Studie

Gewalt gegen Ärzte

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Zunehmende Verrohung und Gewaltbereitschaft: von 831 Hausärzten waren 73 Prozent innerhalb eines Jahres mit aggressivem Verhalten von Patienten konfrontiert. Erstmals gibt eine bundesweite Befragung Auskunft.

Polizei, Lehrer und Behörden sprechen schon seit einiger Zeit von einer Verrohung und Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft und aus internationalen Studien geht ebenfalls hervor, dass auch Ärzte und Praxisteam, die in der primärärztlichen Versorgung tätig sind, zunehmend von verbalen und körperlichen Angriffen betroffen sind - für Deutschland fehlte bisher jedoch eine systematische Untersuchung. 

Eine bundesweite Befragung, veröffentlicht als Originalarbeit im Deutschen Ärzteblatt, liefert nun erstmals Ergebnisse zur Häufigkeit und Ausprägung aggressiven Verhaltens gegenüber Hausärzten in Deutschland. Ziel der Untersuchung war es,

  • das allgemeine Sicherheitsgefühl von Allgemeinmedizinern und praktischen Ärzten in der Praxis, auf Haus-, Heimbesuch und im Bereitschaftsdienst (Praxis und Hausbesuch) zu erfassen

  • den Anteil von Allgemeinmedizinern und praktischen Ärzten, die jemals in ihrer professionellen Tätigkeit verschiedene aggressive Verhaltensweisen in Praxisräumen, bei Haus-, Heimbesuchen und im Bereitschaftsdienst (Praxis und Hausbesuch) erlebt haben, und die Häufigkeit solcher Vorfälle in den letzten 12 Monaten vor der Befragung zu ermitteln

  • den schwerwiegendsten aggressiven Vorfall des jeweiligen Befragten mit Erfassung der Tatumstände, von Merkmalen des Täters und der Tatfolgen zu dokumentieren.

Methode und Fragestellung

Die Studie war angelegt als einmalige postalische Befragung einer Zufallsstichprobe von 1.500 Allgemeinmedizinern und praktischen Ärzten mit anonymisierter Auswertung. Die Grundgesamtheit umfasste alle in Deutschland zum Erhebungszeitpunkt im Oktober 2013 niedergelassen tätigen Fachärzte für Allgemeinmedizin und praktische Ärzte.

Die Befragung wurde durch die Ethikkommission der Fakultät für Medizin der Technischen Universität München geprüft. Der vierseitige Fragebogen umfasst sechs Abschnitte: In Abschnitt 1 wurde nach dem allgemeinen Sicherheitsgefühl in der Praxis, auf Haus-, Heimbesuch und im Bereitschaftsdienst (Praxis und Hausbesuch) gefragt.

In Abschnitt 2 wurde gefragt, ob definierte Formen von Aggression jemals, in den letzten 12 Monaten und, wenn ja, wie häufig in den letzten 12 Monaten in den Praxisräumen erlebt wurden:

  • Beleidigung/Beschimpfung [leichte Aggressionsform]

  • Bedrohung/Einschüchterung [mittelschwere Aggressionsform]

  • leichte körperliche Gewalt (Schubsen, Bedrängen, Festhalten) [mittelschwere Aggressionsform]

  • ausgeprägte körperliche Gewalt (Beißen, Schlagen, Treten, Würgen) [schwere Aggressionsform]

  • Bedrohung mit Gegenstand oder Waffe [schwere Aggressionsform]

  • Angriff mit Gegenstand oder Waffe [schwere Aggressionsform]

  • sexuelle Belästigung (anzügliche Bemerkungen und Gesten; Grapschen außer Brüste und Genitalien) [mittelschwere Aggressionsform]

  • sexueller Missbrauch (Grapschen von Brüsten und Genitalien; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) [schwere Aggressionsform]

  • Sachbeschädigung/Diebstahl [mittelschwere Aggressionsform].

In Abschnitt 3 wurden die gleichen Fragen wie in Abschnitt 2 in Bezug auf Haus-, Heimbesuch und Bereitschaftsdienst (Praxis und Hausbesuch) gestellt. In Abschnitt 4 wurden Rufschädigung, Verleumdung, falsche Aussagen auf Ärzteportalen im Internet und Stalking erfragt. In Abschnitt 5 wurden die Ärzte gebeten, nähere Angaben zu dem Vorfall zu machen, den sie selbst als den gravierendsten in ihrer ärztlichen Laufbahn empfanden. Neben einer Freitextschilderung des Vorfalls wurden hier Informationen zum Täter, zu Angstniveau, Ort, Zeit und Konsequenzen des Vorfalls erhoben. In Abschnitt 6 wurden Fragen zur Person und Praxis gestellt.

Von 1.500 Aussendungen waren 1.408 Ärzte erfolgreich angeschrieben worden. 835 Studienteilnehmer sendeten ausgefüllte Fragebögen zurück. Da protokollgemäß bei der Analyse das Geschlecht mitberücksichtigt wurde, mussten vier Fragebögen ohne Geschlechtsangabe aus der Auswertung ausgeschlossen werden. Somit beruhen die folgenden Ergebnisse auf den Angaben von 831 Teilnehmern - dies entspricht 59 Prozent der erfolgreich angeschriebenen Ärzte.

40 Prozent der Antwortenden waren Ärztinnen, 60 Prozent Ärzte. Ärztinnen waren im Mittel seit 19 Jahren hausärztlich tätig, Ärzte seit 22 Jahren. Ärztinnen waren etwas häufiger in Großstädten tätig und führten im Mittel weniger Hausbesuche durch als ihre männlichen Kollegen.

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Aus den Ergebnissen geht hervor, dass beinahe jeder Befragte in seiner Laufbahn bereits Erfahrungen mit Aggression in irgendeiner Form gemacht. In den 12 Monaten vor der Befragung war mehr als die Hälfte der befragten Ärzte leichter oder mittelstarker Aggression ausgesetzt. Mehr als jeder zehnte Hausarzt war in diesem Zeitraum mit schwerer Aggression oder Gewalt konfrontiert. Während das allgemeine Sicherheitsgefühl in der Praxis hoch war, fühlten sich nur eine von drei Ärztinnen bei Besuchen im Bereitschaftsdienst sicher.

Diskussion

Bisher lagen für Deutschland im präklinischen Bereich nur Daten zu Aggression und Gewalt gegen Rettungskräfte in Nordrhein-Westfalen vor [Schmidt J, Feltes T, 2014]. In den vergangenen 12 Monaten vor der Befragung hatten dort fast alle Teilnehmer verbale Gewalt erlebt (98 Prozent) und mehr als die Hälfte (59 Prozent) mindestens einen gewalttätigen Übergriff. Ein Vergleich des Rettungsdienstes mit der hausärztlichen Tätigkeit ist aber sicherlich nur sehr eingeschränkt (eventuell bei Besuchen im Bereitschaftsdienst) sinnvoll. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen liegt die Jahresprävalenz für nichttätliche und tätliche Aggression gegen Hausärzte niedriger als bei Polizeibeamten (80 Prozent/54 Prozent) [NRW-Studie Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte - Abschlussbericht 2013], aber deutlich höher als bei Lehrern (47 Prozent/2 Prozent) [Bauer J et al., 2007].

Die Zahlen der vorliegenden Befragung liegen bezüglich erlebter Aggression in etwa im Bereich der Ergebnisse anderer, internationaler Studien. Aufgrund teilweise sehr unterschiedlicher Gesundheits- und Primärarztsysteme sowie Erhebungsmethoden sollten Vergleiche hier jedoch mit entsprechender Zurückhaltung gezogen werden.

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Bei der Interpretation der Häufigkeit nach Tätigkeitsort ist zu berücksichtigen, dass Ärzte in ihrer Praxis deutlich mehr Zeit verbringen als zum Beispiel bei Hausbesuchen im Bereitschaftsdienst. Geht man davon aus, dass das befragte Kollektiv circa ein Zehntel seiner Arbeitszeit im Bereitschaftsdienst verbracht hat, sind aggressive Vorkommnisse dort jedoch relativ gesehen am häufigsten.

Die Verknüpfung des Ergebnisses, dass schwere Aggressionsformen im Bereitschaftsdienst (Hausbesuch) relativ häufiger vorkommen mit den Schilderungen eines schlechten Sicherheitsgefühls (vor allem der befragten Ärztinnen), zeigt, dass hier ein besonderer Problembereich in der hausärztlichen Tätigkeit liegt.

Fazit

Hausärztinnen und -ärzte in Deutschland sollten sich darauf vorbereiten, dass sie im Verlauf ihrer Tätigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit Formen von Aggression gegenüber stehen werden. Während zum Beispiel in Australien bereits 2009 ein Sicherheitsprogramm für Allgemeinärzte (General Practice – a safe place) durch das Royal Australien College of General Practitioners (RACGP) eingeführt wurde, scheint die Problematik in Deutschland bislang in der (Fach)-Öffentlichkeit eher nicht wahrgenommen zu werden.

Aufgrund der erhobenen Daten erscheint es jedoch angebracht, das Thema in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung zu implementieren und Konzepte zum professionellen Umgang mit Aggression zu finden. Die in weiten Teilen Deutschlands übliche Praxis, Ärztinnen und Ärzte im Bereitschaftsdienst alleine und ohne jegliche Sicherheitsstruktur (zum Beispiel Rückmeldesysteme nach erfolgtem Besuch, Diensttelefone mit Alarmfunktion) zu meist unbekannten Patienten zu schicken, sollte aufgrund der vorliegenden Ergebnisse kritisch hinterfragt werden.

Der Einsatz von medizinisch geschulten Fahrern, die auch die Besuche begleiten, erscheint aus sicherheitstechnischer Sicht sinnvoll, scheitert jedoch oft an der Finanzierbarkeit. Gerade auch im Hinblick auf den hohen Anteil von Ärztinnen im hausärztlichen Nachwuchs müssen hier Lösungen gefunden werden, die eine verbesserte Sicherheit für die eingesetzten Medizinerinnen und Mediziner garantieren. Darüber hinaus ist eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema wünschenswert, um zum Beispiel Auslöser von Aggression im hausärztlichen Behandlungskontext zu erforschen.

Quelle: Vorderwülbecke F, Feistle M, Mehring M, Schneider A, Linde K: Aggression and violence against primary care physicians—a nationwide questionnaire survey. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 159–65. DOI: 10.3238/arztebl.2015.0159

Die vollständige Studie finden Siehier.

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