Grundlagen, Anwendung, rechtlicher Rahmen

Botulinumtoxin in der Bruximustherapie

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Die Ursachen des Bruxismus sind ebenso vielfältig wie dessen Therapiemöglichkeiten. Zunehmend von Evidenz untermauert und auch zunehmend von Patienten nachgefragt wird die Injektion von Botulinumtoxin in den Musculus masseter. Wie aber sieht diese Behandlung aus, wer darf sie durchführen und was gibt es rechtlich zu beachten?

Das nicht-funktionelle Zähneknirschen oder Aufeinanderpressen der Zähne wird als Bruxismus bezeichnet. Während im Kindesalter der Schlafbruxismus sehr häufig auftritt, ist beim Erwachsenen der Wachbruxismus die führende Form. Mit 22,1 bis 31,0 Prozent Prävalenz kommt jener damit knapp doppelt so häufig vor wie der Schlafbruxismus (12,8 ± 3,1 Prozent) [Manfredini et al., 2013].

Bekannte ätiologische Faktoren sind neben emotionalem Stress Angststörungen, Schlafstörungen und Alkoholkonsum sowie die Einnahme verschiedener Psychopharmaka. Bruxismus kann aufgrund der mit ihm einhergehenden, teilweise ausgeprägten Schmerzzustände im Bereich der Kaumuskulatur als auch wegen Schäden an der Zahnhartsubstanz und am Parodont einen krankhaften Zustand darstellen.

Auch wenn die Zusammenhänge unzureichend erforscht sind, wird Bruxismus als wichtiger Risikofaktor für das Entstehen einer CMD angenommen. Gemäß der S3-Leitlinie von 2019 zur Diagnostik und Therapie des Bruxismus stehen neben eigen- oder fremdanamnestischen Angaben vor allem die zahnärztliche Untersuchung, die Untersuchung der Kaumuskelaktivität und gegebenenfalls apparative Untersuchungen im Vordergrund der diagnostischen Maßnahmen. Beim Schlafbruxismus bildet die Polysomnografie den diagnostischen Goldstandard, wird aber wegen Kosten und Aufwand nicht standardmäßig empfohlen [Peroz et al., 2019].

Leitliniengerechte Bruxismustherapie

Die Leitlinie gibt dem Behandler verschiedene therapeutische Möglichkeiten an die Hand. Insbesondere die Beratung und die Aufklärung der Patienten sowie das Anhalten zur Selbstbeobachtung gelten als wichtige Säulen der Bruxismustherapie.

Das Tragen von Okklusionsschienen scheint vor allem den Abrieb der Zähne beim Schlafbruxismus zu verhindern, lindert jedoch nicht immer vorhersagbar dauerhaft die subjektiven Beschwerden. Zur Gestaltung der Schienen existieren teils evidenzbasierte und teils stark auf individuellen (Lehr-)Meinungen basierende Ansätze. Insbesondere aufgrund der Schutzfunktion und der Abbildung der Leistung in der kassenzahnärztlichen Versorgung ist die Schienentherapie jedoch sinnvollerweise häufig eines der ersten Mittel der Wahl. In der zahnärztlichen Bruxismustherapie werden Einschleifmaßnahmen zur kausalen Behandlung nicht empfohlen. Gleiches gilt für die systemische Medikamentengabe (vor allem für Sedativa, Antikonvulsiva und Antidepressiva).

Psychotherapeutische Ansätze der kognitiven Verhaltenstherapien, wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, werden als hilfreich angesehen. Hinsichtlich der Effektivität der manuellen Therapie besteht kein klarer Konsens. Andere Maßnahmen, wie zum Beispiel auf Biofeedback basierende Ansätze, führen zwar zu einer Verringerung der Bruxismusaktivität, ihre Wirkung scheint jedoch auf den Zeitraum der Anwendung begrenzt zu sein [Peroz et al., 2019].

Mit der Veröffentlichung der S3-Leitlinie zum Bruxismus wurde die Therapie mit Botulinumtoxin knapp 25 Jahre nach ihrer Erstbeschreibung [Moore & Wood, 1994; Smyth, 1994] erstmals in einer deutschsprachigen Leitlinie erwähnt: „Die Injektion von Botulinumtoxin bei Erwachsenen in die Kaumuskulatur kann als Behandlungsmaßnahme erwogen werden. Hierbei sind der ‚Off-Label-Use‘ und berufsrechtliche Vorgaben zu beachten. Evidenzgrad 1++ bis 2++, Starker Konsens.“ [Peroz et al., 2019].

Wirkstoff Botulinumtoxin

Seit Ende der 1970er-Jahre wird Botulinumtoxin zu medizinischen Zwecken verwendet [Erbguth, 2007]. Bekannt sind insgesamt acht verschiedene Botulinumtoxine (A bis G), wovon vier human wirksam sind. Medizinisch wird aktuell nahezu nur Botulinumtoxin A und in wenigen Ausnahmefällen Botulinumtoxin B genutzt. Botulinumtoxine sind in der Lage, über verschiedene Wege langfristig die Ausschüttung von Acetylcholin im Bereich der Endplatten zu hemmen und damit lokal begrenzt die Erregungsübertragung von Nervenzellen auf Muskeln und Drüsen langfristig zu inhibieren.

Nach der Injektion in den zu behandelnden Muskel kommt es im Diffusionsbereich dosisabhängig zu einer teilweisen bis vollständig schlaffen Paralyse, die in den meisten Fällen vier bis sechs Monate anhält. Die hierfür benötigten Stoffmengen sind mit wenigen Nanogramm je Patient ausgesprochen klein und werden in herstellerspezifischen Einheiten mit festen Umrechnungsfaktoren angegeben.

Der Markt hält eine Vielzahl verschiedener Präparate bereit, die allerdings jeweils nur für sehr enge ästhetische und funktionelle Indikationsbereiche zugelassen sind. Der im Volksmund häufig gebrauchte Name BOTOX® stellt lediglich eines dieser Präparate dar. Allen Präparaten gemeinsam ist die häufige Anwendung außerhalb des jeweiligen Zulassungsbereichs, der sogenannte Off-Label-Use. Dies gilt insbesondere auch für die Bruxismustherapie, da aktuell kein Präparat eine Zulassung für diese Anwendung besitzt (Stand 11/2022).

Stellenwert in der Bruxismustherapie

Seit 1994 sind Anwendungen von Botulinumtoxin als Teil der Bruxismustherapie beschrieben [Moore & Wood, 1994; Smyth, 1994]. In der deutschsprachigen Literatur wurden dahingehend erstmals 2004 und 2005 Fachartikel verfasst [Mischkowski et al., 2004, 2005].

Das primäre Ziel in der Bruxismustherapie ist die paralysierende Behandlung des Musculus masseter. Es kann je nach Dosis und Art der Applikation eine partielle bis subtotale Paralyse mit nachfolgend eintretender Atrophie erreicht werden. In diversen, teils randomisierten Kontrollstudien wurde eine langfristige Wirkung im Sinne einer subjektiven Verbesserung der Beschwerdesymptomatik des Bruxismus belegt [Al-Wayli, 2017; De la Torre Canales et al., 2017; De Mello Sposito et al., 2014; Fernández-Núñez et al., 2019; Lee et al., 2010; Lobbezoo et al., 2008; Long et al., 2012; Ondo et al., 2018; Persaud et al., 2013; Shim et al., 2014; Tan et al., 2000].

Einige Autoren sehen die alleinige Injektion von Botulinumtoxin – gegenüber der alleinigen Therapie mit Aufbissschienen – als überlegen an [Al-Wayli, 2017; Yurttutan et al., 2019]. Auch wenn die verfügbare Datenlage aus den in der Leitlinie zitierten Studien noch eingeschränkt belastbar erscheint, stimmen die vorhandenen Daten sehr positiv, dass Botulinumtoxin eine ernst zu nehmende pharmakologische Ergänzung zur konventionellen Schienentherapie beziehungsweise sogar eine Alternative dazu darstellt.

Auch zusätzliche Anwendungen im Bereich des Musculus temporalis sind beschrieben [von Lindern et al., 2001]. Insbesondere im Verlauf einer Erhaltungstherapie kann die Mitbehandlung des Musculus temporalis aufgrund einer reaktiv eintretenden Hypertophie des Muskels angezeigt sein. Dokumentierte Behandlungsserien [Quarta, 2022] zeigen vielversprechende Ergebnisse, allerdings ist die Güte der wissenschaftlichen Evidenz nicht mit der zuvor genannten für den Musculus masseter vergleichbar.

Anwendung in der Bruxismustherapie

Wie bei vielen invasiven therapeutischen Maßnahmen ist die korrekte Indikationsstellung auch bei der Therapie des Bruxismus mit Botulinumtoxin essenziell. Nach leitliniengerechter Diagnosestellung [Peroz et al., 2019] sollte zunächst eine erneute Palpation des Musculus masseter erfolgen, um das Ausmaß und die Symmetrie beziehungsweise Asymmetrie einer Masseterhypertrophie beurteilen zu können. Insbesondere bei ausgeprägter ein- oder beidseitiger Masseterhypertrophie erscheint eine Therapie mit Botulinumtoxin vielversprechend.

Ziel der Behandlung ist die subtotale Paralyse des Musculus masseter. Es sollten dafür im Bereich des Muskelbauches die Injektionspunkte so gesetzt werden, dass sie die motorischen Endplatten möglichst vollumfänglich abdecken, der Wirkstoff jedoch nicht in angrenzende Strukturen wie zum Beispiel Muskeln, vor allem nicht in die mimisch relevanten Musculi risorius et zygomaticus, diffundiert [Bae et al., 2014]. Darüber hinaus gilt es, intravasale Injektionen zu vermeiden.

Für die korrekte Injektionstechnik sind gute anatomische Kenntnisse erforderlich: Der Musculus masseter entspringt mit seinen drei Anteilen am Jochbogen größtenteils als sehnige Aponeurose und inseriert an der Tuberositas masseterica der Mandibula (Abbildung). Die Muskelstränge sind unterhalb der Subcutis und im Bereich der Glandula parotis zu tasten. Der Zielmuskel ist daher vor der Injektion zu palpieren und gegebenenfalls zu markieren. Die Injektionspunkte sind unter Berücksichtigung einer Diffusionsstrecke von circa 1 cm zu wählen. Zur Durchführung haben sich multiple (meist vier bis sechs), kleinvolumige Injektionen bewährt.

Mit 31G-Nadeln von 10 mm Länge kann der Musculus masseter ausreichend sicher getroffen werden. Pro Seite sind etwa 25 Einheiten (Allergan- beziehungsweise Merz-Einheiten) für eine gute Wirkung häufig ausreichend. Die korrekte Auswahl von Dosis und Applikationsort kann der erfahrene Behandler meist anhand des klinischen Befunds gut abschätzen.

Wegen der verschiedenen Erscheinungsbilder der Hypertrophie und dem unterschiedlichen Ansprechen auf Botulinumtoxin kann nach einigen Wochen eine Kontrolluntersuchung sinnvoll sein. In diesem Rahmen können auch eventuelle Nachinjektionen in noch nicht vollständig paralysierte Bereiche durchgeführt werden, was schon im Rahmen eines Kostenvoranschlags mit bedacht werden sollte.

Einige Anwender empfehlen, Injektionen nur caudal einer gedachten Linie von Tragus und dem Mundwinkel (Abbildung) vorzunehmen [Quezada-Gaon et al., 2016]. Ob so jedoch immer alle motorischen Endplatten des Nervus massetericus sicher erreicht werden können, hängt von der individuellen Anatomie, insbesondere von der Höhe des Übergangs von Aponeurose zu kontraktiler Muskulatur ab. Sicherlich sollten aber tiefe Injektionen durchgeführt sowie ein circa 1 cm großer Abstand zu den Rändern des Muskels gewahrt werden, um Diffusion in angrenzende Strukturen zu vermeiden [Peng et al., 2018]. Der paralytische Effekt beginnt erfahrungsgemäß frühestens 48 bis 72 Stunden nach der Injektion; teilweise kann diese Wirkung auch erst eine Woche später eintreten.

Durch den paralytischen Effekt kommt es mittelfristig zu einer teils ausgeprägten Atrophie des Musculus masseter, die in einigen Fällen auch mit einer Verschmälerung des hinteren Untergesichts einhergeht. Insbesondere im Zeitalter des Strebens nach einer möglichst ausgeprägten „Jawline“, das heißt einer definierten Kontur des Kieferwinkels, ist diese (Neben-)Wirkung vorab zu besprechen und dies gut zu dokumentieren. Rein ästhetisch motivierte Behandlungen zur intentionellen Verschmälerung des Untergesichts sind kritisch zu betrachten, da die Behandlung des Musculus masseter mit Botulinumtoxin tief in die Funktion des Kaumuskelapparats eingreift. Neben unerwünschten Ereignissen im Rahmen der Injektion selbst ergeben sich die möglichen Komplikationen (Tabelle) vor allem aus der gewünschten paralytischen Wirkung und daraus, dass die Diffusionsstrecke des Wirkstoffs schwierig berechenbar ist, da sie stark von der Verdünnung, dem Injektionsvolumen und weiteren patientenindividuellen Faktoren abhängt.

Meist schon nach vier bis sechs Monaten kommt es zu einer Aktivitätsrückkehr der Muskulatur, so dass eine Nachbehandlung indiziert sein kann [Tan et al., 2000; Tinastepe et al., 2015; Quarta, 2009]. Beim Wiederauftreten der Beschwerden sind Nachbehandlungen meist ein- bis zweimal jährlich angezeigt.

Wegen der großen benötigten Wirkstoffmenge entsteht ein Großteil der Behandlungskosten durch den Materialeinsatz und nicht durch die Abrechnung des Honorars nach GOÄ. Die Kosten werden nicht regelhaft von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Fälle einer ausnahmsweisen Kostenzusage nach Antragsprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen sind selbst nach Stellung eines detaillierten Antrags mit Fotodokumentation und Aufzeigen der bisher durchgeführten Therapien sowie den in Summe vollständig ausgeschöpften Therapieoptionen äußerst selten. Aufgrund der fehlenden Zulassung sind Klagen nicht aussichtsreich (Bundessozialgericht, Urteil vom 19. März 2002, Az.: B1 KR 37/00R). Bei privaten Krankenversicherungen empfiehlt sich das vorherige Einholen einer Zusage der Kostenübernahme, die bei Durchführung der Behandlung durch Fachärzte für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie häufig erteilt wird.

Therapie durch Zahnarzt, Oral- oder MKG-Chirurg?

Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die hier beschriebene Bruxismustherapie mittels Botulinumtoxin nur durch einen MKG-Chirurgen oder auch durch einen Zahnarzt durchgeführt werden darf. Unstreitig darf der MKG-Chirurg als Human- und Zahnmediziner eine solche Therapie durchführen. Ebenso unumstritten darf ein Zahnarzt keine Faltenunterspritzungen im Stirn-, Augen- und Halsbereich oder Injektionen zur Therapie der Migräneerkrankung und der Behandlung der Hyperhidrose durchführen (OVG NRW, Urteil vom 18. April 2013, Az.: 13 A 1210/11, juris). Vereinfacht gesagt: Zahnmediziner dürfen den „Lippenrotbereich“ nicht verlassen. Aber: Ausgangspunkt der Feststellung, welche Heilbehandlungen konkret von der zahnärztlichen Approbation erfasst werden, ist Paragraf 1 Abs. 3 ZHG:

„Ausübung der Zahnheilkunde ist die berufsmäßige auf zahnärztlich wissenschaftliche Erkenntnisse gegründete Feststellung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten. Als Krankheit ist jede von der Norm abweichende Erscheinung im Bereich der Zähne, des Mundes und der Kiefer anzusehen, einschließlich der Anomalien der Zahnstellung und des Fehlens von Zähnen.“

Danach kommt es also allein darauf an, ob sich die Maßnahme auf eine der vorbezeichneten Körperregionen und die dort auftretenden Krankheiten bezieht (OLG Zweibrücken, Urteil vom 21. August 1998, Az.: 2 U 29/97, juris, Rn. 42; OVG NRW, Beschluss vom 13. August 1998, Az.: 13 A 1781/96, juris, Rn. 12). Ist dies der Fall, sind auch notwendige begleitende Übergriffe auf die Gesichtshaut zulässig (OVG NRW, Urteil vom 18. April 2013, a.a.O., juris, Rn. 47; OLG Zweibrücken, a.a.O., Rn. 53, 58).

Bruxismus kann sowohl als Folge von Störungen und Erkrankungen auftreten als auch selbst durch unmittelbare Auswirkungen auf den Kiefer sowie auf die Zähne zu weiteren Erkrankungen wie beispielsweise im Komplex der Craniomandibulären Dysfunktionen (CMD) führen. Damit handelt es sich um ein (auch) der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde zuzuordnendes Krankheitsbild, dessen Therapie dem Zahnarzt daher grundsätzlich erlaubt ist. Dabei ist der Zahnarzt nach hier vertretener Auffassung nicht auf die Durchführung der Schienentherapie beschränkt, sondern darf auch eine Therapie mittels Injektion von Botulinumtoxin durchführen. Dagegen spricht auch nicht die grundsätzliche Grenze des Lippenrotbereichs, die der Zahnarzt zur Durchführung der beschriebenen extraoralen Injektionen überschreiten müsste, denn zur Behandlung einer originär dem Zahn-, Mund- und Kieferbereich zuzuordnenden Erkrankung sind notwendige begleitende Übergriffe sogar bei chirurgischen Maßnahmen erlaubt (so explizit für die Durchführung von bimaxillären Umstellungsosteotomien durch Oralchirurgen: OLG Zweibrücken, a.a.O.). Hinzuweisen ist indes vorsorglich darauf, dass die Zulässigkeit der Durchführung einer Botulinumtoxin-Therapie des Bruxismus – soweit ersichtlich – noch nicht (ober)gerichtlich entschieden beziehungsweise bestätigt wurde. Außerdem darf der Zahnarzt – wie auch der MKG-Chirurg – diese Therapie selbstverständlich nur dann durchführen, wenn er sie beherrscht, also insbesondere die richtigen Injektionsstellen identifizieren, die Injektionen fachgerecht durchführen und Injektionen in solche Muskelpartien und andere Strukturen ausschließen kann, in die eine Injektion nicht indiziert ist.

Fehlende Zulassung spricht nicht gegen die Verwendung

Die Tatsache, dass das Botulinumtoxin nicht für die Behandlung des Bruxismus zugelassen ist, verbietet dem MKG-Chirurgen, dem Oralchirurgen oder Zahnarzt dessen Anwendung zu diesem Zweck nicht. Die Zulassung eines Medikaments attestiert lediglich dessen Verkehrsfähigkeit und begründet dadurch eine Vermutung für seine Indikation zur Diagnose oder Therapie bei bestimmten Krankheiten. Die Indikation im Einzelfall muss der Arzt oder Zahnarzt aber selbst verantwortlich feststellen.

Begrifflichkeiten

  • Off-Label-Use: der zulassungsüberschreitende Einsatz eines Arzneimittels außerhalb der von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete (Indikationen, Patientengruppen)

  • Unlicensed Use: Einsatz eines Arzneimittels, für das zwar national keine Marktzulassung besteht, aber in anderen Jurisdiktionen

  • Compassionate Use: Einsatz eines (noch) nicht zugelassenen Arzneimittels im Rahmen eines individuellen Heilversuchs, in der Regel bei Patienten, für die keine weiteren Behandlungsalternativen mit zugelassenen Arzneimitteln mehr zur Verfügung stehen

Das Arzneimittelgesetz verbietet es dem Behandler daher nicht – gleich ob es sich um Off-Label-Use, Unlicensed Use oder Compassionate Use handelt – ein nicht beziehungsweise nicht für die konkrete Verwendung zugelassenes Medikament zur Behandlung im individuellen Fall einzusetzen. In der Aciclovir-Entscheidung stellte das OLG Köln (Urteil vom 30. Mai 1990 – 27 U 169/89, BeckRS 9998, 10133) sogar ausdrücklich fest, dass der Off-Label-Use eines Medikaments gleichwohl medizinischer Standard sein kann.

Zu beachten ist, dass sich der dem Patienten geschuldete Sorgfaltsmaßstab beim Off-Label-Einsatz eines Medikaments vom Standard eines „durchschnittlichen gewissenhaften Facharztes“ auf den Standard eines „vorsichtigen gewissenhaften Facharztes“ erhöhen kann, soweit die Off-Label-Therapie noch nicht allgemein anerkannter Standard ist. Daraus können dann im Einzelfall erhöhte Anforderungen an die Risiko- und die Sicherungsaufklärung sowie die engmaschigere Begleitung (Einbestellung) des Patienten resultieren.

Aufklärung

Im Hinblick auf den gemäß Paragraf 630e BGB zu beachtenden Aufklärungsstandard ergeben sich bei der Botulinumtoxin-Therapie des Bruxismus ansonsten keine Besonderheiten gegenüber dem ansonsten geltenden Aufklärungsmaßstab. Insbesondere sind folgende Aspekte aufklärungsbedürftig:

  • Off-Label-Use des Botulinumtoxins;

  • Beginn des Eintritts der Wirkung frühestens nach 48 bis 72 Stunden, gegebenenfalls sogar erst nach einer Woche;

  • (dauerhafte) Therapiewiederholung kann bis zu dreimal jährlich erforderlich sein;

  • ausgeprägte Atrophie des Musculus masseter mit der etwaigen Folge einer Verschmälerung des hinteren Untergesichts bis hin zur Einschränkung der Kaumuskelkraft ist möglich;

  • Risiko der Fehlinjektion beziehungsweise der Diffusion des Botulinumtoxins in angrenzende Muskeln (vor allem in die mimisch relevanten Musculi risorii et zygomatici) und die entsprechenden Folgen;

  • keine regelhafte Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkassen; vorherige Bestätigung der Kostenübernahme durch die PKV wird empfohlen; konkreter Kostenrahmen.

Diese Aufklärungserfordernisse treffen Zahnarzt, Oralchirurg und MKG-Chirurg gleichermaßen.

Ästhetische Indikation

Teilweise werden paralysierende Behandlungen des Musculus masseter aus vornehmlich ästhetischen Gründen und ohne medizinische Indikation im Sinne einer Bruxismustherapie durchgeführt. Diese erfolgen immer häufiger sogar im „to-go“-Format und sind aus (zahn)ärztlicher Sicht kritisch zu betrachten.

Die Verabreichung von Botulinumtoxin in den Musculus masseter ist nur bei korrekter Indikationsstellung medizinisch zu vertreten und gehört wegen der Notwendigkeit der Kenntnisse der Therapie der Grunderkrankung, der anatomischen Gegebenheiten und der möglichen Komplikationen (Tabelle) in erfahrene Hände.

Unabhängig davon kommt die Verabreichung von Botulinumtoxin zu rein ästhetischen Zwecken durch Zahnärzte aus Rechtsgründen nicht in Betracht, weil dies nicht durch das Zahnheilkundegesetz abgedeckt wird.

Fazit

Gerade bei therapierefraktärem Bruxismus kann die Anwendung von Botulinumtoxin einen Erfolg versprechenden Ansatz darstellen. Die Basis dieser Behandlung bilden eine gründliche Anamnese und Untersuchung sowie eine ausführliche Aufklärung. Letztere muss insbesondere die mit der Therapie einhergehenden Risiken, ihren möglichen Nutzen und die häufig von den Patienten selbst zu tragenden Kosten beinhalten.

Die paralysierende Behandlung des Musculus masseter stellt einen relevanten Eingriff in die Funktion des Kaumuskelapparats dar. Daher ist es zur Wahrung des dem Patienten geschuldeten Standards eines erfahrenen Facharztes zwingend erforderlich, dass die Indikationsstellung nur durch beziehungsweise in Abstimmung mit einem hier erfahrenen und für dieses Therapieverfahren qualifizierten Behandler erfolgt. Dies sind im Bereich der Bruxismustherapie regelmäßig Fachärzte für MKG-Chirurgie, Fachzahnärzte für Oralchirurgie oder Zahnärzte. 

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Literaturliste:

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PD Dr. med. dent. Alexander-Nicolai Zeller

Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie / Fachzahnarzt für Oralchirurgie
Kieferchirurgie Königsallee

Königsallee 68,
40212 Düsseldorf
sowie
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg Str. 1, 30625 Hannover

Prof. Dr. med. Benedicta Beck-Broichsitter

Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow KlinikumAugustenburger Platz 1, 13353 Berlin

Prof. Dr. Dr. Karsten Fehn

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Strafrecht und Justiziar der DGMKG NRW
Konrad-Adenauer-Ufer 65,
50668 Köln
www.fehn-legal.de

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