Nationalsozialismus

"Zahnärzte haben ihren Auftrag missachtet!"

sf/pm
Nachrichten
Zwangsarbeit bei Zahnärzten, Entnazifizierung der universitären Zahnmedizin, Gleichschaltung der Verbände, rassenhygienische Ausmerze der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten: In Aachen trafen sich Zahnärzte, Wissenschaftler und Standespolitiker, um über die "Zahnheilkunde und Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus“ zu diskutieren.

Aufarbeitung: "Der Berufsstand übernimmt Verantwortung!"

Dr. Peter Engel vertrat als Präsident der Bundeszahnärztekammer die deutsche zahnärztliche Standespolitik: „Es gibt die Sorge mancher Berufsvertreter, dass Image und Ansehen des zahnärztlichen Berufsstands durch die Erkenntnisse leiden könnten“, erklärte er in Aachen. „Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass das Gegenteil zutreffen wird: Aufarbeitung ist ein klares Zeichen, dass der Berufsstand nicht nur fachliche Aufgaben, sondern auch gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt“, ergänzte der BZÄK-Präsident in seiner Rede. Dazu gehöre auch der Herbert-Lewin-Preis, der wissenschaftliche Arbeiten zur Aufarbeitung der Rolle der Ärzte im Nationalsozialismus prämiert. Die sechste Ausschreibung wird aktuell von der Bundeszahnärztekammer verantwortet.

"Zahnärzte haben damals ihren Auftrag vielfach missachtet oder vorauseilend im Sinne der NS-Ideologie interpretiert"

„Zahnärzte und ihre berufsständischen Vertreter haben damals ihren eigentlichen Auftrag, ihre Patienten zu behandeln und nach bestem Wissen und Gewissen zu heilen, vielfach missachtet oder vorauseilend im Sinne der NS-Ideologie interpretiert“, stellte Martin Hendges, stellvertretender Vorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, in seinem Grußwort klar: „Wir wissen, dass Zahnärzte in Konzetrationslagern für den schändlichen Zahngold-Raub zuständig waren. Furchtbare Bedeutung erlangten Zahnärzte und Kieferchirurgen auch durch pseudowissenschaftliche Interpretationen von Missbildungen von Mund, Kiefer und Gesicht. Solche Untaten schmerzen mich als Angehöriger der zahnärztlichen Profession auch heute noch. Sie erfüllen mich mit Scham und machen betroffen.“

Daraus erwachse eine Verantwortung, betonte Hendges. Es sei nicht nur von großer Bedeutung, sondern schon lange überfällig, sich als Berufsstand einer unabhängigen, wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Zeit zu stellen und die Geschehnisse dieser Jahre der unwürdigen Fehlsteuerung historisch fundiert zu dokumentieren. "Nur ein Berufsstand, der sich seiner Vergangenheit stellt, kann auch zuversichtlich in die Zukunft schauen“, verdeutlichte  Hendges abschließend.

DGZMK hat Hermann-Euler-Medaille abgeschafft

Prof. Roland Frankenberger, Vizepräsident und Präsident elect der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), erklärte in einem Statement: „Die DGZMK unterstützt diesen Forschungsansatz auch deshalb nachdrücklich, weil sie selbst zum Beispiel bis 2006 die Hermann-Euler-Medaille verliehen hat. Erst nach 2006 wurde aber bekannt, dass Euler eine maßgebliche Rolle im Nationalsozialismus zufiel. Nicht zuletzt deswegen hat auch die DGZMK ein großes Interesse an den Resultaten dieser Forschungsarbeiten.“

Anschließend führte Dominik Groß in die Fragen und Problemstellungen des laufenden Projektes ein. Er stellte initial heraus, dass die explizite Bereitschaft zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sowohl als gesellschaftliches Desiderat als auch als ein Merkmal von Professionalität und Qualitätssicherung zu werten sei. Mit der zahnärztlichen Wissenschafts- und Berufspolitik, der zahnärztliche Lehre an den Universitäten im „Dritten Reich“ sowie im Nachkriegsdeutschland benannte er die zentralen Forschungsthemen des Projekts. Auch die Rolle von Zahnärzten in Parteiorganisationen wie der SS gelte es näher zu beleuchten.

Insgesamt seien sowohl die Biografien führender Fachvertreter als auch die fachlichen Entwicklungen und Veränderungen dieser Zeit zu untersuchen. Neben der Täterforschung werde ein Schlaglicht auf Zahnärzte als Opfer der NS-Verfolgungs- und Ausgrenzungspolitik gelegt. Gleiches gelte für Zahnärzte, die sich im politischen Widerstand engagierten. Hier interessiere, welche Handlungsspielräume bestanden und wie diese von Zahnärzten genutzt wurden.

Im zweiten Teil seines Vortrages verwies Groß auf die Grenzen der gängigen Schwarz-Weiß-Einteilung in Täter und Opfer. In manchen Fällen gelinge eine solche Klassifizierung. Als Beispiel nannte er den „Täter“ Karl Pieper und das „Opfer“ Alfred Kantorowicz. Bei vielen Zahnärzten greife eine solche Zuordnung jedoch zu kurz, wie er am Beispiel der Hochschullehrer Gustav Korkhaus und Wolfgang Rosenthal zeigte. Viele Biografien seien komplex und widersprüchlich. Dies entspreche der allgemeinen Lesart von Geschichte, wie sie der Historiker Thomas Nipperdey (1927-1992) skizziert habe: „Die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen.“

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Situation der Zahnärzte und Dentisten – das Jahr 1933 als Zäsur

Die erste Sektion mit dem Titel „Zur Situation der Zahnärzte und Dentisten – Das Jahr 1933 als Zäsur“ bot eine allgemeine historische Verortung des Themas. Hierbei referierte Gisela Tascher (Heusweiler) über „Die Gleichschaltung der standespolitischen und wissenschaftlichen Verbände der Zahnärzte nach 1933“, während Katharina Reinecke (Frankfurt) über „Friedrich Krohn – Ein völkischer Dentist“ sprach. Tascher konnte herausarbeiten, dass sich die organisierte Zahnärzteschaft bereitwillig gleichschalten ließ und den politischen Wechsel vielfach sogar begrüßte, während Reinecke nachzeichnete, wie sehr sich Friedrich Krohn den Nationalsozialisten anzudienen versuchte, ohne jedoch letztlich innerhalb der Partei aufzusteigen.

Die nachfolgende Sektion trug den Übertitel „SS-Zahnärzte – Zwischen Konzentrationslager, Kriegseinsatz und Junkerschule“. Den Anfang machte der federführende Projektbearbeiter Jens Westemeier (Aachen) mit dem Vortrag „Der Zahnarzt in der SS – Rekrutierung, Ausbildung, Organisation“. Westemeier konnte erstmals zeigen, dass Zahnärzte innerhalb der SS und Waffen-SS über bekannte Einzelpersonen hinaus auch zahlenmäßig eine bedeutsame Rolle spielten. Menevse Deprem-Hennen (Krefeld) befasste sich mit Hugo Blaschke, dem Dentisten und „Leibzahnarzt“ Hitlers. Sie belegte, dass dieser als „Oberster Zahnarzt“ der SS zahnmedizinische Konzepte im Sinne der NS-Weltanschauung entwickelte sowie „moderne“ Methoden der Prophylaxe für SS-Angehörige implementierte. Mathias Schmidt (Aachen) nahm zwei der bekanntesten SS-Zahnärzte, Hermann Pook und Martin Hellinger, in den Blick und ging der Frage nach, ob ihre vergleichsweise gut rekonstruierbaren Biografien als typisch gelten können. Schließlich beschäftigte sich der aus Ljubljana angereiste Historiker Klemen Kocjančič auf der Grundlage bisher unbeachteter slowenischer Vernehmungsprotokolle mit der Tätigkeit des Zahnarztes und SS-Obersturmführers Willi Jäger in verschiedenen Konzentrationslagern.

Es folgte eine öffentliche Abendveranstaltung, zu der das Aachener Institut den renommierten Münchner Historiker Roman Töppel in das neue Hörsaalgebäude CARL der RWTH eingeladen hatte. Töppel referierte vor mehr als 100 interessierten Zuhörern über „Mein Kampf – Eine kritische Edition“ und arbeitete hierbei auch bestehende Bezüge zur Medizin heraus.

Institutionalisierte Zahnheilkunde im Nationalsozialismus

Der zweite Konferenztag stand zunächst unter dem Thema „Institutionalisierte Zahnheilkunde im Nationalsozialismus“. Susanne Ude-Koeller (Erlangen) beschäftigte sich dabei mit dem Hochschullehrer und bekennenden Nationalsozialisten Johannes Albert Reinmöller (1877-1955) und dem Zahnärztlichen Institut in Erlangen. Anschließend befasste sich Wolfgang Kirchhoff (Marburg) mit dem Thema „Schulzahnärzte im NS-System“. Während Reinmöller im „Dritten Reich“ aufgrund seiner nationalsozialistischen Aktivitäten trotz geringer wissenschaftlicher Erfolge Karriere machen konnte, wurden die Schulzahnpflege und ihre Vertreter in dieser Zeit deutlich zurückgedrängt. Die Sektion wurde von Volker Thieme (Bremen) abgeschlossen, der in seinem Beitrag das Fach Kieferchirurgie und der Rolle seiner Fachvertreter bei der strittigen Frage nach der „rassenhygienischen Ausmerze“ (Zwangssterilisation) der Träger von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten beleuchtete.

Die zweite Sektion des Tages widmete sich schwerpunktmäßig den „Zahnärzten als Opfer des NS-Systems“: Matthis Krischel, Marcel Küsters und Thorsten Halling (Düsseldorf) referierten zum Thema „Verfolgte Zahnärzte im Nationalsozialismus. Quellen und Quellenkritik“ – einem Gebiet, das dank verfügbarer Vorarbeiten eine vergleichsweise gute Quellenlage aufweist und dementsprechend weitere Erträge verspricht. Anschließend beantworteten Thorsten Halling, Frank Sparing und Matthis Krischel die Frage „Wer war Dr. Waldemar Spier?“. In diesem Beitrag beschäftigten sie sich mit dem tragischen Schicksal des verfolgten jüdischen Zahnarztes und Sportfunktionärs, der sich im „Dritten Reich“ für Fortuna Düsseldorf engagierte, bevor er deportiert wurde und 1945 in Auschwitz zu Tode kam.

###more### ###title### Brüche und Kontinuitäten zahnärztlicher Biografien im Nachkriegsdeutschland ###title### ###more###

Brüche und Kontinuitäten zahnärztlicher Biografien im Nachkriegsdeutschland

Die letzte Sektion des Workshops befasste sich mit den Brüchen beziehungsweise Kontinuitäten zahnärztlicher Biografien im Nachkriegsdeutschland. Nachdem sich Ralf Forsbach (Münster) mit dem aus dem Dienst entlassenen und vertriebenen jüdischen Hochschullehrer Alfred Kantorowicz und dessen Bonner Kollegen auseinandergesetzt hatte, beleuchtete Dominik Groß den Karriereverlauf des einflussreichen Heidelberger Hochschullehrers Reinhold Ritter vor und nach 1945. Während Kantorowicz eindeutig als Opfer des politischen Systems zu identifizieren ist, wovon einige seiner Kollegen und akademischen Schüler in Bonn deutlich profitierten, gehört Ritter zu den Professoren, denen eine große Nachkriegskarriere gelang, obwohl er sich zumindest in einzelnen Bereichen dem NS-Regime angedient hatte. So ist nachzuweisen, dass sich Ritter in einer seiner Publikationen für die Zwangssterilisation von Trägern erblich bedingter Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten aussprach – ein Sachverhalt, der im Rahmen des späteren Entnazifizierungsverfahrens ebenso wenig thematisiert wurde wie in den nachfolgenden Jahrzehnten.

Den Abschlussvortrag hielt der Karlsruher Historiker Anton Guhl. Er befasste sich am Beispiel Hamburgs mit der Entnazifizierung der universitären Zahnmedizin. Guhl arbeitete heraus, dass auch in diesem Fach die Entnazifizierungsverfahren mit zunehmendem Zeitverlauf immer stärker rein pragmatischen Kriterien folgten, wobei die „Solidarität“ unter den Professoren der Nachkriegszeit, das stillschweigende Ausblenden und Verdrängen der Ereignisse innerhalb des „Dritten Reiches“ und die zunehmend regelhafte Vorlage von entlastenden Leumundszeugnissen („Persilscheinen“) entscheidende Rollen spielten.

Seit September 2016 bearbeiten Historiker in Aachen und Düsseldorf gemeinsam mit der KZBV, der BZÄK und der DGZMK das Forschungsprojekt „Zahnmedizin im Nationalsozialismus“. Die einzelnen Beiträge sollen in einem Tagungsband veröffentlicht werden.2018 ist eine weitere Tagung geplant, auf der neue Ergebnisse diskutiert und der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollen.

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