Leserbriefe

Leitlinie Fissurenversiegelung: "Wo ist der Erfolg?"

Dr. medic-stom/RU Martin F. H. K. Klehmet,
Nachrichten
Die Fissurenversiegelung kann trotz der S3-Leitlinie durchaus kritisch gesehen werden, schreibt Dr. medic-stom/RU Martin F. H. K. Klehmet - und benennt, wo seiner Meinung nach deren Schwachpunkte liegen.

Zum Beitrag:„S3-Leitlinie „Fissuren- und Grübchenversiegelung: Präventiv verschließen“, zm 11/2017, S. 5

Die Fissurenversiegelung kann trotz der S3-Leitlinie durchaus kritisch gesehen werden, weil sie mehrere Schwachpunkte beinhaltet, die die Nachhaltigkeit dieser als Vorsorgemaßname „verkauften“ Technik doch sehr in Frage stellen.

Schmelzprismen finden sich niemals in konkaver Anordnung; d. h. in den Fissuren treffen wir nicht auf eine homogene Gewebestruktur, sondern auf das Aufeinandertreffen zweier tissulärer Schichten ohne hermetischen, bakteriensicheren Verschluss. Diese Diskontinuität ist für Mikroorganismen (siehe Fissurenkaries) zugänglich, aber eben nicht für Desinfektionsmaßnahmen geschweige denn eine Sterilisation (im Mund nicht möglich). Die Desinfektion kann also nur als oberflächlich und nicht in die Tiefe der Fissur gehend bezeichnet werden. Damit muss die Idee der Fissurenversiegelung bei genauerer Betrachtung von vornherein zumindest als zweifelhaft apostrophiert werden.

Karieserreger wie Streptococcus mutans, Streptococcus salivarius und Streptococcus sobrinus gehören zu den anaeroben Spezies, d. h. sie können ihre Kariogenität nach Eindringen in die Fissur auch unter luftdichtem Verschluss (Fissurenversiegelung) beibehalten.

Karies – ob im Frühstadium oder nicht – ist durchsetzt von Karieskeimen. Dieses mikrobiologisch infiltrierte Zersetzungsgewebe (so muss es histologisch benannt werden) vollständig zu desinfizieren, wird ein ewiger Traum der Fissurenversiegler bleiben. Insofern ist die in der S3-Leitlinie genannte Indikation bei „Fissuren und Grübchen mit nicht kavitierten kariösen Läsionen unabhängig von der Kariesrisikoeinschätzung“ absolut unverständlich, denn Karies ist Karies, ob kavitiert oder nicht.

Inzipiente Kariesläsionen sind radiologisch nicht erkennbar, deshalb kann die in der Leitlinie empfohlene Radiologie für die Indikation oder Nicht-Indikation einer Fissurenversiegelung nur ein Theoretikum sein, denn sie ist für eine beginnende Dentinkaries als Kontraindikation kein sicheres Diagnostikum. Existiert aber eine beginnende Dentinkaries, die radiologisch noch nicht erscheint, ist eine Fissurenversiegelung als noziv zu beurteilen.

Welche Logik liegt bei folgender Indikation vor? „Kariesfreie Fissuren und Grübchen mit einem anatomisch kariesanfälligen Fissurenrelief unabhängig von der Kariesrisiko-Einschätzung“ – Ist die kariesanfällige Anatomie nicht integraler Bestandteil des Kariesrisikos?

Für eine Versiegelung muss der Zahnschmelz angeätzt werden. Die äußere, aprismatische Schmelzschicht wird damit entfernt. Fragen schließen sich hier an: Wodurch wird garantiert, dass die angeätzte Schmelzschicht wirklich genau von der Versiegelung bedeckt wird? Wodurch wird erreicht, dass bei der Versiegelung nicht auch ungeätzte Regionen vom Versiegelungsmaterial erreicht werden? Das führt dann zur Diskontinuität des Haftverbunds (mangelnde Retention) mit einem dann sogar gesteigerten Kariesrisiko wegen der so entstehenden Spaltretention. Was passiert mit den angeätzten und somit der äußeren, aprismatischen Schmelz-(Schutz-)Schicht ledigen Partien nach Verschwinden oder Entfernen der Versiegelung im Erwachsenenalter? Bürgt eine solche Therapie für therapeutische Nach‧haltigkeit? Ist Fluor wirklich der zahnmedizinische Stein der Weisen? Diese Frage stellt sich auch bei der anhaltenden Fluor-Kritik von Seiten der Kinderärzte. Können wir Zahnärzte systemische Phänomene wirklich besser beurteilen als Allgemeinmediziner oder Pädiater?

Entscheidend scheint doch die Bewährung der Fissurenversiegelung in der Praxis zu sein. In meiner Praxis sind 80 bis 90 Prozent aller Fremdversiegelungen (ich selbst lehne Fissurenversiegelungen ab) kariös. Im Kasten auf S. 54 „Kariesverbreitung und Nutzung der Versiegelung“ führen die Autoren u. a. aus: „Wurde das Retentionsverhalten mit berücksichtigt, so war ein Großteil der Versiegelungen oft nur partiell intakt.“ Bei diesem Befund fragt man sich nach dem Sinn aller Theorie.

Leitlinien könnten durchaus eine Hilfe für die tägliche Praxis darstellen, wirken aber oft einschränkend im Sinne einer eigentlich zu fordernden Therapiefreiheit für Therapeut und Patient. Sie sollten aber wenigstens frei von Widersprüchlichkeiten sein und mehr einer medizinischen Logik folgen anstatt einer vorsortierten, nicht selten von wirtschaftlichen Interessen (Fissurenversiegelung ist Privatleistung) geleiteten Studienlage.

S3-Leitlinie heißt, sie „hat alle Elemente einer systematischen Entwicklung durchlaufen (Logik, Entscheidungs- und Outcome-Analyse, Bewertung der klinischen Relevanz wissenschaftlicher Studien und regelmäßige Überprüfung“ [Quelle: Wikipedia]. Kann unter diesen Kautelen (Kautel = medizinische Vorsichtsmaßregel) die Behauptung, dass es sich um eine S3-Leitlinie handelt aufrechterhalten werden?

Dr. medic-stom/RU Martin F. H. K. Klehmet,ZahnMedizin – Stomatologie – UmweltZahnMedizin,Bremen

Melden Sie sich hier zum zm Online-Newsletter an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Online-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm starter-Newsletter und zm Heft-Newsletter.