Medizin

So geht Einheit

ck/pm
Nachrichten
Ossis leben heute sechs Jahre länger und sind nicht mehr Schnapsweltmeister. Wessis sind skeptischer gegenüber Impfungen. Wie weit wir - auch gesundheitlich - zusammengewachsen sind, hat eine Bielefelder Studie untersucht.

Das größte Geschenk, das die Wiedervereinigung den Ostdeutschen beschert hat, ist ein längeres Leben: Heute zwischen Rostock und Zwickau geborene Jungen können mit etwa sechs Lebensjahren mehr rechnen als jene, die kurz vor der Wende zur Welt gekommen waren. Bei den Mädchen beträgt der Zugewinn, je nach Berechnungsmethode, vier bis über fünf Jahre. Zu diesem Befund kommt eine Befragung, die das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung für die Studie „So geht Einheit“ vom GfK Verein durchgeführt hat.

Zu Beginn der 1990er Jahre währte das durchschnittliche Leben für Männer im Osten 3,2 Jahre kürzer als im Westen, für Frauen 2,3 Jahre. Inzwischen hat sich die Lebenserwartung zwischen Ost und West bei den Frauen weitgehend angeglichen. Die Männer liegen noch um ein bis 1,4 Jahre zurück.

Die Menschen in der ehemaligen DDR lebten einerseits in vielem ungesünder als jene in der alten Bundesrepublik. Sie tranken mehr Alkohol und die Männer rauchten öfter. Bluthochdruck und krankhaftes Übergewicht Adipositas) waren deutlich stärker verbreitet als im Westen. Andererseits hatte in der DDR teilweise Impfpflicht bestanden, weshalb ein höherer Anteil der Bevölkerung gegen Infektionskrankheiten wie Keuchhusten oder Masern geschützt war als im Westen. Die Akzeptanz gegenüber Impfungen im Osten ist bis heute höher.

Durch die Abschottung der Grenzen trat außerdem HIV/Aids in der DDR seltener auf. Schon 2009, nach 20 Jahren gemeinsamer Entwicklung, waren die markantesten Unterschiede verschwunden, wie das Robert Koch-Institut (RKI) analysiert hat. 2014 kam das RKI zu dem Ergebnis, die kleinräumigen regionalen Lebens-, Arbeits- und Einkommensverhältnisse spielten für die Betrachtung verbliebener Unterschiede beim Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung inzwischen eine größere Rolle als der Vergleich zwischen Ost und West.

Ziel der DDR: die Arbeitskraft zu erhalten

Bei der Wiedervereinigung kamen nicht nur politisch zwei unterschiedliche Systeme zusammen, sondern auch bei der medizinischen Versorgung. In der ehemaligen DDR stand das Ziel im Vordergrund, die Arbeitskraft der erwerbstätigen Bevölkerung zu erhalten. Die Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, von der hauptsächlich ältere Menschen profitieren, war dagegen zweitrangig - im Gegensatz zum Westen, wo die moderne Medizin wesentlich dazu beitrug, die Sterblichkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen von Menschen im Rentenalter zu senken. Diese lag zu Beginn der 1990er Jahre für beide Geschlechter im Osten etwa eineinhalb Mal höher als im Westen.

Seither haben vor allem die über 60-Jährigen im Osten aufgeholt: Bis zu 80 Prozent aller hinzugewonnenen Jahre kann diese Altersgruppe für sich verbuchen. Nach Berechnungen des Rostocker Demografen Tobias Vogt hat jeder zusätzliche Euro an Sozialausgaben, der seit der Wende an Menschen in den neuen Bundesländern floss, die durchschnittliche Lebensdauer um drei Stunden pro Jahr verlängert.

###more### ###title### Sachsen-Anhalt hat ein Herzproblem ###title### ###more###

Sachsen-Anhalt hat ein Herzproblem

Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich zwar weitgehend angeglichen. Nach Bundesländern aufgeschlüsselt zeigen sich jedoch noch Unterschiede. Die höchsten Werte für Frauen wie Männer finden sich in Baden-Württemberg (83,6 respektive 79,0 Jahre), die niedrigsten für Frauen im Saarland (81,9 Jahre) sowie für Männer in Sachsen-Anhalt (75,8 Jahre). Noch ausgeprägter ist das Gefälle bei der sogenannten ferneren Lebenserwartung: In Teilen Mecklenburg-Vorpommerns und in Sachsen-Anhalt können 60-Jährige mit deutlich weniger verbleibenden Lebensjahren rechnen als ihre Altersgenossen in Baden-Württemberg und Bayern, während Sachsen etwa gleichauf mit Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen dazwischen liegt.

Diese Unterschiede dürften im Wesentlichen auf die Verbreitung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückgehen. Verengungen der Herzkranzgefäße, akuter Herzinfarkt und Herzinsuffizienz („Herzschwäche“) führen bundesweit die Liste der häufigsten Todesursachen an.

Die höchste Herzinfarkt-Sterblichkeit wiesen 2012 die fünf Ost-Bundesländer auf, angeführt von Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Die höchste Sterblichkeitsziffer für die wichtigsten Herzerkrankungen zusammengenommen verzeichnet Sachsen-Anhalt.

Epidemiologen wissen, dass nicht nur Veranlagung, Verhaltensweisen wie Rauchen und Bewegungsmangel sowie Vorerkrankungen wie Adipositas oder Diabetes das Risiko für diese Erkrankungen erhöhen, sondern auch sozio-ökonomische Faktoren wie Arbeitslosigkeit oder geringe Bildung. Bei einem Ländervergleich all dieser Risikofaktoren nahm Sachsen-Anhalt fast durchweg den ersten oder zweiten Platz ein.

###more### ###title### Der Westen: ältere Mütter, rauchende Frauen - mehr Brust- und Lungenkrebs ###title### ###more###

Der Westen: ältere Mütter, rauchende Frauen - mehr Brust- und Lungenkrebs

Todesursache Nummer zwei: Krebs. Zur Zeit des Mauerfalls unterschieden sich Ost und West hinsichtlich der allgemeinen Krebssterblichkeit wenig. Und das ist so geblieben. Nach einzelnen Krebsarten differenziert finden sich allerdings Abweichungen: Beim Brustkrebs weisen Frauen in den neuen Bundesländern bis heute deutlich niedrigere Sterbe- wie Neuerkrankungsraten auf. Das könnte daher rühren, dass Frauen im Osten ihr erstes Kind in jüngerem Lebensalter zur Welt brachten und bringen als im Westen. Frühe und mehrfache Geburten und lange Stillzeiten vermindern das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken.

Unklar bleibt jedoch, warum Frauen in den neuen Bundesländern seltener an Lungenkrebs sterben als ihre Geschlechtsgenossinnen im Westen. Der Abstand hat sich von 1990 bis 2012 sogar vergrößert. Womöglich haben die Frauen im Westen früher damit begonnen, vermehrt zur Zigarette zu greifen.

Ebenfalls unklar ist, warum Magenkrebs in den östlichen Bundesländern häufiger auftritt als im Rest der Republik. Ein möglicher Grund könnte darin liegen, dass die Medizin dort erst vergleichsweise spät damit begonnen hat, die Keime, die Magengeschwüre verursachen, mit Antibiotika zu bekämpfen. Insgesamt lagen die Überlebensraten nach einer Krebsdiagnose kurz nach dem Mauerfall im Westen deutlich höher als im Osten. Auch darin haben sich die wiedervereinigten Teile Deutschlands jedoch angeglichen.

###more### ###title### Im Rausch vereint ###title### ###more###

Im Rausch vereint

Im Jahr des Mauerfalls lag der Bierverbrauch pro Kopf in Westdeutschland bei 142,9 Liter, in der DDR sogar bei 146,5. Aber Europameister im Biertrinken sind die Deutschen schon lange nicht mehr. Bereits zum vierten Mal in Folge liegen die Tschechen mit 144 Litern pro Kopf deutlich vor dem bundesdeutschen Durchschnitt von nur noch 107 Litern.

Sinkender Bierkonsum - trotz WM-Titel

Und der Bierkonsum geht stetig zurück. Nicht einmal der WM-Titel in Brasilien konnte ihn deutlich ankurbeln. Dennoch bleibt Bier das mit Abstand beliebteste Genussmittel aller Deutschen, in Ost wie West. Bei der Präferenz für Wein und Spirituosen hingegen gibt es deutliche regionale Unterschiede, die sich mit der Teilung Deutschlands entwickelt haben. Dank der traditionellen Weinbauregionen Südwestdeutschlands hat sich im Westen der Rebensaft auf dem zweiten Platz etabliert: Der Weinkonsum in der BRD hat sich von 1950 bis 1989 verfünffacht.

In der DDR hingegen wurde Schnaps zum zweitbeliebtesten Rauschmittel. In den 1980er Jahren stieg der Konsum hochprozentiger Spirituosen so stark, dass die DDR inoffizieller Weltmeister im Schnapstrinken wurde. Zwischen 1950 und 1989 stieg der Schnapsgenuss von 1,3 Liter pro Einwohner auf über 15 Liter - Säuglinge und Greise eingeschlossen. Die Westdeutschen haben ihren Schnapskonsum im gleichen Zeitraum von 3 auf 6,2 Liter pro Kopf etwas mehr als verdoppelt.

###more### ###title### Die Folgen von Pfeffi und Kumpeltod ###title### ###more###

Die Folgen von Pfeffi und Kumpeltod

Die schweren gesundheitlichen Auswirkungen von Pfeffi, Kumpeltod und Konsorten spiegeln sich in den amtlichen Todesstatistiken wider. Im Jahr der Wiedervereinigung waren in den neuen Bundesländern deutlich mehr alkoholbedingte Sterbefälle zu verzeichnen als in den alten. Alle neuen Bundesländer lagen über dem gesamtdeutschen Mittelwert von 17,3 Sterbefällen je 100.000 Einwohner. In Mecklenburg-Vorpommern starben 1990 sogar fast dreimal so viele Menschen an den Folgen des Alkoholmissbrauchs wie im Bundesdurchschnitt.

Spitzenplätze in der Alkoholtotenstatistik

Im Jahr 2013 zeigt sich ein nahezu unverändertes Bild. Nach wie vor belegen die ostdeutschen Bundesländer die Spitzenplätze in der Alkoholtotenstatistik. Die Gründe dafür liegen zum einen an den Folgewirkungen des Alkoholmissbrauchs während der DDR-Zeit, zum anderen an den sich nur langsam wandelnden Konsummustern.

Besonders die ostdeutschen Männer sind gefährdet. In Sachsen und Thüringen legen 39 Prozent von ihnen ein riskantes Trinkverhalten an den Tag. Die westdeutschen Bundesländer liegen alle deutlich darunter, einzig in Nordrhein-Westfalen ist der Anteil der männlichen Risikotrinker mit 36 Prozent ähnlich alarmierend.

Synthetische Drogen breiten sich in Bayern und Sachsen aus. Die meisten Rauschgifttoten sind dagegen in Westdeutschland und in den beiden größten Stadtstaaten zu beklagen. In Hamburg oder Berlin sterben dreimal so viele Menschen an den Folgen harter Drogen wie im Bundesschnitt. Großstädtische Milieus wirken anziehend auf Abhängige, sie bieten Anonymität und leichtere Beschaffungsmöglichkeiten.

###more### ###title### Crystal-Problem in Sachsen und Bayern ###title### ###more###

Crystal-Problem in Sachsen und Bayern

Bei den Flächenländern liegen einzig die westdeutschen Bundesländer Bayern und Hessen über dem Durchschnitt. In der DDR spielten illegale Drogen aufgrund der strengen Grenzkontrollen keine Rolle. Heute gelangen zunehmend synthetisch hergestellte Drogen wie Crystal Meth von Tschechien nach Bayern und in die grenznahen ostdeutschen Bundesländer. 2013 hat die Polizei allein in Sachsen 1.237 neue Konsumenten dieser Substanzen registriert, in Bayern fast 3.000.

Qualmen und Saufen? Uncool.

Alkohol- und Tabakkonsum gleichen sich allmählich an: Aktuelle gesamtdeutsche Trends zeigen, dass Alkohol und Zigaretten bei Jugendlichen immer uncooler werden. Konnten im Jahr 2001 noch über 80 Prozent der männlichen Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren von ersten Alkoholerfahrungen berichten, sind es heute in den alten Bundesländern nur noch rund 73 Prozent, in den neuen Bundesländern sogar nur etwa 66 Prozent.

Rückläufig ist auch das sogenannte Rauschtrinken oder Koma-Saufen. Seit 2007 hat sich der Anteil an Jungen und Mädchen halbiert, die angeben, in den letzten 30 Tagen eine regelrechte Alkoholvergiftung erlitten zu haben. Die Jugendlichen in Deutschland greifen auch immer seltener und später zum Glimmstängel. Seit 2001 hat sich der Anteil der Raucher unter den 12- bis 17-Jährigen mehr als halbiert. Auch bei den Erwachsenen gehen die Raucherquoten bundesweit deutlich zurück und der durchschnittliche Verbrauch von Alkohol nimmt seit 1995 bei Männern und Frauen im Westen wie auch im Osten langsam ab.

Fast die Hälfte der Deutschen ist übrigens auch ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung der Ansicht, dass es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gibt. So nimmt gut ein Drittel derjenigen Ostdeutschen, die generelle Unterschiede nicht abstreiten, Westdeutsche als arrogant wahr. Diese wiederum empfinden ihre Mitbürger im Osten teilweise als unzufrieden und anspruchsvoll. Die einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass sowohl Ost- als auch Westdeutsche ihre Landsleute im jeweils anderen Teil Deutschlands für besserwisserisch halten.

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