Deutscher Ärztetag 2018

Ärzte lockern Fernbehandlungsverbot

Marko T. Hinz
Auf dem Deutschen Ärztetag in Erfurt haben die Mediziner mit überwältigender Mehrheit für eine Änderung der Musterberufsordnung und damit für eine Liberalisierung der Fernbehandlung gestimmt. Weitere Forderungen: eine bundeseinheitliche Prüfung für Ärzte aus Drittstaaten und die Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker.

In der Frage der Fernbehandlung wollen die deutschen Ärzte beim "Goldstandard" - also beim persönlichen Kontakt von Behandler und Behandeltem - bleiben. Doch öffneten sich die Delegierten den Anforderungen einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft. Die 250 Delegierten beschlossen mit "überwältigender Mehrheit" eine Neufassung des § 7 Absatz 4 der MBO, wie es der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Frank Ulrich Montgomery, formulierte.

Das persönliche Gespräch bleibt Goldstandard

Damit ebnete das Parlament der deutschen Ärzteschaft den berufsrechtlichen Weg für die ausschließliche Fernbehandlung von Patienten. Auf diese Weise greift man Forderungen des vorherigen Ärztetages auf, einerseits Behandlung und Beratung "aus der Ferne" unter bestimmten Anforderungen zu ermöglichen und andererseits den persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt weiterhin in den Vordergrund zu stellen.

"Wir wollen und müssen diesen Prozess gestalten und dieses Feld mit unserer ärztlichen Kompetenz besetzen", bekräftigte Dr. Josef Mischo, Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer und Vorsitzender von deren Berufsordnungsgremien, in Erfurt. Mischo zufolge sollten digitale Techniken die ärztliche Tätigkeit unterstützen. In der Pressekonferenz dazu begründete Montgomery die insgesamt lange Wartezeit auf die Entscheidung wie folgt: "Deutschland hängt mit der Breitbandverkabelung hinterher. Wir versuchen aber, die vergangene Zeit wieder aufzuholen."

Kommunikationsmedien will man "unterstützend einsetzen"

Dem Beschluss zufolge dürfen Ärzte "Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen". Und weiter: "Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird."

Kommunikationsmedien sind demzufolge "alle Kommunikationsmittel, die zur ärztlichen Beratung und Behandlung eingesetzt werden können, ohne dass die Ärztin oder der Arzt und die Patientin oder der Patient gleichzeitig körperlich anwesend sind, wie zum Beispiel Telefonanrufe, E-Mails, Videotelefonie, über den Mobilfunkdienst versandte Nachrichten, Briefe sowie Rundfunk und Telemedien (in Anlehnung an die Definition in § 312c Abs. 2 BGB). Es sind daneben stets die datenschutzrechtlichen Bestimmungen zu beachten."

Auf den Datenschutz angesprochen erwiderte Montgomery, dass die Ärzteschaft die Grundsätze zu beachten habe, man aber dafür die Berufsordnung nicht anpassen müsse.

Rezept nach wie vor nur nach persönlichem Kontakt

Die Ausstellung von "ärztlichen Verordnungen für Medikamente, Physiotherapien, Soziotherapien et al. und die Ausstellung von Überweisungen" sowie von AU-Bescheinigungen lehnt die Ärzteschaft nach wie vor ab, sofern es im Rahmen einer ausschließlichen Fernbehandlung zu keinem persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt kommt. "Behandlungsqualität und Rechtssicherheit müssen gewahrt bleiben."

Jetzt müssen die Landesärztekammern und Bundesärztekammer ihre MBO ändern, außerdem die Landesgesundheitministerien diesem Beschluss zustimmen. Ärztepräsident Montgomery schätzt, dass alleine bis zu zwei Jahre vergehen können, bis alle 17 Landesärztekammern ihre Berufsordnungen angepasst haben.

Beschlossen wurde auch, dass Versicherte nicht bevorzugt oder benachteiligt werden dürften, weil sie einer "telemedizinischen Versorgung, insbesondere einer ausschließlichen Fernbehandlung", zustimmten oder diese verweigern.

Delegierte fordern: einheitliche Prüfung für Kollegen aus Drittstaaten

Nach intensiver Diskussion votierten die Delegierten dafür, dass ihre ausländischen Kollegen aus Drittstaaten künftig ihren Kenntnisstand durch eine bundeseinheitliche Prüfung nachweisen, ähnlich dem deutschen Staatsexamen. Zuständig für die Umsetzung ist der Bundesgesetzgeber.

Tags zuvor hatte sich der Ärztetag ausführlich mit psychischen Erkrankungen befasst. In ihrem Referat verwies Dr. Iris Hauth, Ärztliche Direktorin der Alexianer Klinik in Berlin-Weißensee, auf die große Zahl der Betroffenen: Allein in Deutschland seien es 17,8 Millionen Menschen - 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung.

Ein Drittel aller Patienten mit schwerer Depression wird hausärztlich versorgt

Ihrer Einschätzung zufolge habe die Prävalenz psychischer Erkrankungen aber nicht zugenommen. Derzeit stünden psychische Erkrankungen an zweiter Stelle als Ursache für Arbeitsunfähigkeit, nämlich bei 17 Prozent. Bei Erwerbsminderungsrenten liegen sie mit 43 Prozent sogar auf Platz eins.

Hauth verwies auf Zahlen des Statistischen Bundesamts, wonach psychische Erkrankungen direkte Kosten von 44,4 Milliarden Euro verursachen. Um diese Zahl einzuordnen: Herz-Kreislauf-Krankheiten liegen mit 46,4 Milliarden Euro an erster Stelle.

Insgesamt ein Drittel aller Patienten mit schwerer Depression werde allein hausärztlich versorgt, ein Fünftel mit leichter beziehungsweise unspezifischer Depression nur fachärztlich, wie Prof. Jochen Gensichen hervorhob. Sein Fazit: Die Hausarztpraxis sei ein "zuverlässiger Ort für die Langzeitversorgung von Patienten mit Mehrfacherkrankungen", insbesondere auch mit psychischer Komorbidität.

30,5 Millionen Krankschreibungen

Prof. Stephan Zipfel von der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen zeigte in seinem Vortrag den Anstieg der Krankschreibungen aufgrund psychischer und psychosomatischer Erkrankungen: 2012 waren es noch 19,9 Millionen, 2016 schon 30,5 Millionen wegen "Überlastung und Erschöpfung".

Der Ärztetag reagierte auf diese Fakten mit gezielten Entschließungen: Sowohl der Gesetzgeber als auch die Institutionen der Selbstverwaltung werden dazu aufgerufen, sich stärker für die besonderen Bedürfnissevon Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen einzusetzen und die sektorenübergreifende Zusammenarbeit als Schwerpunkt gesundheitspolitischer Maßnahmen zu verbessern.

Zudem lehnten die Delegierten eine "gesonderte Speicherung der Daten psychisch Kranker entschieden" ab. Zitat aus dem Dokument: "Die deutsche Ärzteschaft fordert die Bundesregierung sowie die Landesregierungen auf, entsprechende Gesetzesvorhaben zu stoppen oder bereits getätigte Vorlagen zurückzunehmen."

2019 findet der Deutsche Ärztetag in Münster statt, 2020 in Mainz.

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