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Bessere Ärzte, bessere Medizin

sf/pm
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Gesundheit ist vor allem ein Bildungsproblem. Das ist die These des Buchs "Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin" von Gerd Gigerenzer und Sir Muir Gray.

Steigende Lebenserwartung, Überalterung der Gesellschaft, überschuldete Staatshaushalte, leere Versorgungskassen: Der demografische Wandel und die Finanzkrise scheinen uns im 21. Jahrhundert vor schier unlösbare Probleme zu stellen. Von größter Relevanz ist dabei die Frage nach einer medizinischen Versorgung, die diesen Herausforderungen gerecht wird: Wie bewerkstelligen wir den Aufbruch in ein transparentes, effizientes, kostensparendes Gesundheitswesen? Darüber diskutierten die Mediziner Gerd Gigerenzer ,Günther Jonitz, Wolf-Dieter Ludwig und Andrea Siebenhofer-Kroitzsch im Rahmen der Buchvorstellung "Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin“ in der Berliner Max Planck Science Gallery.

Es begann im 19 Jahrhundert

Ihre These:  Die Professionalisierung der modernen Medizin begann im 19. Jahrhundert: Sauberes Wasser, mehr Hygiene und eine bessere Ernährung hoben den Gesundheitszustand der Einwohner in den Industriestaaten an, und gesundheitsgefährdende Medikationen wie exzessive Aderlässe wurden abgeschafft.

Nach dieser ersten Revolution des Gesundheitswesens folgte demnach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die nächste, die enorme wissenschaftliche Fortschritte und den Aufbau eines mächtigen medizinischen Versorgungsmanagements mit sich brachte und die Krankenversorgung erheblich erweiterte.

Der Aufruf zur dritten Revolution

Nach diesen zwei weitreichenden Umwälzungen des Gesundheitswesens, die uns ins Zeitalter der Ärzte, Kliniken und der Industrie katapultiert haben, bedürfe es nun einer dritten Revolution, denn trotz immenser Fortschritte habe das 20. Jahrhundert uninformierte Ärzte und Patienten hinterlassen.

Die Experten stellten eine repräsentative Studie vor, in der mehr als 10.000 Frauen und Männer aus neun europäischen Ländern befragt wurden, darunter auch Deutschland. Sie ergab, dass 89 Prozent der Männer und 92 Prozent der Frauen den Nutzen von PSA- beziehungsweise Mammografie-Tests in der Krebsfrüherkennung um ein Zehn- oder Hundertfaches überschätzen oder gar nichts darüber wissen: "Hierzulande sind es sogar 94 Prozent der Männer und 98 Prozent der Frauen, die derart im Dunkeln tappen."

Einer anderen Studie zufolge werden in den USA wiederum jedes Jahr eine Million Kinder unnötigen Computertomografien ausgesetzt. Diese überflüssigen Untersuchungen seien nicht nur eine Geldverschwendung, sondern sie richteten auch erheblichen Schaden an: Die etwa 70 Millionen Computertomografien, die jährlich in den USA durchgeführt werden, hätten aufgrund der hohen Strahlenbelastung schätzungsweise 29.000 Krebserkrankungen zur Folge.

Sieben Sünden

"Patienten gelten als das Problem der High-Tech-Gesundheitsversorgung: Sie sind ein unwissendes, ängstliches Volk mit ungesunden Lebensgewohnheiten und wenig Kooperationsbereitschaft“, beschrieb Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Direktor des Harding Center für Risikokompetenz, gängige Vorurteile, die er und die beteiligten Autoren auch in ihrem Buch aufzeigen. Dabei liege das eigentliche Problem in einer mangelnden Gesundheitsbildung auf beiden Seiten der Praxisschreibtische.

"Eine effiziente Gesundheitsversorgung braucht gut informierte Ärzte und gut informierte Patienten. Das Gesundheitssystem, das uns das 20. Jahrhundert hinterlassen hat, erfüllt beide Bedürfnisse nicht“, sagte er. Sieben Sünden seien dafür verantwortlich:

profitorientierte Forschungsfinanzierung

irreführende Berichterstattung in medizinischen Fachzeitschriften

in Patientenbroschüren

und in den Medien

kommerzielle Interessenskonflikte

eine defensive Medizin

und mangelndes Verständnis der Ärzte von statistischer Evidenz

Finanzkrisen und Geldknappheit

Finanzkrisen und Geldknappheit sind nach Auffassung der Fachleute aber kein zwingender Hemmschuh in der medizinischen Versorgung, sondern können im Gegenteil sogar den Anstoß zu einer Revolution des Gesundheitswesens geben, wie die Autoren sie einfordern.

So entsprechen die Gesundheitsausgaben in Deutschland nach aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamts 11,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - das sind rund 287 Milliarden Euro, wovon so gut wie nichts für die Patienteninformation, unabhängige Fortbildungen für Ärzte oder für die Statistikkompetenz eines jeden Bürgers aufgewendet werde.

"Gesundheitsbildung“, so Gigerenzer, "bedeutet, vorhandene Ressourcen verstärkt in Menschen und ihr Wissen zu investieren und nicht allein in Technologie, Medikamente und den Versorgungsapparat".

Günther Jonitz, Facharzt für Chirurgie und Präsident der Ärztekammer Berlin, bewertete in diesem Zusammenhang insbesondere die Kommunikation der Pharmaindustrie als zu einseitig: "Eine saubere Informationsbasis ist das A und O für ärztliche Entscheidungen. Deshalb brauchen wir die unabhängigen Fortbildungen der Ärztekammern, die sich auf Fragen zur Bewertung von Studienergebnissen und Statistiken richten.“

Ein durch bessere Methodenkompetenz erarbeitetes Wissen bei Ärzten forderte Andrea Siebenhofer-Kroitzsch, Professorin für chronische Krankheit und Versorgungsforschung am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main: "Ob ein neues gewinnversprechendes Medikament empfohlen wird oder nicht, hängt stark von dem Medium ab, in dem es vorgestellt wird.“

Der Preis der Wahrheit

Probleme in der Aufklärung von Patienten über Nutzen und Risiken der von einigen Experten heute bereits als Paradigmenwechsel apostrophierten personalisierten Medizin beschrieb Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie am Helios Klinikum Berlin-Buch: "Patienten werden häufig im Internet mit unseriösen Angeboten konfrontiert, wie etwa Gentests zur Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Erkrankungen.

Ludwig: "Ohne Behebung ihres Wissensmangels, vor allem in der Epidemiologie, Statistik und medizinischen Genetik, werden Ärzte jedoch Patienten nicht adäquat beraten können über den sinnvollen Einsatz der personalisierten Medizin - beispielsweise zur Vorhersage, Therapie und Nachsorge in der Onkologie.“

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