Vereinigtes Königreich

Vor dem Kollaps: die Zahnmedizin im NHS

Heftarchiv Gesellschaft
mg
Menschen in allen Teilen Großbritanniens haben Schwierigkeiten, ihre zahnmedizinische Versorgung zu bezahlen – wenn es ihnen überhaupt gelingt, einen Termin beim Zahnarzt zu bekommen. Tatsächlich ist der schlechte Zugang zur Zahnmedizin im National Health Service (NHS) eines der Probleme, die die Briten in den vergangenen zwei Jahren am häufigsten gemeldet haben. Droht eine Zweiklassengesellschaft?

Eine Umfrage von Healthwatch England zeigt, wie aufgrund dieser Verteuerung und struktureller Probleme des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS die gesundheitlichen Ungleichheiten in der zahnmedizinischen Versorgung in England zunehmen. Es gilt: Wer kein Geld hat, hat es viel schwerer an eine Behandlung zu kommen. Im Mai 2022 betrug die Teuerungsrate in Großbritannien 9,1 Prozent.

Die Umfrage unter 2.026 erwachsenen Briten ergab:

  • 41 Prozent klagen über Probleme, einen NHS-Zahnarzttermin auszumachen.

  • Für 29 Prozent führt ein mangelnder Zugang zur zahnärztlichen Versorgung zu ernsten Problemen, was ihnen Angst macht.

  • 24 Prozent der Befragten gaben an, dass sie eigenes Geld in die Hand nehmen müssen, um alle erforderlichen Behandlungen zu erhalten.

  • 20 Prozent konnten darum nicht alle Behandlungen durchführen lassen, die sie benötigten.

  • 17 Prozent fühlten sich unter Druck gesetzt, private Leistungen in Anspruch zu nehmen, als sie ihren Zahnarzttermin buchten.

  • 17 Prozent berichteten, dass sie der NHS-Zahnarzt vor Beginn der Behandlung nicht über die Kosten informiert habe.

  • 16 Prozent beklagten, dass ein Mangel an rechtzeitiger zahnmedizinischer Versorgung es ihnen schwer machte, richtig zu essen oder zu sprechen. 14 Prozent verließen deshalb nicht mehr das Haus.

  • 12 Prozent sagten, dass mehr für die Behandlung berechnet wurde, als die NHS-Gebühren vorsehen.

Insgesamt hat der Mangel an NHS-Terminen am härtesten Menschen mit niedrigem Einkommen getroffen. Sie erhalten weniger wahrscheinlich eine Zahnbehandlung als besser Verdienende. Wer zur beruflichen Elite zählt, ist sechsmal häufiger in der Lage, für private Zahnpflege zu bezahlen als Rentner, Niedriglohnarbeiter und Arbeitslose.

Verkommt England zur Dental-Wüste?

Die neuen Daten offenbaren auch eine Nord-Süd-Kluft: Während jede fünfte Person aus Südengland angab, sich eine private Versorgung leisten zu können, waren es in Nordengland laut Umfrage nur 7 Prozent.

Dass sich die Situation verschlechtert hat, liegt Experten zufolge daran, dass vergangenes Jahr mehr als 2.000 Zahnärzte den NHS verlassen haben. Gleichzeitig zeigen jüngste Daten einen wachsenden Trend zur privaten Versorgung. Die Interessensvertretung Association of Dental Groups (ADG) warnte in diesem Zusammenhang davor, dass Teile Englands Gefahr liefen, zur Dental-Wüste („dental desert”) zu werden, sollte die Regierung nicht handeln.

Nach Darstellung von Healthwatch England hat sich die Krise von erschwertem Zugang und steigenden Selbstzahlerkosten weiter verschärft. Zwischen Oktober 2021 und März 2022 wendeten sich 4.808 Bürger an die Behörde, weil sie Probleme hatten, rechtzeitig Zugang zu zahnmedizinischer Versorgung zu erhalten.

Damit sei der schlechte Zugang zur NHS-Zahnmedizin eines der Probleme, die Menschen in den vergangenen zwei Jahren am häufigsten gemeldet haben, sagt Louise Ansari, Direktorin von Healthwatch England. Sie beobachte eine „sich vertiefende Krise in der zahnärztlichen Versorgung, so dass die Menschen Schwierigkeiten haben, eine Behandlung oder regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen im NHS zu erhalten“.

Der Mangel an NHS-Terminen schafft ihrer Ansicht nach eine Zweiklassengesellschaft, die die Gesundheit der schon jetzt am stärksten benachteiligten Bevölkerungsteile schädigt. „Da Millionen von Haushalten die Hauptlast der eskalierenden Lebenshaltungskosten tragen, ist eine private Behandlung einfach keine Option, denn selbst die NHS-Gebühren können eine Herausforderung darstellen.”

Verband sieht „perverse Anreize“ Der Politik

Die BDA unterstützt die Forderungen nach einer grundlegenden Reform der NHS-Zahnmedizin, wie sie von der britischen Regierung bis 2023 angekündigt worden war. Dass das für diese Reform benötigte Geld freigegeben wird, bezweifelt sie jedoch.

Rund 3.000 Zahnärztinnen und Zahnärzte hätten den NHS seit Beginn der Pandemie verlassen, dabei handele es sich um einen „Exodus, der durch den diskreditierten Vertrag der NHS-Zahnärzte angeheizt wird”, schreibt die BDA. Der aktuelle NHS-Vertrag setze Zahnärzten „perverse Anreize”, indem er eine gelegte Füllung genauso honoriert wie zehn Füllungen. Man sei besorgt über das Ausmaß der Ambitionen der Regierung.

Die NHS-Zahnmedizin würde nach BDA-Angaben zusätzliche 880 Millionen Pfund (1 Milliarde Euro) pro Jahr benötigen, nur um auf das Ressourcenniveau des Jahres 2010 zurückzukehren. Ohne grundlegende Reformen sieht die BDA die reelle Gefahr eines Zusammenbruchs der zahnmedizinischen Versorgung im NHS – belegt Ende Mai mit den Ergebnissen einer Befragung von 2.204 englische Zahnärztinnen und Zahnärzten. Danach gaben 75 Prozent der Befragten an, dass sie ihr NHS-Engagement in den nächsten zwölf Monaten wahrscheinlich reduzieren werden. 47 Prozent verkündeten, dass sie womöglich ihre Tätigkeit wechseln oder vorzeitig in Rente gehen. 45 Prozent sagten, dass sie sich wahrscheinlich vollständig aus dem NHS zurückziehen, um anschließend ausschließlich privat zu praktizieren.

Die Ergebnisse zeigen aber auch Nachwuchsprobleme auf: 65 Prozent gaben an, in ihren Praxen offene Stellen für Zahnärzte zu haben. 82 Prozent derjenigen, die offene Stellen melden, nannten die Konditionen im NHS als ein Haupthindernis für die Besetzung . Und fast sechs von zehn Teilnehmenden nannten Probleme im Zusammenhang mit der Vergütungshöhe.

Jede dritte Praxis hat Jobs über ein Jahr offen

Fast ein Drittel (30 Prozent) hat eigenen Angaben zufolge Schwierigkeiten, Kandidaten zur Arbeit in abgelegenen, ländlichen oder benachteiligten Gemeinden zu motivieren. Und 29 Prozent berichteten, dass die offenen Stellen seit mehr als einem Jahr unbesetzt sind.

Ein Grund sind offenbar auch die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen: 87 Prozent der Zahnärzte gaben an, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten Symptome von Stress, Burn-out oder andere psychische Probleme erlebt haben. 86 Prozent berichten, in ihrer Praxis körperlich oder verbal von Patienten angegriffen worden zu sein – und 75 Prozent beklagen, dass sie nicht in der Lage sind, sich genügend Zeit für ihre Patienten zu nehmen.

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