Keimbestimmung odontogener Abszesse

Next Generation Sequencing kann die Erregerdiagnostik verbessern

Nils Heim
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Franz-Josef Kramer
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Im Zuge der Corona-Pandemie haben Sequenzierungstechnologien wie das „Next Generation Sequencing“ (NGS) einen starken Aufschwung erfahren, was sich insbesondere in einem massiven Kapazitätsausbau zeigt. Diese Entwicklung bietet heute die Chance, neue Indikationen für die installierte technologische Basis zu prüfen. In den Blick geraten da auch Keimbestimmungen bei hartnäckigen odontogenen Abszessen, die einen erheblichen medizinischen und wirtschaftlichen Nutzen stiften könnten.

Ausgedehnte odontogene Abszesse sind potenziell vital gefährdende, von Zähnen ausgehende Abszessgeschehen, die im Rahmen von Notfalleingriffen – meist stationär – in Kliniken mit oralchirurgischer beziehungsweise mund-, kiefer- und gesichtschirurgischer Ausrichtung behandelt werden. Verlassen die Abszesse ihre ursprüngliche Loge und es kommt zur Ausbreitung, kann es zu septischen Geschehen, Atemwegsverlegungen, parapharyngealen Inflammationen bis hin zu nekrotisierenden Fasciitiden und Mediastinitis kommen. Unbehandelt gelten diese Entzündungsgeschehen nicht selten als lebensbedrohlich [Heim et al., 2018]. Die leitliniengerechte Therapie der ausgedehnten Abszesse sieht eine meist von extraoral durchgeführte Abszesseröffnung, Drainierung und Spülung in Allgemeinanästhesie vor, gefolgt von einer darauffolgenden weiteren Drainierung über eingebrachte Drainageschläuche, täglichen desinfizierenden Spülungen und einer intravenös applizierten Antibiotikatherapie im Rahmen eines stationären Aufenthalts [Heim et al., 2019].

Solche Abszesse machen insgesamt über vier Prozent des stationär behandelten Patientenguts in deutschen Kliniken für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie aus und sind ein erheblicher Kostenfaktor für das Gesundheitssystem [Heim et al., 2021]. In den vergangenen Jahrzehnten kam es zu deutlichen Anstiegen von Antibiotikaresistenzen, die die Autoren auch in eigenen Vorarbeiten nachweisen konnten [Heim et al., 2017]. Eine Säule der effektiven Behandlung der Patienten ist die supportive intravenöse Antibiotikagabe. Als Standardpräparate werden hier kalkuliert Breitspektrumpenicilline eingesetzt [Heim et al., 2019a]. Das Surrogat der Wahl ist in der Regel Clindamycin. Doch gerade im Bereich des Clindamycins sind steigende Zahlen von resistenten Bakterienstämmen zu verzeichnen [Zirk et al., 2016].

Vor dem Hintergrund der Resistenzentwicklungen wäre eine zeitnahe Bestimmung des den Abszess verursachenden Keimspektrums wünschenswert, um die Antibiotikatherapie möglichst zielgenau einsetzen zu können. Dazu wird während der operativen Maßnahme ein Abstrich aus der Abszesshöhle genommen, der anschließend bebrütet wird, um Erreger zu isolieren und ein Antibiogramm anfertigen zu können, was im Idealfall erlaubt, Resistenzen aufzuspüren und die Wahl des Antibiotikums anzupassen. Eigene Zahlen zeigen allerdings, dass mit dieser Methode nur in 82 Prozent der Fälle überhaupt ein Erreger nachgewiesen werden kann [Heim et al., 2021]. Ob dies dann der Abszess auslösende Mikroorganismus ist, bleibt häufig ungeklärt. Hinzu kommt, dass eine spezielle Inkubation erforderlich ist, um anaerobe Erreger zu kultivieren. Auf dem Transportweg zum Labor können die Keime absterben, sind damit nicht mehr kultivierbar und dementsprechend auch nicht detektierbar.

Erbgutanalyse der Keime liefert präzise Ergebnisse

Die Technologie des NGS eröffnet hier in mehrerlei Hinsicht vollkommen neue Möglichkeiten. In Zusammenarbeit mit der Firma Zymo Research Corp. / Europe war es den Autoren möglich, einen Patienten mit prolongiertem Krankheitsverlauf suffizient zu behandeln und die Ergebnisse des angewendeten „PrecisionBIOMETM“ (Zymo Research Corporation, Irvine, CA, USA)-Verfahrens mit den herkömmlichen Keimbestimmungsmethoden abzugleichen (siehe Patientenfall). Beim NGS handelt es sich um eine molekulare Diagnostik, bei der das Erbgut der Mikroorganismen sequenziert wird. Die molekulare Signatur jedes Mikroorganismus ist einzigartig für diesen spezifischen Keim.

Als erster Schritt der NGS-Methode wird die Bakterien- und Pilz-DNA aus dem Abszessabstrich extrahiert. Die extrahierte mikrobielle DNA wird dann sequenziert und durch eine nachfolgende bioinformatische Analyse einem Bakterium oder Pilz bis auf Spezies-Level zugeordnet. Der PrecisionBIOMETM-Workflow ermöglicht außerdem eine genaue Quantifizierung mit einer Aussage über die absolute und die relative Häufigkeit von Mikroorganismen im Abszess. Darüber hinaus detektiert der Test die häufigsten Gene, die für antibiotische Resistenzen codieren und hilft somit dem Behandler direkt, die wirksamste Antibiotikatherapie anzuwenden.

Patientenfall

Ein 81-jähriger, kardial vorerkrankter Mann mit ausgedehntem masseterico-mandibulärem Abszess und perimandibulärer Ausbreitung stellte sich in unserer Klinik vor (Abbildung 1).

Zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme befand 
sich der Mann bereits in einem deutlich reduzierten Allgemeinzustand, mit Schluckbeschwerden und einem massiv erhöhten Entzündungslabor (CRP: 322 mg/L (Ref.: 0–3); Leukozyten: 18,6 G/L (Ref.: 3,6–10,5)). 
Es erfolgte die sofortige stationäre Aufnahme, eine intravenöse Antibiotikatherapie mit Unacid (Ampicillin/Sulbactam – dreimal täglich intravenös 3 g) – und 
die operative, extraorale Eröffnung des Abszesses. Intraoperativ führten wir den üblichen Abstrich durch, der etwa fünf Tage später wiederholt wurde. Beide Abstriche blieben vollständig ergebnislos und ohne Keimnachweis.

Abb. 1: Abszess vor chirurgischer Eröffnung |Nils Heim

Tab. 1, Auflistung der Keime mit der größten Häufigkeit (in %): linke Spalte: Antibiotikapräparate; grau unterlegte Felder: Resistenzen, I = intrinsische Resistenz des Bakteriums gegen das Antibiotikum, R = erworbene Resistenz gegen das Antibiotikum; weiß unterlegte Felder mit „S“: Das Bakterium ist sensibel auf das in der linken Spalte aufgeführte Präparat. | Quelle: Zymo Research Corporation, Irvine, CA, USA, 2022

Im Rahmen einer prospektiven klinischen Studie, die wir gemeinsam mit der Firma Zymo Research durchführen, nahmen wir intraoperativ einen weiteren Abstrich zur RNA-Analyse (NGS). Der Zustand des Patienten verbesserte sich in den folgenden Tagen nur geringfügig bei nur langsam sinkenden Entzündungswerten und immer noch deutlich eingeschränktem Allgemeinzustand. Die Auswertung der NGS-Daten zeigte ein breites Spektrum an Mikroorganismen im Abszess (Tabelle 1). Bei der genauen Analyse 
des Keimspektrums und der Gen-basierten Resistenzanalyse fiel auf, dass das empirisch verabreichte Antibiotikum bei einer großen Zahl der detektierten Bakterien nicht wirksam war (Abbildung 2). Das zweit-, dritt- und vierthäufigste Bakterium zeigte eine intrinsische Resistenz gegen Unacid.

Abb. 2: Relative Verteilung der Bakterien innerhalb des Abszess-Mikrobioms, dargestellt in einem Kuchendiagramm: Namentlich sind nur die Keime angegeben, die eine bestimmte Häufigkeit (abundance) einnehmen. Die Tabelle zeigt die einzelnen sequenzierten Keime mit der relativen Häufigkeit und der absoluten Anzahl der detektierten Zellen (absolute abundance). | Zymo Research Corporation, Irvine, CA, USA, 2022

Aufgrund des vorliegenden Befunds entschlossen wir uns, die antibiotische Therapie zu erweitern. Durch die Ergänzung der Therapie um das Fluorchinolon Ciprofloxacin trat bei dem Patienten innerhalb von 24 Stunden eine deutliche Beschwerderegredienz ein. Nach prolongiertem Verlauf konnte der Patient nach elf Tagen stationärer Behandlung in die ambulante Nachsorge entlassen werden.

Tab. 2, Quelle: Zymo Research Corporation | Irvine, CA, USA, 2022

Für den Behandler und den Patienten entsteht keinerlei zusätzliche Belastung. Der intraoperativ genommene Abstrich wird in ein spezielles Reagenz gegeben, das das Erbgut der Mikroorganismen bis zu 30 Tage bei Raumtemperatur stabilisiert und konserviert. Dies ermöglicht eine einfache Handhabung ohne zusätzliche Labormaterialien und die gesamte Bestimmung wird wie gewohnt aus einem einzigen, zusätzlichen Abstrich initiiert. Der Versand des Materials erfolgt postalisch. Das Ergebnis wird im allgemeinen wenige Tage später digital übermittelt.

Leitlinie verweist auf Keimbestimmung

Vor dem geschilderten Hintergrund der einfachen Anwendung, früher verfügbarer Laborergebnisse, dem immensen Informationszugewinn und der Möglichkeit der gezielten antibiotischen Behandlung werden NGS-basierte Keimbestimmungen zunehmend interessant. Die verfügbare S3-Leitlinie zum Thema „Odontogene Infektionen“ (Gültigkeit bis 9/21) verweist in ihrer Langversion zweimal auf das Thema Abstriche:

1. Im Abschnitt zur „Intervention bei odontogenen Infektionen mit Ausbreitungstendenz“ lautet die Aussage: „Bei der Eröffnung einer odontogenen Infektion mit Ausbreitungstendenz wird durch eine intraoperative Abstrichnahme, zur mikrobiologischen Erregerdiagnostik und Erstellung eines Antibiogramms, eine Anpassung der Antibiotikatherapie bei Bedarf möglich.“

2. Unter dem Abschnitt 8.3. (Interventionen bei Komplikationen odontogener Infektionen mit Ausbreitungstendenz) heißt es: „Für eine eventuell notwendige Anpassung der Antibiotikatherapie ist es hilfreich, bei der Abszesseröffnung einen mikrobiologischen Abstrich durchzuführen.“ Somit deckt die Leitlinie aktuell keine weitergehende Empfehlung für eine bestimmte Abstrichnahme oder weiterführende Diagnostik ab.

Pilotstudie soll Nutzen der NGS-Methode evaluieren

In einer größer angelegten Pilotstudie der Autoren wird das Mikrobiom odontogener Abszesse systematisch mit NGS bestimmt, um eine Aussage bezüglich der vorhandenen Keime und deren Resistenzen machen zu können. Ziel dieser Studie ist einerseits, ein genaueres Bild vom Mikrobiom ausgedehnter odontogener Abszesse zu bekommen und andererseits herauszufinden, ob die Erregerdiagnostik sich mit der bisherigen Abstrichmethodik deckt oder ob sich grundsätzliche Unterschiede feststellen lassen. Bereits jetzt, nach der Auswertung erster Ergebnisse, zeichnet sich ab, dass die NGS-Methode deutlich genauere und weit ausführlichere Ergebnisse hinsichtlich des Keimspektrums liefern kann.

Fazit

Der vorliegende Patientenfall zeigt, dass die NGS-Analyse in vielen Punkten deutliche Vorteile gegenüber der bislang verwendeten Standarddiagnostik vorweisen kann. Da der Patient in keiner Weise durch die Diagnostik belastet wird, die Operationsdauer nicht steigt und keine weiteren Risiken für Patient und Behandler entstehen, sollte diskutiert werden, ob die Erregerdiagnostik mittels NGS nicht die bisherige Abstrichmethode ersetzen und standardmäßig bei der Behandlung von ausgedehnten Abszessen zum Einsatz kommen sollte. Nicht nur medizinisch, auch wirtschaftlich könnte sich ein solcher Paradigmenwechsel lohnen: Die präzise Erregerdiagnostik erlaubt einen zügigen und zielgenauen Einsatz der richtigen Antibiotika und verkürzt damit langwierige stationäre Aufenthalte.

Literaturliste


1. The role of C-reactive protein and white blood cell count in the prediction of length of stay in hospital and severity of odontogenic abscess Heim N, Wiedemeyer V, Reich RH, Martini M. J Craniomaxillofac Surg. 2018 Dec;46(12):2220-2226

2. The role of immediate versus secondary removal of the odontogenic focus in treatment of deep head and neck space infections. A retrospective analysis of 248 patients. Heim N, Warwas FB, Wiedemeyer V, Wilms CT, Reich RH, Martini M. Clin Oral Investig. 2019 Jul;23(7):2921-2927

3. Mapping the microbiological diversity of odontogenic abscess: are we using the right drugs?  Heim N, Jürgensen B, Kramer FJ, Wiedemeyer V. Clin Oral Investig. 2021 Jan;25(1):187-193.

4. Microbiology and antibiotic sensitivity of head and neck space infections of odontogenic origin. Differences in inpatient and outpatient management. Heim N, Faron A, Wiedemeyer V, Reich R, Martini M. J Craniomaxillofac Surg. 2017 Oct;45(10):1731-1735

5. A mathematical approach improves the predictability of length of hospitalization due to acute odontogenic infection: A retrospective investigation of 303 patients. Heim N, Berger M, Wiedemeyer V, Reich R, Martini M. J Craniomaxillofac Surg. 2019 Feb;47(2):334-340.

6. Empiric systemic antibiotics for hospitalized patients with severe odontogenic infections  Zirk M, Buller J, Goeddertz P, Rothamel D, Dreiseidler T, Zoller JE, KreppelM (2016). J Craniomaxillofac Surg 44(8):1081–1088

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