Psychosen anders heilen

Sonja Schultz
Gesellschaft
Für junge Menschen, bei denen zum ersten Mal eine schizophrene Psychose ausbricht, ist der Psychiatrieaufenthalt oft mit großer Angst, Freiheitseinschränkung und Stigmatisierung verbunden. Die "Soteria" will es anders machen.

Das Wort „Psychiatrie“ löst automatisch Assoziationen aus: klinisch weiße Flure, verschlossene Stationstüren, standardisiertes Krankenhausessen, tägliche Medikamenteneinnahme. Die Soteria in Berlin sieht anders aus. In der geräumigen Wohnküche steht ein langer Eichenholztisch, an dem viele Menschen Platz finden. Ein Wintergarten lädt mit Sitzsäcken, Kicker und Musikinstrumenten zum Entspannen ein. In Fluren und Zimmern mischen sich Grün- und Gelbtöne mit einem hellen Grau.

Das beruhigende Farbkonzept hat Architekt Jason Danziger nach Befragungen von Psychiatriepatienten und -mitarbeitern entworfen. Es riecht weder nach Desinfektionsmittel und Linoleum, noch hüllt sich das Personal in weiße Kittel. Alle Türen sind offen. Im Innenhof gibt es sogar ein eigenes Stationsbeet, in dem Schnittlauch, Zucchini oder Karotten geerntet werden können. Was optisch an eine weitläufige, modern eingerichtete Wohngemeinschaft erinnert, ist Berlins erste Soteria. Soteria, das steht im Altgriechischen für Heilung, Wohl, Rettung. 

Therapeutische Ersatzfamilie

Vor eineinhalb Jahren eröffnete das spezielle Behandlungsangebot für junge Menschen in psychotischen Krisen. Im Fokus stehen 18- bis 35-Jährige, die zum ersten Mal in eine psychotische Krise geraten oder Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis entwickeln. Junge Menschen, die Stimmen hören, sich verfolgt fühlen, starke Ängste verspüren oder unter Halluzinationen leiden. Es sind Erkrankungen, die bei Betroffenen und Angehörigen zu enormem Leiden führen und gesellschaftlich stark tabubehaftet sind. Hinzu kommt die Angst vor dem ersten Kontakt mit dem psychiatrischen Versorgungssystem. Die Besonderheit der Soteria ist jedoch: Es gibt nur zwölf Betten - und nicht wie auf herkömmlichen psychiatrischen Stationen 25 oder mehr.

Auf die Einzelschicksale kann hier besser eingegangen werden. Und die Patienten, die in der Regel für drei bis vier Monate bleiben, leben tatsächlich wie in einer Art Ersatzfamilie auf Zeit: Sie kaufen selbst ein, kochen und essen miteinander. So gibt mitten in der Krise der gemeinsame Alltag Halt. „Milieutherapie“ nennt sich dieser gemeinschaftliche Ansatz einer Orientierung an der Normalität und am „echten Leben“. Auch einfache Tätigkeiten wie Gemüse schneiden oder die Spülmaschine ausräumen, können therapeutisch wirken.

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Normalität im Ausnahmezustand

„Wir versuchen, ganz viel Normalität zu schaffen und eher das Gesunde in den Fokus zu rücken, die Ressourcen der Patienten zu fördern.“ Das erklärt Stationsleiter Götz Strauch. „Ganz entscheidend ist, den Menschen die Angst zu nehmen. Weil eine Psychose einfach Angst macht und Verwirrung stiftet. Ein großes Krankenhaus, an dem man sich vielleicht nicht wohl fühlt, weil man in der Anonymität untergeht, ist dann kein guter Platz.“

Der Krankenpfleger Götz Strauch und Oberarzt Dr. Martin Voss leiten die Berliner Soteria, die im Oktober 2013 als neues Angebot der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité auf dem Gelände des St. Hedwig-Krankenhauses eröffnete. Beide haben vorher in einer großen allgemeinpsychiatrischen Abteilung gearbeitet und litten demensprechend unter den strukturellen Zwängen, die eine Station für mindestens 25 Patienten automatisch mit sich bringt.

Je größer der Betrieb, desto straffer und hierarchischer muss er organisiert sein. Desto weniger Zeit bleibt den Mitarbeitern, auf die einzelnen Menschen und ihre individuellen Bedürfnisse einzugehen. Und desto mehr Medikamente werden eingesetzt. „Ein wesentlicher Vorteil von Soteria ist das Neuroleptika-sparende Setting“, erklärt Martin Voss. „Wenn jemand, der sich gerade in einem sehr akuten Zustand befindet, engmaschig begleitet und betreut werden kann, lässt sich dadurch vieles auffangen. Wir können auch schwierige Zustände länger mit aushalten und müssen nicht gleich mit Medikamenten abdämpfen.“ 

Nicht nur das Feuer löschen

Das heißt nicht, dass die heutige Soteria komplett auf Medikamente verzichten will. Doch angesichts der langfristig erheblichen Nebenwirkungen, auf die neue Studien immer wieder verweisen, zahlt sich die Neuroleptika-Ersparnis zum Wohle der Patienten und des Gesundheitssystems aus. Die Soteria ist dabei auch sehr von sozialpsychologischem Denken geprägt: „Es geht darum, dass man nicht nur schnell das Feuer löscht, die akute Krise mit Medikamenten behandelt und dann gleich wieder entlässt. Sondern wir denken viel über die Nachsorge der Patienten nach, über ihre zukünftige Organisation von Arbeit, Wohnen und all diesen Dingen, die im täglichen Leben dazugehören“, sagt Voss.

Dementsprechend verfügt die Einrichtung über einen ähnlichen Personalschlüssel wie andere Stationen – nur ist dieses Personal anders verteilt. „Wir setzen überproportional mehr therapeutische Dienste ein, also zum Beispiel Ergotherapie, Kunsttherapie und Sozialarbeit. Und es gibt etwas weniger Arzt.“ Die Berufsgruppen versuchen, möglichst interdisziplinär zu arbeiten. Alle sind gleichberechtigte „Milieutherapeuten“. Deshalb steht auf ihren Namensschildern auch nicht etwa „Psychologin“ oder „Krankenpfleger“, sondern schlicht der Name.

Nach ihrer Entlassung können die Patienten regelmäßig zur ambulanten Nachbetreuung erscheinen. „Im Idealfall begleiten die Mitarbeiter des Teams einen Patienten über mehrere Jahre. Wenn eine weitere Krise auftritt, kann er wieder aufgenommen werden.“ Der am jeweiligen Bedarf orientierte Wechsel zwischen konzentrierter stationärer Akutbehandlung und ambulanter Langzeitbegleitung stellt für Martin Voss das beste psychiatrische Betreuungsmodell dar. 

###more### ###title### Das Modell California: weg von Hospitalisierung ###title### ###more###

Das Modell California: weg von Hospitalisierung

Das Konzept der Soteria hat seine Wurzeln in der antipsychiatrischen Bewegung der 1970er Jahre. Geistiger Vater der Idee war der US-amerikanische Psychiater und Schizophrenie-Experte Loren Mosher. Sein Ziel war es, die Behandlung des Krankheitsbildes Schizophrenie gründlich zu verändern: weg von Hospitalisierung und massivem Neuroleptikagebrauch, hin zu einem reizgeschützten, Geborgenheit vermittelnden Behandlungsklima.

Wichtigstes Schlagwort dieses Konzeptes ist das „being with“ – das „zur Seite stehen“ und Begleiten in der Krise. Den Betroffenen wird dabei möglichst mit Respekt, Unvoreingenommenheit und Aufmerksamkeit begegnet. Ihre psychotischen Erfahrungen werden nicht als bloße Krankheit abgetan, sondern als Möglichkeit der persönlichen Selbsterfahrung und des Wachsens an der Krise.

Selbst in der Akutbehandlung kamen keine Zwangsmaßnahmen zum Einsatz. Stattdessen sollte eine ruhige Atmosphäre Menschen bei der emotionalen Entspannung helfen, deren Sinneswahrnehmungen durch die Psychose extrem sind. Zwischen den Patienten und den Behandelnden gab es wenige Hierarchien; zum Team zählten damals explizit Laien: ehrenamtliche Helfer, teils selbst Psychoseerfahrene, die mit großem Engagement in 24- oder sogar 48-Stunden-Schichten arbeiteten. 

Der Weg nach Europa

Die von Mosher ins Leben gerufene Ur-Soteria nahm 1971 in Kalifornien ihre Arbeit auf. Sie existierte bis 1983. Ein Jahr später trug Luc Ciompi, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, die Idee seines Kollegen und Freundes Mosher nach Europa und gründete die Soteria Bern. Ciompi bezeichnete sich bereits nicht mehr als antipsychiatrisch, wie es Loren Mosher getan hatte. Anstelle einer Gegenposition zur herkömmlichen Psychiatrie strebte er eine möglichst gute Integration des Soteria-Ansatzes in die bereits vorhandenen Versorgungsstrukturen an.

Neben Bern gibt es inzwischen fünf deutsche Soteria-Einrichtungen, unter anderem in München und Zwiefalten. Als jüngste kam die Soteria Berlin hinzu. Seit 1997 ermöglicht die „Internationale Arbeitsgemeinschaft Soteria“ einen Zusammenschluss der Häuser, um den Erfahrungsaustausch zu verbessern und die Soteria-Idee in Europa zu stärken. Inzwischen gibt es auch weitere Stationen, die einzelne Soteria-Elemente in ihre Arbeit integriert haben.

Von der Psychiatrie-kritischen Betroffenenbewegung und von Patientenseite gäbe es generell Bedarf für mehr offene Stationen, die wie therapeutische Wohngemeinschaften organisiert sind. Die Soteria Berlin bekommt täglich Anfragen, teils sogar aus dem gesamten Bundesgebiet. Dabei kann sie im Rahmen der Pflichtversorgung ausschließlich Menschen aus den Berliner Bezirken Wedding, Mitte, Tiergarten und Moabit aufnehmen. Und das Modell eignet sich auch nicht für alle Erkrankten, was Götz Strauch hervorhebt: „Es gibt Patienten, die wir aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung bei uns nicht behandeln könnten. Sie würden den Aufenthalt abbrechen, weil ihnen die notwendige Einsicht und Motivation fehlt.“

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Unkonventioneller Ansatz mit Weiterempfehlung

Nach über 40 Jahren ist der Soteria-Ansatz inzwischen recht gut erforscht, vor allem die Wirksamkeit des medikamentensparenden Effekts ist belegt. Gegner des Modells sind letztlich nur jene, die schizophrene Psychosen als rein genetisch bedingte Hirnfunktionsstörungen begreifen. Bei bloßen Stoffwechselproblemen im Gehirn bräuchte es allein eine medikamentöse Behandlung zur Symptomunterdrückung, keine Gespräche, kein biografisches Verstehenwollen der Krise.

Doch mittlerweile haben diverse empirische Studien gezeigt, dass die Soteria-Behandlung ebenso gut wirkt wie ein herkömmliches psychiatrisches Setting. In Bezug auf Neuroleptika-Verbrauch, medikamentöse Nebenwirkungen, subjektives Erleben, soziale Stigmatisierung und langfristige Persönlichkeitsentwicklung sei sie der Mainstream-Psychiatrie „möglicherweise überlegen“ - so formuliert es Luc Ciompi vorsichtig in der Publikation „Wie wirkt Soteria? Eine atypische Psychosenbehandlung kritisch durchleuchtet“.

Emotionale Faktoren spielen in Pathogenese und Verlauf der Erkrankung eine große Rolle. Dass eine Reduktion des emotionalen Spannungspegels durch aufmerksam zugewandte Mileutherapeuten, freundliche Raumgestaltung und ein übersichtliches, familienartiges Setting den Krankheits- und Heilungsverlauf beeinflussen, ist allerdings nicht verwunderlich. „Die meisten unserer Patienten sagen, sie würden wieder kommen, wenn es ihnen schlecht geht und uns sogar weiterempfehlen“, berichtet Götz Strauch von der Soteria Berlin. 

"Zwölf Betten sind ein gewisser Luxus"

Was spricht also gegen weitere Soteria-Einrichtungen in Deutschland? Martin Voss: „Die wesentliche Angst lautet, dass es nicht wirtschaftlich ist. Und wenn man ehrlich ist, dann lässt sich eine große Station bei Betriebskosten und ähnlichem auch wirtschaftlicher organisieren. Nur zwölf Betten zu haben, ist ein gewisser Luxus.“ Doch Götz Strauch ergänzt: „Unsere Hoffnung ist allerdings zu belegen, dass eine kleine Station für den langfristigen Verlauf einer Erkrankung sehr viel besser geeignet ist.“

Das betrifft nicht nur das Einsparen von Neuroleptika und ihrer Nebenwirkungen und somit Folgekosten. „Wenn man die Erkrankung einmal richtig behandelt, wird es danach günstiger, weil der Patient später nicht mehr so häufig stationäre Behandlung braucht. Mein Wunsch wäre allerdings, dass verstanden wird, dass die adäquate Behandlung einer akuten Psychose nun einmal sehr personalintensiv und damit teuer ist“, betont Strauch. „Genau wie die Behandlung einer schweren körperlichen Erkrankung viel Geld kostet.“

Nach eineinhalb Jahren Soteria Berlin ziehen Voss und Strauch eine positive Bilanz. „Ich kann mir nur noch schwer vorstellen, anders zu arbeiten“, erklärt Martin Voss. „Ich denke, es gibt eine überdurchschnittlich hohe Zufriedenheit bei den Mitarbeitern. Und das ist in der Psychiatrie alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Auch wenn es eine Binsenweisheit ist, kann man davon ausgehen, dass es den Patienten besser geht, wenn es den Mitarbeitern gut geht.“ Götz Strauch sieht es ähnlich: „Es kann durchaus sehr anstrengend sein, Menschen mit Psychosen lange so nah zu begleiten. Aber es fühlt sich gut und richtig an, und das Feedback der Patienten bestätigt uns.“

Sonja Schultzwww.soteria-berlin.dewww.soteria-netzwerk.deArchitekt Jason Danzigerwww.thinkbuild.com 

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