Medizin

Auch von dieser Welt

ck/dpa
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Sie können nicht sagen, was sie denken oder fühlen: Viele Menschen können nicht sprechen, weil sie von Geburt an behindert sind oder nach einem Schlaganfall die Sprache verlieren. Zum Beispiel August.

In manchen Dingen ist August ein Junge wie jeder andere in seinem Alter. Der Neunjährige ist groß, blond, lacht viel, isst mit Vorliebe Milchreis und Eierkuchen und hört statt Kinderliedern inzwischen lieber Popmusik, Adele zum Beispiel.

Aber der junge Dresdner ist eben auch ganz anders als Gleichaltrige. Er kam als Tetraspastiker auf die Welt, kann Arme und Beine nicht richtig bewegen, weder laufen noch sitzen und braucht einen Rollstuhl. "August hatte eine schwierige Geburt, er kam mit einem Notkaiserschnitt auf die Welt und musste sofort auf die Intensivstation", schildert Mutter Katja das Schicksal ihres Kindes und der ganzen Familie. 

Nur Ja und Nein

Augusts Wortschatz beschränkt sich momentan auf Ja und Nein. Zustimmung und Ablehnung kann er zwar auch mit den Augen ausdrücken. Aber alles muss hart trainiert werden. Seine Mutter weiß, dass zwischen den intellektuellen Fähigkeiten ihres Sohnes und seinem körperlichen Zustand eine große Kluft herrscht.

Kein Fan von Justin Bieber

Denn der Neunjährige verfolgt die Welt trotz seiner Behinderung mit wachen Blicken, hört ausgezeichnet und erkennt auch Situationen und Orte schnell wieder - schneller als so mancher in seiner Familie. Dass August Musik von Justin Bieber so gar nicht mag und das auch ausdrückt, bringt seine Mutter, eine Musiklehrerin, zum Lachen. 

Die Familie mit Vater, Mutter und vier Jungen hat sich in dem neuen Leben eingerichtet und versucht mit ganzheitlichen Therapien, Augusts Zustand zu verbessern. Die beiden größeren Brüder Moritz und Edgar singen im Dresdner Kreuzchor, manchmal nehmen sie August zum Konzert mit. Der vierjährige Karl-Theodor komplettiert das Quartett.

Wie eine Black Box

Die Mutter weiß, dass August wahrscheinlich nie laufen wird. Sorge bereitet ihr mehr der Umstand, dass die Diskrepanz zwischen geistigem und körperlichem Vermögen wächst. "Er wird dadurch immer unausgeglichener. Wenn wir nicht verstehen, was er möchte, ist er traurig, manchmal auch verstört und aggressiv."  "August ist für uns manchmal wie eine "BlackBox" - wir wissen nicht, was in ihm vorgeht, was er möchte, was er wirklich weiß und kann", beschreibt Vater Michael die Situation.

Oft sei es schwierig herauszubekommen, was der Junge wolle. Das führe zu Stress und Frustration. "Wir haben schon ein hohes Maß an Verstehen und Fragetechniken erlangt, können durch Eingrenzen schneller zum Punkt kommen - aber oft landen wir immer wieder bei den gleichen Sachen."

Michael weiß oft  nicht, ob die Familie nun Augusts Wünsche wirklich herausgefunden hat, oder ob er sich nach langer Fragerei mit einer Notlösung zufrieden gab und deshalb zustimmte. Katja spricht davon, dass Kinder wie August aus ihrem inneren Gefängnis heraus müssen. "Es ist eine große Erlösung, wenn sie jemand versteht."

UK ist der Schlüssel

Den Schlüssel dazu bietet ein Begriffspaar, in das Betroffene, Angehörige, Therapeuten und Lehrer viele Hoffnungen setzen: Unterstützte Kommunikation (UK). Augusts Familie versucht mit Gleichgesinnten, ein noch lose geknüpftes Netzwerk in Sachsen zu stärken. International kümmert sich eine Organisation namens Isaac darum - die International Society for Augmentative and Alternative Communication. Die Gesellschaft mit Sitz in Toronto (Kanada) hat derzeit nach eigenen Angaben rund 3.600 Mitglieder in 63 Ländern. 

Experten sehen in der Unterstützten Kommunikation den einzigen Weg, Betroffenen den Weg in den Alltag zu erleichtern. Dazu ist nicht unbedingt Hightech erforderlich. Auch wenn Geräte heute schon über "Augensteuerung" laufen: Eine Kamera scannt das Blickfeld des Patienten und liest ihm in gewissem Sinne jeden Wunsch von den Augen ab.

Augen öffnen Fenster auf dem PC

Wenn August Hausaufgaben für die Schule macht, kann er mit den Augen auf dem Computer kleine Fenster öffnen, die ihm den Weg zu einzelnen Fächern öffnen. Für andere reichen auch Fotos oder Tafeln mit Symbolen. "Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt", erklärt Uwe Billerbeck, der Isaac momentan in Sachsen verankern will. 

Einfühlen ist wichtig

Billerbeck hält vor allem eines für wichtig: Einfühlungsvermögen. Denn trotz aller Hilfsmittel bleiben die kleinen oder großen Patienten auf Assistenten angewiesen, seien es nun technische Geräte oder Menschen. Billerbeck ist Lehrer an einer Schule der Diakonie und zugleich Berater für Betroffene und deren Angehörige. "Da fehlt noch immer eine Lobby", sagt er und schlägt einheitliche Standards für die Ausbildung von Kommunikationspädagogen vor. Bislang kann man das nur in Köln und Freiburg studieren. Anderswo gibt es die Ausbildung zum UK-Coach. 

In der Spur

"Jetzt sind wir in einer Spur", sagt Katja und berichtet mit Stolz davon, wie sehr die Schule August motiviert. Erstmals habe er nun Erfolgserlebnisse. Die Mutter wünscht sich, dass Betroffene in der Gesellschaft noch mehr Gehör und Akzeptanz finden. "Die meisten Mitmenschen sind verunsichert, wenn sie einen Behinderten sehen, sie trauen sich nicht, ihm die Hand zu geben", schildert sie Erfahrungen.

Wenn Kinder oder Erwachsene schwer körperlich beeinträchtigt seien, würden manche zugleich auf eine geistige Behinderung schließen. "Das ist aber meist gar nicht so. Sie verstehen oftmals mehr, als wir uns vorstellen können." 

Unlängst hat  Michael einen jungen Spastiker im Rollstuhl getroffen, der inzwischen sogar eine eigene Homepage (www.schreibspecht.de) betreibt und dort ein Tagebuch führt. "Ich heiße Christoph und ich wohne in Dresden. Wegen meiner Behinderung schreibe ich mit einem Stab, der an einem Fahrradhelm angebracht ist. Das Schreiben macht mir sehr viel Spaß, ich habe mit meinen Texten schon viele Ordner gefüllt", schreibt der junge Mann.

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