Flüchtlinge haben ähnliche Zahnprobleme wie Deutsche

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Gesellschaft
Um Menschen mit und ohne legalem Aufenthaltsstatus in Thüringen medizinische Hilfe zu vermitteln, gründeten Medizinstudierende 2011 den Verein MediNetz Jena e.V. Vereinsmitglied Robert Klunker und die Zahnärztin Dr. Kerstin Bergmann aus Rudolstadt erzählen von ihrer Arbeit, den Herausforderungen und besonderen Fällen.

Mit welchen Leiden kommen Flüchtlinge zu Ihnen?

Robert Klunker:

Prinzipiell mit allen. Papierlose kommen in der Regel zögerlicher und wenn die Erkrankung schon weiter vorangeschritten ist. Subjektiv häufig sind psychiatrische, gynäkologische und zahnärztliche Fälle.

"Eigentlich übernehmen wir Aufgaben, die der Staat tragen sollte."

Wie sieht die konkrete Arbeit aus? 

Klunker:

Die Arbeit besteht aus dem Anwerben von Ärzten, das MediNetz unter möglichen Patienten bekannt zu machen, Anfragen von Patienten entgegenzunehmen und zu vermitteln, etliche Anfragen und Projekte von kurz- oder langfristigen Kooperationspartnern zu betreuen, Debatten im Plenum und natürlich - last, but not least - aus der politischen Arbeit, um das MediNetz irgendwann überflüssig zu machen, denn eigentlich übernehmen wir Aufgaben, die der Staat tragen sollte.

Gibt es einen  Patientenfall, der Besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Klunker:

Ein papierloser Familienvater, der sich aus Angst vor der Abschiebung mit seinem immer schlimmer werdendem Husten und seinen Atemproblemen nicht getraut hat, zum Arzt zu gehen. Als das gesundheitliche Leiden irgendwann schlimmer war als die Angst vor der Abschiebung, meldete er sich bei uns. Wir haben ihn umgehend zu einer Hausärztin vermittelt. Diese diagnostizierte eine offene Tuberkulose und überwies sofort ins Krankenhaus. Dort hat man alles für den Patienten getan, er lag wochenlang auf der Intensivstation. Er erlag der Krankheit, die im Anfangsstadium, in dem jeder, der keine Angst vor Abschiebung hat, zum Arzt gegangen wäre, leicht zu behandeln gewesen wäre.

Mit welchen Zahnerkrankungen kommen Flüchtlinge zur Ihnen?

Dr. Kerstin Bergmann:

Flüchtlinge haben ähnliche Zahnprobleme wie einheimische Patienten. Manche sind vollkommen frei von Karies und haben nur Zahnfleischprobleme, besonders in der Schwangerschaft. Andere haben kariöse, und auch zerstörte Zähne. Letztere stellen - leider - weniger ein Problem dar, da unsere KZV die Abrechnung von Extraktionen mit den zugehörigen Begleitleistungen bei Asylbewerbern mit einem Aufenthaltsstatus ohne Genehmigung der Sozialämter akzeptiert.

Problematischer ist es bei kariösen Zähnen, die mit einer Füllung erhalten werden könnten, und bekanntermaßen früher oder später zu "akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen" (Zit. § 4, Abs.1 Asylbewerberleistungsgesetz) führen.

###more### ###title### "Wir hoffen auf die Einführung einer Krankenversicherungskarte für Geflüchtete!" ###title### ###more###

"Wir hoffen auf die Einführung einer Krankenversicherungskarte für Geflüchtete!"

Welche rechtlichen Bestimmungen müssen eingehalten werden?

Bergmann:

Eine Behandlung ist also "zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von ... Krankheitsfolgen ...zu gewähren" (Zit. dto.) Alle Füllungs- und Endoleistungen müssen aber vor der Behandlung von den Sozialämtern schriftlich genehmigt werden. Dazu muss der betreffende Patient  von einem angestellten Zahnarzt des Gesundheitsamts begutachtet werden, was einen erheblichen organisatorischen und bürokratischen Aufwand darstellt.

Zum Glück kümmern sich einige ehrenamtliche Helfer um diese Prozedur, und wir kommen zunehmend ins Gespräch mit den Ämtern, um die Verfahrensweise zu vereinfachen. Außerdem hoffen wir auf die Einführung einer Krankenversicherungskarte für Geflüchtete nach dem Vorbild anderer Bundesländer.

"Die Politik muss einen anonymen Krankenschein für Papierlose einführen!"

Ein ganz anderes Problem betrifft Patienten ohne offiziellen Aufenthaltsstatus, um die sich ja vor allem das MediNetz kümmert. Hier wäre ein sogenannter anonymer Krankenschein hilfreich, um einfache Leistungen wie Füllungen und so weiter abrechnen zu können. Solange es den hier nicht gibt, behandeln wir diese Patienten kostenlos. In der thüringischen Provinz, wo ich praktiziere, sind diese Fälle aber extrem selten.

Welche Forderungen stellt der Verein an die Politik?

Klunker:

Der Bund beziehungsweise der Freistaat muss die Gesundheitskarte für Asylbewerber und einen anonymen Krankenschein für Papierlose einführen. Jeder Mensch, auch unsere vier Patienten-Gruppen - Papierlose, Asylbewerber, EU-Bürger und deutsche Staatsbürger - müssen jederzeit die vollen medizinischen Leistungen empfangen können. Alles andere ist ethisch nicht vertretbar und gefährlich für die ganze Gesellschaft. Das Recht auf medizinische Versorgung ist ein Grundrecht nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von den Vereinten Nationen. 

Von welcher Seite wünschen Sie sich mehr Engagement? 

Klunker:

Zuallererst vom Bund, der jede Verantwortung in diesem Feld ignoriert. Sollte der Freistaat nicht zu seinem Wort (Koalitionsvertrag) stehen, dann auch vom Freistaat. Denn noch haben wir weder die von Rot-Rot-Grün angekündigte Gesundheitskarte noch den anonymen Krankenschein.

Was war die Initialzündung für die Gründung? 

Klunker:

Eine am Thema interessierte Ärztin (Doina Schwarzer, heute Vorstandsmitglied), die am Thema interessierten Medizinstudierenden Claudia Hölig und Benjamin Ilse (inzwischen auch Ärzte) sowie der IPPNW-Studi-Bundeskongress 2011 in Jena, auf dem das Thema der medizinischen Versorgung von Papierlosen und die Notwendigkeit eines MediNetzes in Jena beziehungsweise Thüringen erstmals ausführlich diskutiert wurde.

Was macht die Arbeit mit Flüchtlingen so besonders?

Bergmann:

Beeindruckend finde ich jedes Mal, wenn Kinder im Grundschulalter, die erst wenige Jahre in Deutschland leben, als Dolmetscher für die ganze Familie auftreten. Obwohl sie mit den inhaltlichen Fragen oft überfordert sind, meistern sie die Situation erstaunlich gut. MediNetz Jena e.V.finanziert sich durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Kooperierende Mediziner und Therapeuten diagnostizieren und behandeln ehrenamtlich.

Die Fragen stellte Daniela Goldscheck.

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