte Opazität, deren Form am ehesten mit einer Kidneybohne zu vergleichen war. Diese war, wie in der präoperativen PSA, klar begrenzt, am Rand opak verdichtet und im Zentrum diffus blass opak. Eingelagert war sie in eine lakunenförmige Aussparung des Ramus mandibulae kranio-rostral des Foramen mandibulae ohne erkennbare umliegende Osteolyse oder Infiltration. Ideal erkennbar war die beschriebene Struktur in der markierten Ebene der koronalen Schicht.

Es folgte die Exzision des Befunds in toto unter Lokalanästhesie und perioperativer Sedierung mit 10 mg i.v. Midazolam (Dormicum®). Das Exzisionsmaterial wurde an die Histopathologie geschickt. Die Gewebeprobe wurde beschrieben als 9:5 mm großes, knochenhartes Exzidat, das unter dem Mikroskop Knochengewebe ohne malignomverdächtige Atypien zeigte.

Zu erkennen waren im rahmenartig flankierenden Abschnitt des reifen Knochengewebes enthaltene Fettzellnester. Die äußere Begrenzung erschien undulierend, aber scharfkantig. Bestätigt wurde zudem die vollständige Exstirpation der Läsion. Die Histologie ergab eine Gewebsaussprengung atypiefreien Knochengewebes, das am ehesten mit einem ossären Choristom zu vereinbaren ist. Da Rezidive bei Choristomen nicht zu erwarten sind, erfolgte nach Nahtentfernung und Erstellung einer post-operativen PSA (Abbildung 4) keine Nachkontrolle mehr bei uns.

Diskussion

Ossäre Choristome sind sehr seltene, benigne knöcherne Neoplasien. Dabei handelt es sich in der Regel um Aussprengungen von knochentypischen Zellen in die peripheren Gewebe, entkoppelt von ihrem eigentlichen knöchernen Ursprungsgewebe. Im engsten Sinne ist ein Choristom die Folge einer Heterotopie während der Entstehung eines natürlichen Gewebes [Nash et al., 1989].

Ossäre Choristome im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich sind sehr seltene, kaum in der Literatur beschriebene Befunde. Bekannt sind Manifestationen ossärer Choristome im posterioren Bereich der Zunge anterior der Papillae circumvallae und Manifestationen in der buccalen Mucosa sowie sublingual gelegene Choristome [Mintz et al., 1995; Lin et al., 1998]. Die häufigste Form intraoraler Manifestationen ist die linguale.

Eine Publikation aus dem Jahr 1998 hat einige dieser sehr seltenen Fälle in einem Review zusammengefasst [Supiyaphun et al., 1998]. Es zeigte sich, dass linguale ossäre Choristome vor allem zwischen dem 30. und dem 40. Lebensjahr entstehen und Frauen mit etwa 81 Prozent der Fälle bevorzugt betroffen sind. Der häufigste Manifestationsbereich liegt im posterioren Drittel der Zunge nahe dem Foramen cecum und den Papillae circumvallatae. Symptomfrei waren etwa 40 Prozent der Patienten, die anderen Patienten zeigten Symptome wie Dysphagie, Irritationen beim Schlucken und Mobilitätseinschränkungen [Supiyaphun et al., 1998].

Während linguale ossäre Choristome vereinzelt in moderneren Publikationen beschrieben werden, findet sich im deutschsprachigen Raum keine aktuelle Veröffentlichung zur Manifestation eines ossären Choristoms im Bereich des aufsteigenden Astes der Mandibula. Lediglich submandibuläre ossäre Choristome sind beschrieben [Supiyaphun et al., 2000; Johann et al., 2005; Prochno et al., 2020].

Wegen des seltenen Auftretens spielt das ossäre Choristom in den diagnostischen Überlegungen meist keine Rolle – doch selbstverständlich können auch seltene Entitäten klinisch relevant werden. Der vorliegende Fall zeigt, wie essenziell wichtig die vollständige, gewissenhafte radiografische Befundung jeglicher Bildgebung im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich ist. Anomalien sollten stets von einem harmlosen Röntgenartefakt beziehungsweise einem Fehler im Bildgebungsverfahren abgegrenzt werden.

Im beschriebenen Fall hätte das ossäre Choristom schon einige Jahre vorher erkannt werden können. Eine klare Empfehlung, ob ein symptomloses Choristom operativ entfernt werden sollte oder belassen werden kann, ist aufgrund fehlender wissenschaftlicher und klinischer Grundlagen nicht möglich. Sollte im Zuge einer Probeexzision der gesamte Befund risikoarm und technisch unproblematisch entnehmbar sein, so ist auch zur Diagnosesicherung dies einer partiellen Entnahme aus unserer Sicht vorzuziehen. 

Fazit für die Praxis

  • Eine gewissenhafte und sorgfältige Befundung der zwei- und dreidimensionalen Bildgebung ist, wie in jedem anderen medizinischen Fachbereich, auch im Zahn-Mund-Kieferbereich unerlässlich. Seltene Pathologien lassen sich so oft frühzeitig erkennen.

  • Bei unbekannten Veränderungen in der Bildgebung ist die Einholung einer Zweit- oder sogar Drittmeinung zahnärztlicher, oralchirurgischer oder MKG-Kollegen dringend zu empfehlen.

Dr. Ali Abriani

Oralchirurgische PraxisklinikDres. Huber & FreitagMarienstr. 22, 71083 Herrenberg

Dr. Georg Huber

Oralchirurgische PraxisklinikDres. Huber & FreitagMarienstr. 22, 71083 Herrenberg

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