Leserbrief zur klinisch-ethischen Falldiskussion

"Notfälle" sind oft ethische Nötigung des Zahnarztes

Dr. Jens Wilhelms
Nachrichten
Der geschilderte Fall ist doch eigentlich recht praxisfremd. Gemeinhin behandelt man in der Praxis gerade einen Patienten, hat zuvor einen verabschiedet und der Nächste wartet bereits. Der sogenannte „Notfall“ passt da selten zwischen.

Leserbrief zum Beitrag:„Die klinisch-ethische Falldiskussion: Wen behandle ich zuerst?“, zm 15–16/2017, S. 18–21.

Darüber hinaus ist der Begriff „zahnärztlicher Notfall“ wenig definiert. Wie im vorliegenden Fall wird die Interpretation des Patienten meist übernommen. Der Zustand „Schmerz“ bzw. dessen Intensität ist nicht objektivierbar. Es gibt ein großes Klientel, das sich mit der Begründung Not- oder Schmerzfall kurzfristig, also unter Umgehung von Wartezeit, mit blumigen Ausschmückungen Zugang zur Behandlung erzwingt oder zu erschleichen sucht. Der Begriff der Nötigung, der ethischen Nötigung, des Zahnarztes durch den Patienten ist bisher noch nicht diskutiert worden.

In den vierzig Jahren meiner Tätigkeit ist mir als „Notfall“ alles vorgekommen zwischen einer falschen Zahnfarbe bis zu einem kurz vorm Durchbruch ins Mediastinum stehenden 8er-Abszess. Bewährt hat sich bei mir, Notfallpatienten strikt hintanzuhängen; auch vermeintlich längere Pausen eignen sich selten für Notfälle, denn diese bedürfen immer einer sorgfältigen Diagnose und häufig doch umfangreicherer Behandlung. Das berühmte: „Da machen wir mal kurz ...“ führt in den meisten Fällen zu ausufernden Aktionen.

Bei mehreren Schmerzfällen werden diese in der Reihenfolge ihres Eintreffens behandelt und dieses wird ihnen auch so erklärt. Ausnahmen von dieser Regel gibt es selbstverständlich. Ich denke da an frisch verunfallte Kinder oder bei der Bundeswehr habe ich sehr wohl vereinzelt Kommandeure vorgezogen, weil ich von deren besonderer dienstlicher Belastung wusste. Darüber hinaus gibt es völlig unstrukturierte Menschen, die nie einen Termin einhalten, auch diese gilt es zu ertragen, bzw. zu managen.

Wenn der Arzt es aber zulässt, dass der Patient die Behandlungszeiten bestimmt, beginnt ein zunehmender Kontrollverlust mit allen unguten Nebenerscheinungen für Arzt, Praxis und Behandlung. Letztlich ist für die angemessene Behandlung die genaue, meist langjährige Kenntnis des Patienten ausschlaggebend. Dies kann eine Durchgangspraxis oder die Fast-Food-Take-Away-Mentalität des Patienten nicht leisten. Die politisch bedingten wirtschaftlichen Friktionen und die zunehmende Kollegenschaft aus anderen Kulturkreisen, die nicht in der Tradition von Humanismus und Aufklärung fußen, bringen viel alltäglichere Probleme ethischer Natur als die Behandlungsreihenfolge unangemeldeter „Notfälle“.

Dr. Jens Wilhelms,Hannover-Ricklingen

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