Medizinerinnen haben ein höheres Suizidrisiko als ihre Kollegen
Dass Mediziner einer größeren Gefahr ausgesetzt sind, Selbstmord zu begehen, war schon vor 120 Jahren einem Autor aufgefallen. Als Gründe nannte der nicht namentlich genannte Verfasser damals im US-amerikanischen Ärzteblatt den Wettbewerb mit Quacksalbern und religiösen Sekten, die ihnen ins Handwerk pfuschen, als auch das Überangebot an Ärzten.
Die meisten früheren Forschungen zeigen höhere Suizidraten bei männlichen und weiblichen Ärzten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, berichten die Autoren. Die bisherigen Ergebnisse von Metaanalysen zum Thema sind jedoch uneinheitlich: Die mittleren Effektschätzungen der ersten Metaanalyse 2004 zeigten eine signifikant erhöhte standardisierte Mortalitätsrate (SMR) von 1,41 für männliche Ärzte und 2,27 für weibliche Ärzte. Die Auswertung umfasste damals 22 Studien von 1910 bis 1998 und zeigte dabei „eine gewisse Heterogenität der Studienergebnisse“, erklären sie weiter.
Eine zweite Metaanalyse, die 2020 neun Studien mit Beobachtungszeiträumen zwischen 1980 und 2015 umfasste, stellt wiederum eine signifikant verringerte SMR von 0,68 für männliche Ärzte fest und gleichzeitig eine signifikant erhöhte SMR von 1,46 für weibliche Ärzte.
Die Dunkelziffer steigt mit dem Stigmatisierungsgrad
Für die heterogenen Resultate machen die Autoren der neuen Untersuchung sowohl methodische Unterschiede im Studiendesign, bei den Ergebnismaßen und beim Grad der Altersstandardisierung verantwortlich. Darüber hinaus wiesen einzelne Länder und Weltregionen ein unterschiedliches Maß an Stigmatisierung von Suizid im Allgemeinen und unter Ärzten im Besonderen auf, „was mit unterschiedlichen Risiken der Dunkelziffer, dem Zugang zu Unterstützungssystemen und allgemein unterschiedlichen Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen verbunden ist".
Für ihre eigene Untersuchung wählten die Forschenden um Eva Schernhammer von der Medizinischen Universität Wien Artikel, die zwischen 1960 und März 2024 erschienen sind und suchten auch nach unveröffentlichten Daten aus Quellen und Datenbanken, die in den eingeschlossenen Arbeiten aufgeführt sind. Ausgeschlossen wurden dabei Studien, die nur bestimmte Suizidmethoden bei Ärzten, nicht-tödliches Suizidverhalten oder -gedanken, psychische Gesundheit und Burn-out sowie Suizidprävention untersuchten.
Je nach Referenzgruppe sind auch Ärzte gefährdet
Überlappende Zeiträume in den gleichen geografischen Regionen wurden in den eingeschlossenen Studien vermieden, so dass jeder Tod eines Arztes durch Suizid nur einmal in das gepoolte Ergebnis eingerechnet wurde. Im Falle von Überschneidungen zählte jeweils nur die methodisch hochwertigere Studie. Am Ende gingen 39 Artikel in die Auswertung ein, von denen 38 über 3.303 Suizide bei Ärzten und 26 über 587 Suizide bei Ärztinnen berichten.
Ergebnis: Insgesamt war das Suizidrisiko bei den Ärzten nicht höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die Forschenden errechneten über alle Studien hinweg eine relative Suizidrate von 1,05 (Konfidenzintervall 95 Prozent, Spreizung 0,90 bis 1,22). Bei den Ärztinnen lag diese mit 1,76 (1,40 bis 2,21) deutlich höher. In einer sekundären Metaanalyse zeigte sich jedoch, dass die Suizidrate von Ärzten auf 1,81 (1,55 bis 2,12) anstieg, wenn als Referenzgruppe Männer in anderen Berufsgruppen mit ähnlichem sozioökonomischen Status herangezogen wurden.
Die Suizidraten gehen mindestens seit 1985 zurück
Insgesamt beobachteten die Forschenden einen Rückgang der Suizidraten im Laufe der Zeit. Bei Ärztinnen sei in allen Studien ein Rückgang der gepoolten Schätzungen zu beobachten, während bei männlichen Ärzten ein Rückgang bei Studien mit mittlerem Beobachtungszeitraum nach 1985 zu sehen ist. Bei den männlichen Ärzten lag die Rate in der Untergruppe von 32 älteren Datensätzen bei 1,17 (0,96 bis 1,41), während sie in der Untergruppe der zehn jüngsten Studien mit 0,78 (0,70 bis 0,88) signifikant verringert war. Bei Ärztinnen war die mittlere Suizidrate in der Subgruppe von 17 älteren Studien mit 2,21 (1,63 bis 3,01) hingegen signifikant erhöht. In der Untergruppe der zehn jüngsten Studien war der Effekt mit 1,24 (1,00 bis 1,55) deutlich niedriger, aber immer noch signifikant erhöht.
Die sehr heterogenen Ergebnisse deuteten darauf hin, dass das Suizidrisiko für männliche und weibliche Ärzte in verschiedenen Ärztepopulationen nicht konsistent ist, mutmaßen die Forschenden. „Daher ist die gepoolte Effektschätzung nur bedingt aussagekräftig, um das Suizidrisiko für Ärzte im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung insgesamt zu beschreiben.“
Als weitere Limitationen beschreiben die Autoren die Konzentration der Evidenz auf Europa, USA und Australasien sowie unterschiedlich große Dunkelziffern bei Suiziden. So gebe es Anhaltspunkte für eine Untererfassung von suizidbedingten Todesfällen in der Ärzteschaft im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Gleichzeitig seien trotz der großen Anzahl der eingeschlossenen Berichte mehrere geografische Regionen immer noch unterrepräsentiert, was die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse einschränke.
Suicide rates among physicians compared with the general population in studies from 20 countries: gender stratified systematic review and meta-analysisBMJ 2024; 386 doi: https://doi.org/10.1136/bmj-2023-078964 (Published 21 August 2024)