BBC-Recherche zur Zahnmedizin im NHS

Zahnarzttermin – für Briten (fast) ein Ding der Unmöglichkeit

Neun von zehn NHS-Zahnarztpraxen in Großbritannien nehmen keine neuen erwachsenen Patienten zur Behandlung an, acht von zehn keine Kinder. Die BBC ermittelte, wie schlimm es auf der Insel wirklich um die Zahnmedizin bestellt ist.

BBC News kontaktierte nach eigenen Angaben fast 7.000 NHS-Praxen – aus Sicht der Reporter sind das fast alle, die Behandlungen im Rahmen des öffentlichen Gesundheitsdienstes NHS anbieten. Ergebnis: In einem Drittel der mehr als 200 Gemeindebezirke des Vereinigten Königreichs gibt es keine Zahnärzte, die erwachsene NHS-Patienten aufnehmen. Die British Dental Association (BDA) bezeichnete die Studie als „die umfassendste und detaillierteste Bewertung des Patientenzugangs in der Geschichte des Dienstes“.

Das Gesundheitsministerium erklärte daraufhin, es habe zusätzliche 50 Millionen Pfund zur Verfügung gestellt, um den Behandlungsrückstau infolge der Pandemie zu beseitigen, und dass die Verbesserung des Zugangs zum NHS Priorität habe. 

Manche Briten ernähren sich nur noch von Suppe

Ihrem Bericht zufolge stieß die BBC bei ihrer Recherche im ganzen Land auf Menschen, die sich eine private zahnmedizinische Versorgung nicht leisten können und auf subventionierte Tarife angewiesen sind. Die zahnärztliche Behandlung im NHS ist für die meisten Erwachsenen nicht kostenlos, wird aber subventioniert.

Zur Methodik der Recherche

Die BBC ermittelte auf Basis von Listen der NHS-Organisationen 8.523 Zahnarztpraxen im gesamten Vereinigten Königreich, die die Reporter dann im Mai, Juni und Juli telefonisch befragten. Anschließend wurden diejenigen Praxen ausgeschlossen, die telefonisch nicht erreichbar oder dauerhaft geschlossen waren, die der Öffentlichkeit nicht für allgemeine und routinemäßige zahnärztliche Behandlungen zur Verfügung standen, einschließlich Krankenhäuser, und die keine NHS-Praxis waren. Übrig blieben 6.880 Praxen.

Der Mangel an NHS-Terminen führt offenbar dazu, dass Menschen Hunderte von Kilometern zum Zahnarzt fahren, sich selber ihre eigenen Zähne ohne Betäubung ziehen, sich improvisierte Prothesen anfertigen oder sich fast nur noch von Suppe ernähren.

Die Untersuchung ergab: 

  • Am schlimmsten ist es im Südwesten Englands, in Yorkshire und Humber sowie im Nordwesten, wo 98 Prozent der Praxen keine neuen erwachsenen NHS-Patienten annehmen.

  • Am besten ist der Zugang in London, wo fast ein Viertel der Praxen neue erwachsene NHS-Patienten aufnimmt.

  • In einer von zehn lokalen Gebietskörperschaften gab es keine Praxis, die neue Patienten unter 16 Jahren akzeptiert, obwohl Kinder Anspruch auf eine kostenlose ärztliche und zahnärztliche Behandlung haben.

  • Etwa 200 Praxen gaben an, dass sie ein Kind im Rahmen des NHS nur aufnehmen würden, wenn sich ein Elternteil als Privatpatient einschreibt.

  • In Schottland ist der Zugang zur NHS-Zahnmedizin für Erwachsene erheblich besser als in den anderen Ländern des Vereinigten Königreichs: 18 Prozent der Praxen nahmen neue Patienten aus dem NHS auf.

  • In Wales, England und Nordirland waren die Zugangsraten mit 7, 9 beziehungsweise 10 Prozent weitgehend gleich.

  • In Lancashire, Norfolk, Devon und Leeds konnten die Reporter keine einzige Praxis finden, die neue erwachsene Patienten aufnimmt. 

„Wir stellten nicht nur fest, dass es vielerorts schwierig war, schnell einen Termin für eine Routinezahnbehandlung zu erhalten, sondern dass die meisten Praxen nicht einmal Wartelisten führen“, berichten die Reporter. „Die meisten Praxen, die eine Warteliste führen, teilten uns mit, dass die Wartezeit ein Jahr oder länger beträgt, oder sie waren nicht in der Lage zu sagen, wie lange die Patienten warten müssen.“ 

1.700 Personen auf der Liste, fünf Jahre Wartezeit

Eine Praxis in Norfolk teilte der BBC zum Beispiel mit, sie habe mehr als 1.700 Personen auf ihrer Liste, während eine andere in Cornwall warnte, dass es fünf Jahre dauern würde, bis man als Patient aufgenommen würde. Der NHS England teilte unterdessen mit, er habe vor Kurzem Änderungen am Vertrag für Zahnmedizin vorgenommen und werde „die Praxen dabei unterstützen, den Zugang zu verbessern, einschließlich der Möglichkeit für leistungsstarke Praxen, ihre Aktivität zu erhöhen und mehr Patienten zu behandeln“.

Zahnmedizin im NHS

Seit der Gründung des Gesundheitsdienstes 1948 erscheint der Zugang zur NHS-Zahnmedizin problematisch. Bereits 1951 wurde die kostenlose Behandlung eingestellt, weil sie als unfinanzierbar galt. Seitdem gibt es ein subventioniertes System, bei dem ein Teil der Patienten einen Beitrag zu den Kosten leistet. Parallel dazu hat sich ein starker privater Markt entwickelt, den der BBC zufolge schätzungsweise ungefähr jeder siebte Erwachsene in Anspruch nimmt. Es ist somit die Entscheidung des Zahnarztes, in welchem Maß er NHS-Leistungen erbringt.

Die meisten NHS-Zahnärzte im Vereinigten Königreich sind selbstständig und nicht direkt beim Gesundheitsdienst angestellt. Wenn sie ihren NHS-Vertrag nicht erfüllen, wird das Geld, das sie erhalten haben, zurückgefordert. Die Zahnärzte monieren aber, dass der derzeitige NHS-Vertrag ihre Arbeit nicht fair entlohnt – und darum unattraktiv ist.

Sparmaßnahmen drücken ebenfalls auf die Budgets – und dann kam die Pandemie, die einen Rückstau von Patienten mit einer sich weiter verschlechternden Mundgesundheit verursachte. Diese Kombination von Faktoren scheint laut BBC zahlreiche Zahnärzte dazu veranlasst zu haben, die Praxis zu verlassen – denn die Zahl der NHS-Patienten ging im vergangenen Jahr um zehn Prozent zurück.

Die walisische Regierung gab eiligst bekannt, sie arbeite an einer Reform des Zahnarztsystems, um den Zugang und die Qualität der zahnärztlichen Versorgung zu verbessern. Im Juli kündigte Wales an, dass die meisten Erwachsenen künftig einmal im Jahr statt alle sechs Monate eine zahnärztliche Untersuchung erhalten sollen. Die schottische Regierung verkündete derweil, dass mehr als 95 Prozent der schottischen Bevölkerung bei einem NHS-Zahnarzt registriert seien und dass sich Schottland „in einer relativ starken Position befindet, was die Anzahl der Arbeitskräfte und die Kapazitäten angeht“.

Die Regierungen geben der Pandemie die Schuld 

Alle dezentralen Regierungen wiesen darauf hin, dass die Corona-Pandemie die Verfügbarkeit der zahnärztlichen Versorgung des NHS beeinträchtigt habe. Das nordirische Gesundheitsministerium erklärte, es sei „unvermeidlich, dass die Zugangsbedingungen heute nicht mehr so günstig sind wie vor COVID“. „Patienten, die derzeit nicht bei einem Zahnarzt des Gesundheitswesens registriert sind, müssen sich leider an mehrere Praxen wenden und eine weitere Anreise in Kauf nehmen“, heißt es weiter.

Für die BDA steht die NHS-Zahnmedizin an einem Wendepunkt. Nach zehn Jahren „brutaler Kürzungen“ seien allein für die Wiederherstellung des Finanzierungsniveaus von 2010 zusätzliche 880 Millionen Pfund pro Jahr erforderlich.

„Ich sitze in Tränen aufgelöst da!“

Eine Patientin, mit der die BBC sprach, ist Caroline Young aus Blackpool. Sie ließ sich von einem NHS-Zahnarzt Kronen setzen, doch als die Praxis vor vier Jahren die Zusammenarbeit mit dem NHS beendete, fand sie keinen neuen Behandler. Seitdem geht sie fast jede Woche die Zahnärzte im Telefonbuch durch, um zu fragen, ob sie neue Patienten annehmen.

Youngs Kronen fielen nach und nach aus, weshalb sie sich schließlich ein Provisorium aus Plastik gebastelt hat, die Anleitung dazu fand sie in den sozialen Medien. „Ich habe versucht, die Prothese anzupassen, aber das hat nicht geklappt. Ich weine, weil ich so nicht aus dem Haus gehen kann“, sagt sie. „Das ist demoralisierend. Ich sollte nicht das Gefühl haben, dass mich das zurückhält, aber es ist so. Wenn ich mir eine private Zahnbehandlung leisten könnte, wäre ich morgen schon dort.“

„Das Finanzministerium scheint sich nicht wirklich verpflichtet zu haben, in die Zahnmedizin zu investieren“, sagte der BDA-Vorsitzende Eddie Crouch. „Die Patienten lassen sich die Zähne entfernen, weil es billiger ist, als sie zu retten. Das ganze System ist auf gesundheitliche Ungleichheit ausgerichtet, und das muss sich dringend ändern.“

Alles auf gesundheitliche Ungleichheit ausgerichtet

Paul Woodhouse, Zahnarzt und BDA-Vorstandsmitglied, sagte gegenüber BBC Breakfast, die Regierung stelle nur 50 Prozent der Mittel zur Verfügung, die das Land für die Versorgung aller Patienten benötige, was bedeute, dass die Hälfte der Bevölkerung ohne einen NHS-Zahnarzt bleibt. „Wenn man das über Hausärzte oder Krebsvorsorgeuntersuchungen sagen würde, gäbe es Unruhen auf der Straße“, sagte er.

„Wir sehen hier die Ergebnisse jahrelanger chronischer Vernachlässigung, die durch den Druck der Pandemie noch verstärkt werden“, ergänzte Shawn Charlwood, Vorsitzender des BDA‘s General Dental Practice Committee. „Die Frage ist nun: Werden die Minister handeln, bevor es zu spät ist? Nichts, was wir bisher von der Regierung gehört haben, lässt uns darauf vertrauen, dass dieser Dienst eine Zukunft hat. Ohne eine echte Reform und eine faire Finanzierung wird die NHS-Zahnmedizin sterben, und unsere Patienten werden den Preis dafür zahlen.“

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